Der Bergdoktor 1817 - Andreas Kufsteiner - E-Book

Der Bergdoktor 1817 E-Book

Andreas Kufsteiner

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Beschreibung

Lukas Pankhofer ist der ewige Verlierer auf dem Adlerhof. Sein Bruder Norbert ist mit der Frau verlobt, die er von ganzem Herzen liebt, und Norbert wird als Erstgeborener eines Tages den Adlerhof erben.

In seinem Missmut lauert Lukas nur auf eine passende Gelegenheit, dem Bruder eins auszuwischen. Da kommt ihm der Zufall zu Hilfe, als er durchs Fernglas seinen Bruder und dessen besten Freund Walter bei einer Klettertour beobachtet. Plötzlich sieht er etwas Ungeheuerliches: Als sich Walters Seil hoffnungslos verheddert, kappt er unüberlegt das Tau und stürzt in die Tiefe.

Dr. Burger und der Leiter der Bergwacht sind schnell zur Stelle, aber hier kommt jede Hilfe zu spät. Schon bald kursieren die ersten Gerüchte, dass Norbert schuldig am Tod seines Freundes ist. Fortan muss er mit den Anfeindungen der Menschen in St. Christoph leben - und der einzige Mensch, der ihn rehabilitieren könnte, schweigt hartnäckig: sein Bruder!

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Seitenzahl: 131

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Inhalt

Cover

Impressum

Sein Hass galt dem Bruder

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Anne von Sarosdy / Bastei Verlag

Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam

ISBN 978-3-7325-2898-1

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Sein Hass galt dem Bruder

Roman um eine unselige Verzweiflungstat

Von Andreas Kufsteiner

Lukas Pankhofer ist der ewige Verlierer auf dem Adlerhof. Sein Bruder Norbert ist mit der Frau verlobt, die er von ganzem Herzen liebt, und Norbert wird als Erstgeborener eines Tages den Adlerhof erben.

In seinem Missmut lauert Lukas nur auf eine passende Gelegenheit, dem Bruder eins auszuwischen. Da kommt ihm der Zufall zu Hilfe, als er durchs Fernglas seinen Bruder und dessen besten Freund Walter bei einer Klettertour beobachtet. Plötzlich sieht er etwas Ungeheuerliches: Als sich Walters Seil hoffnungslos verheddert, kappt er unüberlegt das Tau und stürzt in die Tiefe.

Dr. Burger und der Leiter der Bergwacht sind schnell zur Stelle, aber hier kommt jede Hilfe zu spät. Schon bald kursieren die ersten Gerüchte, dass Norbert schuldig am Tod seines Freundes ist. Fortan muss er mit den Anfeindungen der Menschen in St. Christoph leben – und der einzige Mensch, der ihn rehabilitieren könnte, schweigt hartnäckig: sein Bruder!

Der Adlerhof am Fuß des Feldkopfs war eines der schönsten Anwesen im weiten Umkreis und der ganze Stolz des Bauern Ewald Pankhofer. Der Hof verdankte seinen Namen den Steinadlern, die einst sein Urgroßvater gezüchtet hatte, der ein Falkner gewesen war.

Nervös wanderte Ewald vor dem Eingang des schmucken Bauernhauses umher, während sein Gehstock auf dem gepflasterten Boden monoton widerhallte. Seit einem Unfall beim Holzfällen vor drei Jahren – ein Ast hatte ihm die Kniescheibe zertrümmert – war er nicht mehr gut zu Fuß.

Verdrossen sah Ewald auf seine Armbanduhr. Langsam wurde es Zeit, dass sich die Familie für den Kirchgang einfand. Die große Glocke der Dorfkirche von St. Christoph schallte gewaltig durchs Tal, sodass auch der hinterletzte Bergbauer den Ruf Gottes nicht überhören konnte. Am heutigen Pfingstfest war es Ehrensache, dem Herrn seine Aufwartung zu machen, und noch mehr war Pünktlichkeit Pflicht.

Der Bauer blickte sich ärgerlich um. Sein Sohn Lukas glänzte noch immer mit Abwesenheit, ebenso seine Mutter und Kerstin Rieger, die junge Magd, die seit einiger Zeit die Braut des Erstgeborenen war. Nur Norbert, mit fünfundzwanzig Jahren der älteste der beiden Brüder, stand zum Abmarsch bereit, herausgeputzt in schwarzlederner Kniebundhose zum weißen Hemd und grauer Joppe sowie dem breitkrempigen Zillertaler Hut mit der Goldquaste.

