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Christine Schirner steht am Fenster ihrer kleinen Gästekammer und blickt auf die Kirchgasse hinunter. Auf der gegenüberliegenden Seite haben sich wieder ein paar Frauen versammelt und tuscheln. Vermutlich über sie, denn die Leute finden sie "unheimlich".
Nervös schaut Christine auf die Uhr und spürt, wie sie von Unruhe ergriffen wird und es sie nach draußen drängt. Die Kammer, die sie gemietet hat, kommt ihr plötzlich erstickend eng vor, und nichts hält sie mehr darin, obwohl das Wetter trüb und regnerisch ist.
Entschlossen wirft sie sich das große schwarze Tuch um, ohne das sie nie unterwegs ist, und huscht durch den Hinterausgang davon ...
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Seitenzahl: 134
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
Weil sie ein Geheimnis hatte …
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Michael Wolf / Bastei Verlag
Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-4738-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Weil sie ein Geheimnis hatte …
Niemand will etwas mit der schönen Fremden zu tun haben
Von Andreas Kufsteiner
Christine Schirner steht am Fenster ihrer kleinen Gästekammer und blickt auf die Kirchgasse hinunter. Auf der gegenüberliegenden Seite haben sich wieder ein paar Frauen versammelt und tuscheln. Vermutlich über sie, denn die Leute finden sie »unheimlich«.
Nervös schaut Christine auf die Uhr und spürt, wie sie von Unruhe ergriffen wird und es sie nach draußen drängt. Die Kammer, die sie gemietet hat, kommt ihr plötzlich erstickend eng vor, und nichts mehr hält sie mehr darin, obwohl das Wetter trüb und regnerisch ist.
Entschlossen wirft sie sich das große schwarze Tuch um, ohne das sie nie unterwegs ist, und huscht durch den Hinterausgang davon …
»Nun gib doch endlich Ruhe, Filli, sonst bemerkt uns noch die Jeggl-Alma«, flüsterte Tessa Burger ihrem Bruder zu.
»Eigentlich sollten wir überhaupt nicht …«
»Kleiner Feigling«, zischte ihn Rita, die Freundin seiner Schwester, an, und es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte ihm einmal wieder ordentlich die Haare verwuschelt.
»Ich bin schließlich erst fünf, und ihr seid fast vier Jahre älter als ich«, erwiderte Philipp, der Filli genannt werden wollte, gekränkt.
»Trotzdem«, gab Rita, die nicht ohne Grund allgemein »die freche Rita« hieß, ziemlich unwirsch zurück.
Die drei Kinder versteckten sich hinter einem der Anbauten im Hof der Jeggl-Alma, von wo aus sie zwischen den Ästen eines hohen Busches zu dem Eckhaus hinüberspähen konnten, in dem sich der »Dorfbrunnen« befand.
Besagter »Dorfbrunnen« war der Krämerladen von St. Christoph, den die geschäftstüchtige Jeggl-Alma in der Kirchgasse unweit des Doktorhauses betrieb. Außerdem war in dem Haus noch ein Friseurgeschäft untergebracht, und die oberen Stockwerke wurden an Gäste vermietet.
Und einem dieser Gäste, vielmehr einer Frau, die neuerdings dort untergekommen war, galt die ganze Aufmerksamkeit der Kinder.
»Meinst du, dass sie sich heute noch blicken lässt?«, fragte Filli, den das Warten schon sichtlich ermüdet hatte.
»Du kannst ja nach Hause gehen, wenn du überhaupt nichts aushältst«, fuhr ihn dieses Mal Tessa ungnädig an.
Filli versetzte seiner Schwester einen leichten Stoß, der sie ins Straucheln brachte. Im gleichen Augenblick tat sich etwas gegenüber, und Ritas unterdrückter Ausruf sorgte sofort für Ruhe.
Angespannt sahen sie nach drüben, wo sich soeben die Haustür öffnete und eine schlanke Frauengestalt heraustrat.
»Die schaut ja überhaupt net unheimlich aus«, meinte Filli sofort, und er klang geradezu enttäuscht.
