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Endlich wieder Frühling! Nach dem langen Winter sorgt der aus Süden kommende Föhn dafür, dass der Schnee im Zillertal wie durch Zauberhand verschwindet und die Natur zu neuem Leben erwacht. Vor allem das sprießende Grün des Waldes ist die reinste Frischekur - nicht für die Augen, sondern auch für die Seele.
Auch Achim Sienecker wird jetzt wieder vom "Waldfieber" gepackt. So nennt er es, wenn er einfach für mehrere Tage und Nächte seinen Hof dem Knecht überlässt und im Wald verschwindet.
Was er dort tut? Niemand weiß es - und niemand soll es erfahren. Dafür gibt es gute Gründe ...
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Seitenzahl: 111
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
Waldfieber
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Michael Wolf / Bastei Verlag
Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-4095-2
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Waldfieber
Ein Mann im Bann unseliger Leidenschaft
Von Andreas Kufsteiner
Endlich wieder Frühling! Nach dem langen Winter sorgt der aus Süden kommende Föhn dafür, dass der Schnee im Zillertal wie durch Zauberhand verschwindet und die Natur zu neuem Leben erwacht. Vor allem das sprießende Grün des Waldes ist die reinste Frischekur – nicht für die Augen, sondern auch für die Seele.
Auch Achim Sienecker wird jetzt wieder vom »Waldfieber« gepackt. So nennt er es, wenn er einfach für mehrere Tage und Nächte seinen Hof dem Knecht überlässt und im Wald verschwindet.
Was er dort tut? Niemand weiß es – und niemand soll es erfahren. Dafür gibt es gute Gründe …
Jedes Mal, wenn Dr. Burger auf dem Rotenstein-Hof angekommen war, blieb er einen Moment stehen und schaute sich um.
Es war natürlich stets derselbe Anblick. Der Hof blieb, wo er war, und die Berge standen seit eh und je unverrückbar an Ort und Stelle: Gewaltige Wächter aus Felsgestein, die sich im unteren Drittel mit Wäldern, Wiesen, Seen und noch ein Stück weiter aufwärts mit anmutig grünen Almwiesen schmückten.
So war es, und so würde es bleiben. Aber immer wieder und bei jedem Wetter ging von dem schönen, alten Bergbauernhof am Rotenstein eine besondere Faszination aus.
Ob es nun das breite, schützende Dach mit dem aufgesetzten Türmchen war, fest verbunden mit dem zweistöckigen, weißen Haus, an dem die grünen Fensterläden echte Tiroler Schnitzereien aufwiesen, oder ob die rundum wie ein Schutzwall aufgereihten Nebengebäude das Anwesen der Familie Sinecker zu einer »Hofburg« machten – es ließ sich nicht genau sagen, worin die ganz besondere Ausstrahlung des Rotenstein-Anwesens bestand.
Vielleicht war es alles zusammen. Denn der Hof fügte sich so harmonisch in die Landschaft ein, als sei er ein Teil des Ganzen. Der im Abendschein bei Sonnenuntergang rötliche schimmernde Felsen des Achenkegels hatte dem Hof seinen Namen gegeben.
Der Berghof im Weiler Hochbrunn gehörte von jeher in das wildromantische Tal, in dem das malerische Dorf St. Christoph den Mittelpunkt bildete. Man hätte den Eindruck gewinnen können, als sei der Hof eigens zu dem Zweck gebaut worden, um einen besonderen Akzent zu setzen.
Im Schatten der mächtigen Zillertaler Gipfel und Gletscher und idyllisch am Rande des Bergwalds gelegen, hätte der Rotenstein-Hof mit seinem Rundum-Panorama als Aushängeschild für die markante Schönheit der hochalpinen Bergwelt dienen können.
Hin und wieder hatten bereits Fotografen bei der Familie nachgefragt. Bücher und Landschaftskalender, Hochglanz-Magazine und Kunstkarten wurden vor allem dann gekauft, wenn besonders schöne Fotos dem Betrachter das Herz aufgehen ließen. Aber die Sineckers war nicht daran interessiert, ihren Hof in irgendeiner Weise zu »vermarkten.«
Fotos? Nur rein privat. Aber dann sehr gern. Seitdem Rupert Sinecker, der Altbauer, nach einem Unfall nicht mehr gut zu Fuß war, hatte er – unter anderem – das Fotografieren als Hobby entdeckt.