Auch Ewald hatte sich zur Feier des Tages in Schale geworfen und trug einen Anzug aus grauem Loden mit grünen Paspeln und einen schlichten Filzhut.

»Warum können sich die Weiberleut immer net vom Spiegel trennen?«, brummte er und rollte mit den Augen. Er linste zum Hauseingang, doch dort rührte sich nichts.

»Schönheit braucht halt Zeit.« Norbert grinste und tätschelte den Arm des Vaters. »Musst net nervös werden, Papa. Bis zum Beginn des Gottesdienstes ist noch eine Weile hin. Das schaffen wir allemal.« Er lehnte sich mit dem Rücken an die Hauswand und hielt das Gesicht in die warme Sonne. Es versprach ein schöner Tag zu werden.

»Dein Bruder scheint sich mal wieder vorm Kirchgang drücken zu wollen«, grollte Ewald und spähte zum ehemaligen Gesindehäusl, wo der Jüngere seit seiner Volljährigkeit wohnte.

Dabei war im Wohnhaus reichlich Platz für alle. Doch Lukas hatte immer schon seinen eigenen Kopf gehabt. Ewald stöhnte leise. Deshalb kam es auch so oft zu Differenzen zwischen ihnen. Ganz anders dagegen Norbert. Der Erstgeborene war das, was Ewald unter einem wohlgeratenen Sohn verstand. Er hatte ein sanftes Gemüt, scheute keine Arbeit und bewahrte selbst in kritischen Situationen einen kühlen Kopf.

Lukas hingegen besaß das aufbrausende Temperament seiner italienischen Mutter, die vor drei Jahren einem Krebsleiden erlegen war. Maria war immer umgetrieben worden und hatte Ewald oft mit ihrer Wankelmütigkeit genervt. Er hatte sie sehr geliebt, aber doch manchmal bereut, sie aus ihrer südländischen Heimat weggelotst zu haben. Sie war in dem weltabgeschiedenen Hochtal nie heimisch geworden.

Sonderbarerweise hatte Lukas zwar das Wesen seiner Mutter, aber nicht ihr Aussehen geerbt. Diese Gene waren auf Norbert übergegangen. Er hatte dunkles, welliges Haar und die feurigen Augen der Südländer, während Lukas blond war mit blauen Augen im sommersprossigen Gesicht. Dazu hatte er den gedrungenen Körperbau des Großvaters.

Norbert hingegen war groß und drahtig, wie Ewald einst gewesen war, als er seine Maria kennenlernte. Heute wölbte sich ein kleiner Bauch über den Hosengurt, ein Zeichen, dass es ihm zu gut schmeckte. Aber mit neunundfünfzig Jahren musste man sich auch nicht mehr kasteien.

»Du weißt doch, dass es der Lukas mit der Frömmigkeit net so hat, Papa«, beschwichtigte Norbert, bevor die harmonische Stimmung an diesem herrlichen Frühlingsmorgen im Juni noch gänzlich kippte.

Auch er verstand sich nicht besonders gut mit dem drei Jahre jüngeren Bruder, der ihm die Vorrangstellung als Erstgeborener neidete und keine Gelegenheit ungenutzt ließ, ihn seinen Verdruss spüren zu lassen. Trotzdem versuchte er, Verständnis für den unsteten Burschen aufzubringen.

Doch seine besänftigenden Worte schürten den Unmut des Vaters nur noch mehr.

»Wer bei mir seine Beine unter den Tisch steckt, hat an einem solchen Tag dem Herrn seine Aufwartung zu machen, gleich, ob gläubig oder net«, zürnte er. »Aber der Lukas hat seine Pflichten noch nie ernst genommen. Vor der Hofarbeit drückt er sich, und in seinem Beruf stellt er auch nix auf die Beine. Schreinergehilfe! Zu mehr hat er’s nach fünf Jahren Lehrzeit beim Hurras noch net gebracht. Dabei ist die Gesellenprüfung längst überfällig. Aber er knattert ja lieber mit dem Motorrad durch die Gegend, statt sich um seinen Abschluss zu kümmern.«

***

»Ich hab nie Schreiner werden wollen«, meldete sich nun Lukas verdrossen zu Wort. »Du hast es mir aufgedrängt, Vater.«

Die Hände in den Hosentaschen seiner Jeans vergraben, schlenderte er heran. Auch sonst war seine Kleidung nicht gerade sonntagstauglich. Das rot karierte Holzfällerhemd, das er über einem weißen Shirt trug, stand offen, seine Füße steckten in Motorradstiefeln, und eine Schildkappe schützte sein hellhäutiges Gesicht vor der Sonne.