»Ich hab sie mir auch als eine alte Hexe mit bösem Blick vorgestellt«, stimmte Tessa ihrem Bruder zu.
»Alt ist sie ja, mindestens dreißig, wenn nicht noch älter«, fand Rita.
»Sag mal! Unser Papa ist einundfünfzig und kein bisserl alt«, erwiderte Tessa empört. »Und die ist richtig schön, auch wenn sie keine siebzehn mehr ist und schwarze Kleider trägt wie alte Bäuerinnen.«
Die drei Kinder beäugten die Fremde, die mit vorsichtigen Schritten den etwas unebenen Hofplatz überquerte, nun noch eingehender.
Das Sonnenlicht ließ ihr honigfarbenes Haar, das ein regelmäßiges Gesicht von großer Schönheit einrahmte, golden aufschimmern. Die großen dunklen Augen bildeten einen auffallenden Gegensatz zu den blonden Haaren und der hellen Haut. Die hübsch geschwungenen, vollen Lippen waren streng aufeinandergepresst, als ob sie ständig ein Gefühl, das sie zu überwältigen drohte, zurückhalten wollte.
Nicht minder streng war ihre Kleidung. Zu einem langen schwarzen Rock trug sie trotz der frühsommerlichen Wärme ein großes, ebenfalls schwarzes Umschlagtuch, das ihr bis zur Hüfte reichte und ihre Gestalt verbarg. Strümpfe in der gleichen Farbe und derbes Schuhwerk, das für lange Wanderungen geeignet war, vervollständigten ihren Aufzug.
Nun war sie auf ebenem Gelände angelangt, und sie bewegte sich anmutig und geschmeidig auf die Kirchgasse zu, verfolgt von den Blicken der Kinder.
Rita und die Doktorkinder schwiegen noch, als die Fremde schon längst verschwunden war. Sie war ihnen wie eine unwirkliche Erscheinung aus einer anderen Welt erschienen, die schemenhaft an ihnen vorbeigeglitten war und einen unauslöschlichen Eindruck bei ihnen hinterlassen hatte.
»Sie ist wirklich unheimlich«, wagte Rita, die ein wenig blass geworden war, schließlich zu flüstern.
Ein Schauder überlief Tessa, und Filli drängte sich an sie, was schon lange nicht mehr vorgekommen war.
»Ja. Sie sieht aus, als ob sie in Trauer wär.«
»Oder auf dem Friedhof hausen würde«, fügte Rita hinzu, die eine Schwäche für Schauergeschichten hatte.
»Jetzt übertreibst du mal wieder«, fuhr Tessa die Freundin an, wohl auch in dem Bemühen, die Angst, die sie ergriffen hatte, abzuschütteln.
»Die Rita übertreibt doch immer«, machte sich nun auch noch Filli bemerkbar.
Und schon war ein freundschaftliches Gerangel im Gange, und sie achteten nicht mehr auf ihre Umgebung.
Und das führte dazu, dass die Jeggl-Alma, die ungemein scharfe Augen hatte, auf den Plan trat. Sie riss die Ladentür auf und schoss mit einer für ihr Alter unglaublichen Geschwindigkeit auf sie zu.
»Was habt ihr da zu suchen hinter dem Busch? Ihr glaubt wohl, ich wär blind wie eine Fledermaus und tät das net bemerken«, rief sie ergrimmt aus.
Jetzt erst erkannte sie, dass sich hinter der frechen Rita die Doktorkinder duckten, und sie schüttelte ungläubig den Kopf.
»Was ist denn in euch gefahren?«
Zu allem Überfluss hatte sich auch noch Zenzi Bachhuber, die gute Seele des Doktorhauses und Busenfreundin der Jeggl-Alma, genähert. Ihr strafender Blick und das aufgebrachte Wippen ihres strengen grauen Haarknotens, der sonst immer festgeleimt an ihrem Hinterkopf saß, verhieß nichts Gutes.