Die erste Maiwoche war vorüber. Bereits ab Anfang April hatte eine angenehme Wärme dafür gesorgt, dass die Natur nach dem Winter alle Reserven mobilisierte. Besonders der aus Süden kommende Föhn war dafür bekannt, ganze Schneefelder wie durch Zauberhand verschwinden zu lassen.
Jedes Pflänzchen, das in dieser wunderbaren Jahreszeit mit Blühen und Wachsen an der Reihe war, tat sein Bestes.
Wer sich an dieser Pracht nicht erfreuen konnte, an dem war Hopfen und Malz verloren. Auch dem übelsten Griesgram entlockte der Bilderbuch-Frühling wenigstens ein Zucken um die Mundwinkel, das man als Lächeln interpretieren konnte. Bei eingefleischten Grantlern war das schon ein absolutes Erfolgserlebnis.
Als Dr. Burger am frühen Montagnachmittag nach dem ersten Maisonntag gegen halb drei Uhr aus seinem Landrover stieg, bestaunte er die üppig blühenden Obstbäume, die seitwärts vom Rotenstein-Hof auf der Streuobstwiese standen.
Die Obstblüte war natürlich kein Wunder. Sie fand in jedem Frühjahr statt. Aber so, wie es derzeit hier aussah, war es ein wahres Geschenk des Frühlings. Daher lohnte sich das Hinschauen gleich dreimal. Rosa und weiße Blütenträume, dazu ein zarter Duft, den der Wind herüberwehte, ließen das Herz höher schlagen.
Über allem strahlte der blaue Frühlingshimmel. Nicht genug damit. Auch der Wald hatte etwas zu bieten, denn das sprießende Grün war die reinste Frischekur – nicht nur für die Augen, sondern auch für die Seele.
Die Bäume würden bald in der ganzen Pracht ihrer jungen Blätter zeigen, dass sie während des Winters das Rauschen nicht verlernt hatten. Ein gestandener Eichenbaum oder ein Ahorn wussten, was sie sich schuldig waren. Wasserfälle rauschten und das Meer natürlich auch. Aber wenn sich so ein ganzer Wald mit dem Bergwind im Takt wiegte, dann kam ein ganz besonderes, beruhigendes Rauschen zustande.
Schade nur, dass die duftende Blütenpracht der Kirsch- und Apfelbäume sehr vergänglich war. Der Frühlingswind würde schon in den nächsten Tagen einen Teil der samtzarten Blütenwolken in der Umgebung verteilen. Es war ein Trost, dass ab jetzt das Blühen und Wachsen in die zweite Runde gehen und bis in den goldenen Herbst hinein andauern würde.
Der Doktor musste erst gar nicht an der Haustür klingeln, die immer fester und behäbiger wurde, je mehr Jahre sie auf dem Buckel hatte. Gundel, die Hauserin, öffnete ihm mit den Worten: »Ich hab Sie schon draußen gesehen, Herr Doktor! Kommen Sie doch herein. Aber Vorsicht, die Tür fällt selbst ins Schloss. Wer den Fuß dazwischen hat, der hört die Engel im Himmel singen.«
»Ich weiß Bescheid«, entgegnete Dr. Burger gut gelaunt. »Diese Tür hat ein Eigenleben. Und zwar sogar ein ewiges Leben, wie es scheint.«
Türen aus massivem Bergahorn mit einem zusätzlichen Mooreichen-Furnier überlebten laut Schreiner Hurras, der im Dorf als Handwerksmeister der alten Schule galt, sogar den Weltuntergang – wenn es ihn denn jemals geben würde. Im Grunde genommen glaubte niemand an dieses Schreckenszenario. Jedenfalls nicht jetzt und nicht in diesem Frühlingsparadies.
Selbst Pfarrer Roseder war der Meinung, dass der Allmächtige all diese herrlichen Dinge nicht geschaffen hatte, um sie hernach so einfach den Bach hinuntergehen zu lassen. Und wenn es auch ab und zu sehr düster ausschaute in der Welt, dann ging es doch immer weiter. Ein kleines Licht genügte. Wer es entzündete, hatte die Dunkelheit besiegt. Wenn dann noch Liebe, Hilfsbereitschaft und Wärme dazu kamen, hatte die Finsternis keine Chance mehr.
Vielleicht war es ungewöhnlich, dass der Pfarrer eines Bergdörfchens es vorzog, seinen »Schäfchen« in der Sonntagspredigt mit diesen und ähnlichen Worten durch den Alltag zu helfen, anstatt immer nur Zitate aus der Bibel vorzulesen.