»Willst du so in die Kirche gehen?«, entrüstete sich Ewald.

»Dem Herrgott ist’s gleich, wie man sich kleidet. Hauptsache, man ist reinen Herzens«, erwiderte Lukas gleichmütig. »Das hat jedenfalls Mama immer gesagt.«

Die Erinnerung an seine Frau versetzte Ewald einen Stich. Er hatte ihren Tod noch immer nicht überwunden.

»Ich wäre viel lieber Bauer geworden statt Schreiner«, fuhr Lukas mürrisch fort und scharrte mit dem Schuh im Kies. »Aber ein Bauer ohne Hof macht sich halt net gut.« Er wandte den Kopf und warf dem älteren Bruder einen grimmigen Blick zu.

»Ist nun mal Tradition, dass der Erstgeborene den elterlichen Hof übernimmt«, antwortete Norbert ruhig. Er hakte die Daumen in den Bund seiner Lederhose und stellte lässig ein Bein vor. »Außerdem kann man auch durch Einheirat zu einem Hof kommen. Doch wie willst du ein guter Bauer werden, wenn du lieber mit dem Motorrad durch die Gegend knatterst, als bei uns mit anzupacken?« Streng musterte er den Jüngeren.

Lukas zuckte abfällig die Schultern.

»Ich mach euch doch eh nix recht. Warum soll ich mich krummlegen?« Sein Groll verrauchte, als Kerstin aus dem Haus trat.

Die dreiundzwanzigjährige Magd war eine Frau, die jedes Männerherz höherschlagen ließ. Sie war bildhübsch und gertenschlank, aber an den richtigen Stellen von der Natur verwöhnt. Seidige blonde Locken umrahmten ein zartes Gesicht mit großen braunen Augen, die scheu wie ein Reh blicken konnten und ihre anschmiegsame Seele verrieten, aber auch unbeugsame Härte zeigten, wenn sie etwas ärgerte.

Sie hatte als Waisenkind, das bei der Großmutter aufgewachsen war, früh lernen müssen, auf eigenen Beinen zu stehen und sich ihrer Haut zu wehren. Schon mit sechzehn Jahren hatte sie sich auf einem Hof verdingt, und so mancher Bauernbursche hatte geglaubt, sich bei der reizenden Jungmagd ein paar Dreistigkeiten herausnehmen zu dürfen. Doch Kerstin hatte ihm mit ihrer Schlagfertigkeit und ihrem resoluten Auftreten schnell den Schneid abgekauft.

Als sie sich vor knapp einem Jahr auf dem Adlerhof um die Anstellung als Magd bewarb, war ihr der Ruf vorausgeeilt, eine ziemliche Kratzbürste zu sein. Trotzdem hatte sie der Bauer eingestellt, und seine Söhne hatten um ihre Gunst gewetteifert, diesmal jedoch auf höfliche Art.

Sie hatte beide nett gefunden, ihr Herz aber schließlich an den warmherzigen, aufrechten Norbert verloren. Lukas war auf seine Art auch sehr liebenswert, aber zu flatterhaft und launisch.

Kerstin war ein bodenständiger Mensch, der seine Sicherheit brauchte, und außerdem war es von frühester Jugend an ihr Traum, einmal Bäuerin auf einem schmucken Hof zu werden. Im September sollte nun Hochzeit sein.

Norbert strahlte der Stolz auf seine hübsche Braut nur so aus den Augen. In dem Festtagsdirndl, das neckische Hütchen auf den aufgesteckten Locken, sah Kerstin bezaubernd aus.

»Für den Anblick sei’s dir verziehen, dass du Löcher in den Spiegel gestiert hast, Tinerl«, grinste Ewald und rieb schmunzelnd sein Kinn. Er war froh, dass sein Großer in der jungen Magd ein so patentes Madel und eine gute Bäuerin gefunden hatte.

»Der Spiegel war net schuld an meiner Verspätung«, gab Kerstin spitz zurück und zog eine Augenbraue hoch. »Ich hab der Zenta das Futter gerichtet und ihren Wassernapf aufgefüllt, nachdem die Herren ja so damit beschäftigt waren, sich in Schale zu werfen, dass sie den armen Hund schier vergessen haben.« Spöttisch musterte sie die beiden Männer, die schuldbewusst die Köpfe senkten.