»Ich hab euch schon eine ganze Weil vermisst. Da treibt ihr euch also herum. Was hat das zu bedeuten?«
Tessa und Filli schlugen die Augen nieder und gaben keine Antwort.
»Verstockt seid ihr auch noch …«
Dann fiel Zenzis Blick auf Rita. Sie missbilligte Tessas Freundschaft mit dem vorlauten Mädchen schon von jeher, da sie davon überzeugt war, dass Rita einen schlechten Einfluss auf die Doktorkinder hatte.
»Natürlich. Kein Unfug ohne Rita! Zu was hat sie euch denn jetzt wieder angestiftet, dieses vermaledeite Madel …«
»Die Rita ist net dran schuld. Ich hab die Idee gehabt«, fiel Tessa Zenzi sofort ins Wort. Sie versäumte es niemals, die Freundin zu verteidigen.
»Was für eine Idee? Habt ihr den Laden überfallen wollen, um endlich alle Schokoladenkaramellen zu rauben?« Zenzi funkelte die Kinder aufgebracht an.
»Das könnten wir aber tatsächlich …«
»Sei still, Filli. Wir haben nur jemanden beobachten wollen. Das ist alles. Sonst haben wir überhaupt nichts angestellt«, fügte Tessa trotzig hinzu.
»Und wen habt ihr beobachtet?«, wollte Alma wissen.
»Diese unheimliche Frau, die jetzt im oberen Stockwerk wohnt. Und das haben wir nur getan, weil ich gehört hab, dass du zur Zenzi gesagt hast, dass sie dir unheimlich vorkommt. Und dann wollten wir natürlich wissen, ob das stimmt«, erklärte Tessa so temperamentvoll, dass ihre dunklen Locken, denen sie das Kosewort »Schneckerl« verdankte, nur so um ihr reizendes Gesichtchen mit den dunklen Brombeeraugen flogen.
Für die Doktorkinder war Alma so etwas für eine Tante, und daher war es für sie ganz natürlich, sie zu duzen.
»Wir hatten auch Angst, dass bei dir eine Hexe eingezogen ist«, fügte Filli mit zitternder Stimme hinzu.
»Und ich war halt neugierig«, gab Rita ausnahmsweise zu.
»So ein Schmarrn! Ihr vergrault mir ja am Ende noch die ganzen Gäste!«, rief die Jeggl-Alma erbost aus.
»Wie oft hab ich dir schon gesagt, Tessa, dass du net die Erwachsenen belauschen sollst. Aber du kannst ja net hören«, tadelte Zenzi das Mädchen nicht weniger aufgebracht.
Filli schluchzte auf.
»Und den Kleinen hast du auch wieder dazu verleitet …«
»Ich wollte unbedingt mit«, kam Filli seiner Schwester zu Hilfe.
»Zusammenhalten tut ihr ja, das muss man euch lassen. Aber Strafe muss trotzdem sein – Hausverbot für die Übeltäter?«, wandte sich Zenzi an die Jeggl-Alma.
Almas Herz war angesichts der reuigen Sünder schon dahingeschmolzen, auch wenn sie ihre strenge Miene beibehielt.
»Das ist nun doch zu hart«, meinte sie.
»Nun gut. Kein Hausverbot. Aber die Gutseln dürft ihr euch nur noch anschauen, vorerst keine Schokoladenkaramellen mehr. Das wird eurem Vater gefallen«, schloss Zenzi mit gewisser Genugtuung.
Auf Almas Ladentheke standen dickbauchige, altertümliche Gläser aufgereiht, in denen sich gefüllte Sahnebonbons und Karamellen befanden, begehrte Leckereien der Doktorkinder. Ihr Vater erhob jedoch Einwände gegen Süßigkeiten jeder Art, doch Tessa und Filli gelang es immer wieder, Zenzi die geliebten Schokoladenkaramellen abzuschmeicheln. Nun aber standen die Aussichten schlecht.
»Für wie lange?«, fragte Tessa mit Mitleid heischendem Blick.