Die Dörfler ließen auf ihren Seelsorger nichts kommen. Man war gespannt darauf, welches Thema er im Gottesdienst ansprechen würde. Die Zeiten, in denen man in der Kirchenbank eingenickt oder gar nicht erst zur Messe gekommen war, gehörten der Vergangenheit an. Seitdem Pfarrer Roseder vor einigen Jahren nach St. Christoph gekommen war, läuteten die Glocken nicht umsonst.
Als ungewöhnlich konnte man auch Dr. Burgers Einsatz für seine Patienten bezeichnen. Er war immer dann zur Stelle, wenn er gebraucht wurde.
Es gab freilich Tage und Stunden, die er lieber nur mit seiner Familie verbracht hätte, als in entfernte Weiler zu fahren und dann eventuell festzustellen, dass der angebliche Notfall (»Herr Doktor, kommen Sie schnell, mein Mann wird net mehr wach!«) gar keiner war.
Tief schlafende Ehemänner hatten am Abend zuvor vielleicht nur tief ins Glas geschaut oder einfach den hausgebrannten Vogelbeergeist beim Kartenspiel nicht vertragen. Am besten war’s, wenn die besorgte Gattin ihren Liebsten in Ruhe weiterschlafen ließ.
Beim Altbauern Rupert Sinecker war der Fall allerdings ein ganz anderer. Hier ging es um die Notwendigkeit, Schmerzen zu lindern, und zwar immer dann durch eine spezielle Injektion, wenn die orale Therapie keine ausreichende Wirkung erzielte.
Gundel führte den Bergdoktor auf die Veranda hinter dem Haus.
Dort saß das Ehepaar Sinecker in der Frühlingssonne. Der Bauer, den alle nur »Rupp« nannten, war hart im Nehmen. Er hatte vor einem Jahr bei einem Unfall eine Kniegelenkband-Ruptur erlitten, außerdem einen Unterschenkelbruch.
Das Unglück hatte ihn ereilt, als er auf die ihm eigene, forsche Art einen Baum gefällt hatte, indem er zunächst allen Ästen mit der Motorsäge den Garaus gemacht hatte.
Nicht der Baum war der Übeltäter gewesen, sondern die Leiter. Letztlich auch die Säge, denn Rupp hatte sie von sich geschleudert, als er von der Leiter gestürzt war. Die Folge: Ein Schnitt im Arm, der genäht werden konnte, aber schwere Beinverletzungen.
»Plagt es dich sehr, Rupp?«, fragte Dr. Burger. Er reichte Rosi Sinecker die Hand, hernach war der Patient an der Reihe. »Aber wie ich sehe, schlägst du dich wacker.«
»Man tut, was man kann. Aber es reißt mich heut fast auseinander, Herr Doktor. Erstens hab ich das Gefühl, als ob mein Bein vom Knie abwärts umeinanderschlackert wie ein Sackerl Bohnenhülsen. Und zweitens komm ich heute mit den Tabletten net gegen den Schmerz an.«
»Bist du wieder auf eine Leiter gestiegen?«, scherzte Dr. Burger. »Vielleicht zum Fensterln?«
»Erraten. Ich fensterle immer noch bei meiner eigenen Frau«, feixte der Altbauer. »Man muss das Eheleben ja ein bisserl interessant machen. Wenn man so lang verheiratet ist wie wir, braucht’s ein bisserl Fantasie.«
»Glauben Sie ihm kein Wort, Herr Doktor«, warf Rosi Sinecker ein. »Mein Angetrauter hat’s noch nie mit der Fantasie gehabt. Und wenn es mal darauf ankam, dass er in unserer Ehe etwas ausbügeln musste, ist er lieber im Wald verschwunden. ›Ich will mich besinnen, das kann ich nur droben im Bergwald‹ – mit diesem Spruch sollte ich mich dann zufriedengeben.«
»Röserl, ich hab dir immer Blumen mitgebracht und dir geschworen, dass ich nie eine andere anschauen würde.« Der Bauer rollte sein Hosenbein hoch und unterdrückte ein Ächzen. »Na ja, ich war vielleicht ab und zu ein Hallodri. Vor der Hochzeit, meine ich. Hernach, na ja … ein Klosterbruder war ich net. Aber meine Rosi weiß, dass sie immer das Wichtigste für mich war. Das ist sie immer noch. Den Wald hab ich freilich net aus den Kopf gebracht. Ob es Tag war oder Nacht, dieser weite, grüne Dom hat mich magisch angezogen. Die Leut haben getuschelt, dass ich irgendwann zum Wilderer werd. Einer, der mit dem Jagdstutzen herumläuft und bei der Nacht Übles im Sinn hat. Schmarrn. Die Geheimnisse wollte ich erforschen, die der Wald vor uns verbirgt. Ich bin kein Jäger, vor mir braucht kein Reh und net einmal ein Hase davonzulaufen.«