»Wen willst du eigentlich bezirzen, dass du dich so herausgeputzt hast?«, überging Norbert den Tadel seiner Verlobten und zog sie verliebt an sich.

»Es gibt da jemanden, der mir das Herzl geraubt hat«, säuselte Kerstin und strich dem Jungbauern zärtlich über die Wange.

Doch Norbert fing ihre Hand ab und küsste die Fingerspitzen. Er war ein gut aussehender Mann mit einem markanten, sonnengebräunten Gesicht. Trotzdem litt er seit frühester Jugend unter seinen Aknenarben. Manchmal konnte er kaum glauben, dass die hübsche Kerstin sich trotzdem in ihn verliebt hatte. Da konnte sie noch so sehr beteuern, dass die Narben seiner Attraktivität keinen Abbruch taten und sie nicht im Geringsten störten.

Lukas wandte den Kopf ab. Es tat ihm weh, den Bruder und seine Verlobte so glücklich zu sehen. Er hatte sich ebenfalls in die reizende Magd verliebt, als sie im letzten Frühjahr auf den Hof gekommen war. Als sie sich für den Bruder entschied, hatte es ihm schier das Herz gebrochen. Trotzdem bemühte er sich, ihr ein guter Freund zu sein, und würde sich eher die Zunge abbeißen, als seine wahren Gefühle zu verraten. Nachts im Bett träumte er jedoch von ihr und neidete dem Bruder sein Glück. Dann vergiftete Hass sein Herz.

***

Endlich erschien auch Erna Pankhofer, Ewalds dreiundachtzigjährige Mutter.

»Warum seid ihr net schon vorgegangen?«, wunderte sie sich. »Ich hol euch doch allemal ein. Auch wenn ich vielleicht net mehr so gut sehe, laufen kann ich noch wie ein Wiesel.«

»Du kannst aber auch auf meinem Motorrad mitfahren, Oma«, scherzte Lukas, wohl wissend, dass die Großmutter davor einen Horror hatte.

Er wollte sich später mit Freunden in Mayrhofen treffen, deshalb fuhr er mit seiner Maschine zur Kirche, während die anderen zu Fuß gingen. Eigentlich würde er auch gar nicht erst zum Gottesdienst gehen, er war nicht sonderlich religiös. Aber er hoffte, Dominikus Salt, den Bergwachtleiter von St. Christoph, mit seiner Teilnahme an der Pfingstmesse von seinem geläuterten Charakter zu überzeugen. Bisher hatte der Salt es abgelehnt, ihn in die Bergwacht aufzunehmen. Er war ihm zu hitzköpfig und leichtfertig. Aber es war für Lukas Ehrensache, wie schon für alle männlichen Mitglieder seiner Familie, den Rettern anzugehören. Hier wollte er nicht auch noch hinter dem Bruder zurückstehen, der schon seit seinem zwanzigsten Lebensjahr Mitglied der Bergwacht war. Der Vater war nur aufgrund seiner Beinverletzung ausgeschieden.

Erna warf erschrocken die Hände hoch.

»Gott bewahre, Bub! Auf dieses Vehikel bringen mich keine zehn Pferde. Da ist schon dein Großvater gescheitert.« Sie lachte. »Was hat mein Hans selig geredet, dass ich mit ihm mal auf dem Sozius seiner Maschine eine Spritztour unternehme. Aber bei aller Liebe hab ich’s net über mich gebracht, mich auf dieses Teufelsding zu setzen. Da werde ich’s in meinem hohen Alter gewiss auch net tun.«

Sie hatte das Motorrad ihres Mannes all die Jahre in Ehren gehalten, obwohl ihr Sohn Ewald damit nichts anzufangen wusste und auch Norbert kein Interesse daran hatte. Dieser fand das Mountainbike sportlicher.

Lukas war dagegen schier aus dem Häuschen geraten, als Erna ihm die Maschine zusammen mit dem Geld für einen Motorradführerschein geschenkt hatte. Monatelang hatte er an dem alten Gefährt herumgeschraubt, bis es wieder im alten Glanz erstrahlte.