»Das kommt drauf an«, gab Zenzi düster zur Antwort. »Und jetzt geht ihr nach Hause, ich komme gleich nach.«
Als Zenzi die Ladentür hinter sich geschlossen hatte, wandte sie sich ihrer Freundin zu.
»Ich hab die Rosinen für den Kuchen vergessen. Gibst du mir grad ein Packerl?«
Alma verschwand in den Tiefen ihres mehrfach erweiterten Ladens und brachte das Gewünschte zum Vorschein.
»Das tut mir leid, dass die Kinder …«, begann Zenzi, doch Alma brachte sie durch eine abwehrende Handbewegung zum Schweigen.
»Kinder sind halt neugierig, das waren wir schließlich auch, als wir noch jung waren, irgendwann«, sagte sie und kicherte.
»Die Doktorkinder haben zu viel Fantasie, genau wie ihr Großvater mit seinen grausigen Geschichten. Wenn ihnen etwas Außergewöhnliches zu Ohren kommt, malen sie sich gleich etwas aus, das mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun hat. Bei dir ist eine Hexe eingezogen, dass ich net lache!«
Dr. Pankraz Burger, der Vater des Bergdoktors, schrieb an einer Zillertaler Chronik, die er anschaulich mit Sagen und Legenden ausschmückte, die manchmal nicht gerade für Kinderohren geeignet waren.
»Aber das mit den Hexen …«
Die sonst immer so nüchterne Alma wiegte den Kopf hin und her.
»Jetzt fang du net auch noch an!«
Alma beugte sich über die Theke, und obwohl niemand im Laden war, begannen die beiden Frauen zu tuscheln. Danach wirkte die immer so selbstgewisse Zenzi ziemlich verunsichert, und sie hatte es plötzlich so eilig, dass sie beinahe ihr Päckchen mit den Rosinen auf dem Ladentisch liegen gelassen hätte.
»Ich muss zurück. Die Kinder sollen net so lange allein bleiben«, sagte sie und verließ überhastet den Laden.
»Komm ein andermal wieder, dann erzähl ich dir noch mehr. Und ich hab auch einen neuen Likör, den müssen wir unbedingt probieren«, rief Alma ihrer Freundin nach, die rasch den Hofplatz überquerte.
»Schon gut«, gab Zenzi zurück.
Sie bog in die Kirchgasse ein, erwiderte den freundlichen Gruß des Besitzers der Roswitha-Apotheke nur kurz und verschwand dann im Doktorhaus. Zenzi wusste schon jetzt, dass der Abend nicht allzu gemütlich verlaufen würde.
***
Martin Burger, genannt der Bergdoktor, freute sich dagegen auf einen gemütlichen Abend im Kreis seiner Familie. Er hatte gerade einen schwierigen Einsatz zusammen mit Dominikus Salt, dem Leiter der Bergwacht, hinter sich gebracht.
Wieder einmal war einer der unbelehrbaren Gäste des Berghotels »Am Sonnenhang« zu einer waghalsigen Unternehmung aufgebrochen. Unzureichend ausgerüstet und ohne Begleitung hatte er eine der Höhlen auf der Beerenhalde, eines Karstgebiets, erkunden wollen.
Und es kam, wie es kommen musste – er war ausgerutscht und einen Abhang hinuntergestürzt, den er aus eigener Kraft nicht mehr erklimmen konnte. Glücklicherweise hatte ein Hirte, der eine dort weidende Schafherde hütete, seine schwachen Hilferufe gehört und die Bergwacht informiert.
Die Rettung des Verunglückten war sehr aufwendig gewesen, denn der Unfallort war nur schwer zu erreichen. Es hatte lange gedauert, bis man ihn in dem felsigen Gelände bergen konnte, er schien zwischenzeitig sogar das Bewusstsein verloren zu haben.
Zum Glück hatte gleich die erste Untersuchung, die der Bergdoktor vornahm, gezeigt, dass der Sturz noch einmal glimpflich verlaufen war. Wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung und zahlreiche Prellungen und Abschürfungen, aber nichts deutete auf innere Verletzungen hin.