»Das stimmt.« Die Bäuerin nickte. »Es ging ihm net darum, Tiere zu erlegen. Wir haben uns wegen der boshaften Gerüchte schließlich gerichtlich gegen die üble Nachrede gewehrt. Hernach war absolute Ruhe. Ab und zu ist jetzt unser Sohn dran, ein paar Leut müssen wieder zischeln, dass er auf Beutefang geht. Es ist rein lächerlich. Achim hat freilich das Waldfieber von seinem Vater geerbt. Er verbringt viel Zeit im Wald, wenn die Arbeit erledigt ist. Genauso, wie der Rupp es früher getan hat.«
»Ich bin sicher, dass Achim sich gegen das Gerede der Leute erfolgreich wehrt«, sagte Dr. Burger. »Neuerdings ist es wieder sehr in Mode gekommen, irgendjemanden sinnlos zu verdächtigen, auch wenn man keine Anhaltspunkte hat. Die meisten Leut begreifen nicht, warum jemand oft und gern im Wald ist, manchmal auch bei Nacht. Alles, was nicht in das gewohnte Schema passt, ist ihnen verdächtig. Außerdem mischen sich viele ungute Zeitgenossen gern in die Angelegenheiten anderer Leute, um ihre eigenen Fehler und Schwächen zu überdecken. Diejenigen, die am lautesten schreien, dass sie ein Unschuldslamm sind, haben meistens etwas auf dem Kerbholz.«
Rupp Sinecker nickte. »Das stimmt. Um unseren Sohn brauchen wir uns aber keine Gedanken zu machen. Der sagt jedem die Meinung, er lässt sich nix gefallen. Er duldet es net, dass ihm jemand an den Karren fährt. Auf diese Weise hat er sich den Respekt verschafft, auf den er auch Anspruch hat. Und außerdem ist er mit dem Förster befreundet.«
»Ich weiß.« Dr. Burger tastete das schmerzende Bein seines Patienten ab, wobei er sehr behutsam vorging. »Fabian Reckwitz hält große Stücke auf Achim. Unser Förster gehört auch zu denen, die ohne den Wald verkümmern würden. Sogar mein Vater spricht gern vom ewigen Lied der Wälder und erzählt den Kindern allerlei Geschichten. Zwar ist er Arzt – das liegt wohl bei uns in der Familie – aber sein Hobby sind die Bräuche und die Kultur der Alpenregion. All diese Geschichten und Sagen von anno dazumal, die im Wald spielen, sind ja immer noch aktuell. Aus dem Nichts kommt das nicht. Es muss also etwas dahinterstecken.«
»Freilich. Und zwar eine ganze Menge. Ohne den Wald wären wir nichts, Herr Doktor. Hoppla … jetzt sticht’s mich ganz gewaltig. Ich glaub, mein Knie kann ich bald zu Markte tragen!«
»Auf keinen Fall, Rupp.« Dr. Burger nahm eine Ampulle aus seinem Arztkoffer. »Obacht, die Spritze! Lehn dich einen Moment zurück. Gleich lässt der Schmerz nach. Dann sprechen wir noch mal darüber, wie es mit der Therapie weitergeht. Auf alle Fälle möchte ich in den nächsten Tagen noch mal eine Röntgenaufnahme machen.«
***
Eigentlich hätte der Sinecker-Rupp lieber auf die Injektion verzichtet, obwohl gegen den Schmerz derzeit kein anderes Kraut gewachsen war.
Er wusste, was Dr. Burger ihm verabreichte. Es war ein Opioid. Das bekannte Mittel Tramadol half schnell, hatte aber eine Nebenwirkung, die Rupp gar nicht schätzte.
Man wurde ein bisserl müde und benommen und hatte den Wunsch, stundenlang oder sogar noch einen ganzen Tag nach der Injektion einfach nur herumzuhocken und den Wolken am Himmel nachzuschauen.