Erna dachte oft, dass Lukas wohl ein guter Mechaniker geworden wäre, wenn Ewald ihn nicht zu der Schreinerlehre überredet hätte, weil grad ein Ausbildungsplatz beim Schreinermeister Hurras frei gewesen war. Mit etwas gutem Willen hätte man den Buben gewiss auch beim Elmentaler-Jörg unterbringen können, der auf seinem Hof eine Tankstelle mit kleiner Autowerkstatt betrieb. Vielleicht wäre Lukas heute zufriedener und sein unheilvoller Neid würde nicht ständig zu Reibereien zwischen den beiden so ungleichen Brüdern führen.

***

Auch Dr. Martin Burger, der von seinen Patienten nur respektvoll Bergdoktor genannt wurde, und seine Familie machten sich an diesem Morgen für die Pfingstmesse fertig. Sie waren ebenfalls spät dran.

»Wenn ihr weiter so trödelt, bekommen wir in der Kirche bestimmt keinen Sitzplatz mehr«, trieb der Arzt seine Lieben zur Eile an.

Er selbst überließ die Plätze lieber Alten und Gebrechlichen. Aber sein Vater Pankraz, der alte Landarzt, konnte aufgrund eines schlecht verheilten Knöchelbruchs nicht lange stehen. Und die Kinder maulten auch, wenn sie die oft langatmige Predigt von Pfarrer Andreas Roseder eingezwängt in der Menge über sich ergehen lassen mussten.

Der Senior nickte beifällig und stülpte seinen Hut über.

»Ich geh schon mal vor, ihr holt mich ohnehin ein«, verkündete er.

Die achtjährige Tessa drehte sich trotz Ermahnung des Vaters selbstvergessen vor dem Spiegel. In ihrem niedlichen Dirndl, das in der Farbe ihrer Brombeeraugen gehalten war, war sie sehr hübsch anzusehen. Ihre dunklen Locken, die ihr zu dem Spitznamen Schneckerl verholfen hatten, wurden durch ein Band im gleichen Stoff in Form gehalten.

»Jetzt mach schon zu, Tessa«, drängte Filli, der fünfjährige Filius der Burgers, ungnädig. »Oder glaubst du, der liebe Gott hat ein besonderes Auge auf dich, nur weil du heut dein neues Dirndl austrägst?« Eigentlich hieß er ja Philipp, fand Filli aber moderner.

»Der liebe Gott sieht alles«, antwortete Tessa lakonisch und musterte Filli mit verächtlichem Blick. »Du Winzling könntest allerdings übersehen werden.« Sie liebte es, den einen Kopf kleineren Bruder zu necken.

»Kabbelt euch net, macht euch fertig«, ging Sabine Burger entschieden dazwischen, bevor das Geplänkel noch in Streit ausartete.

Kokett strich Tessa sich eine Haartolle aus der Stirn, ehe sie sich endlich von ihrem Spiegelbild löste und dem Bruder nachtrottete.

»Eitelkeit, du hast einen Namen, Tessa«, stöhnte Sabine und rollte die Augen. »Wo soll das noch hinführen? Sie ist doch erst acht Jahre alt. Als Teenie kriegen wir sie wohl überhaupt net mehr von dem Spiegel weg.«

Martin lupfte zweifelnd eine Augenbraue.

»Ich glaube eher, dann wirst du dir noch wünschen, unser Madel wäre etwas eitler. Dann ist net mehr das adrette Blümchendirndl der Favorit, sondern zerrissene Jeans, grellbunte T-Shirts oder rabenschwarze Gewänder. Weiß der Himmel, was gerade in ist.«

»Wenn sie nach mir kommt, liebt sie auch weiterhin hübsche Kleider«, konterte Sabine, wohl wissend, dass Tessa ihren Charakter gar nicht geerbt haben konnte. Sie war nicht ihr leibliches Kind, sondern adoptiert. Aber inzwischen war das kleine verlorene Mädchen, das die verzweifelte Mutter einst vor dem Doktorhaus ausgesetzt hatte, so sehr ihre Tochter, dass sie die Wahrheit gern vergaß.

»Ich kann deinen guten Geschmack nur bewundern«, lächelte Martin, ohne auf den Widerspruch einzugehen. Auch für ihn war Tessa ebenso sein Kind wie seine eigenen. Galant hielt er seiner sechzehn Jahre jüngeren Frau die Jacke ihres Trachtenkostüms hin, das aus grüner Wildseide gearbeitet war und wunderbar mit ihrem blonden Haar harmonierte, das sie modisch kurz geschnitten trug.