Dennoch war der Verunglückte mit dem Helikopter in eine Unfallklinik geflogen worden, und Dr. Burger konnte erleichtert die Heimfahrt antreten, nachdem er noch ein paar freundschaftliche Worte mit Dominikus Salt gewechselt hatte.
Als er durch die sommerliche Gebirgslandschaft fuhr, sah er schon die Seinen vor sich, und ein Lächeln umspielte seine Lippen.
Es hatte eine Zeit gegeben, als er nicht gern nach Hause zurückgekehrt war, doch das lag nun lange zurück. Schon einmal glaubte er mit seiner ersten Frau Christl das Glück gefunden zu haben, aber dann schlug das Schicksal unbarmherzig zu. Bei der Geburt ihres ersten Kindes starb die junge Frau an unerwarteten Komplikationen und nahm das Kleine mit sich in den Tod.
Das vertrieb den jungen Arzt aus der geliebten Heimat, und er ging nach München, wo er schließlich die chirurgische Facharztprüfung ablegte. Dann aber kehrte er zurück und übernahm die Praxis von seinem Vater, der sie nicht mehr allein weiterführen konnte.
Seitdem widmete er seine ganze Zeit und Arbeitskraft seinen Patienten, für die er nicht nur Arzt, sondern oft auch Ratgeber war. Durch seine Rettungseinsätze hatte er den Ehrennamen »Bergdoktor« erworben, und heute war es ihm erneut gelungen, seinem Ruf gerecht zu werden.
In den Jahren nach dem Tod seiner ersten Frau hätte er niemals auf ein neues Glück zu hoffen gewagt. Doch das sollte sich ändern, als er die junge Anästhesistin Sabine traf, die ihre Tante Rika in St. Christoph besuchte. Ihr Lächeln, die braunen Augen, in denen goldene Pünktchen zu tanzen schienen, und ihr freundliches Wesen hatten ihn verzaubert, und auch sie hatte sofort gewusst, dass sie füreinander bestimmt waren.
Er war sechzehn Jahre älter als sie, mittlerweile einundfünfzig, doch sie beteuerte immer wieder, wie attraktiv sie seine sportliche, jugendliche Erscheinung fand. Und er war immer noch in sie verliebt wie am ersten Tag, als er ihr damals unvermittelt gegenübergestanden hatte.
Ihre Ehe war ausnehmend glücklich geworden, obwohl Sabine alles hinter sich gelassen hatte, was ihr einst so viel bedeutet hatte. Ihre Karriere an einem Wiener Krankenhaus, das reiche kulturelle Leben und die Zerstreuungen der Großstadt und nicht zuletzt ihren Freundeskreis – all das hatte sie aufgegeben, um an Martins Seite in dem kleinen Gebirgsort zu leben. Ihre Kenntnisse kamen in der Praxis zum Tragen, wenn ein Engpass bestand.
Martin Burger hatte die Praxis um einen Anbau erweitert, in dem sich ein Röntgenraum, ein Labor, ein kleiner Operationssaal und sogar zwei Patientenzimmer für Notfälle befanden. Diese Praxiserweiterung wurde von den Dorfbewohnern »Mini-Klinik« genannt, was die Burgers mit heimlichem Stolz erfüllte.
Die größte Freude des Paares waren aber ihre drei Kinder. Filli, die zweijährige Laura und Tessa, die Martin und Sabine adoptiert hatten, machten das Familienglück vollkommen.
Als Martin den Flur des Doktorhauses betrat, wusste er sofort, dass kein geruhsamer Abend vor ihm liegen würde, wie er es sich so sehnlichst gewünscht hatte. Alle sprachen durcheinander, einmal erhob sogar Zenzi schrill ihre Stimme, und Poldi, der Rauhaardackel, bellte laut dazu.
»Was gibt’s denn? Bei euch geht es ja wieder einmal turbulent zu. Und mit dem Essen habt ihr auch noch nicht angefangen, obwohl ich euch gesagt hab, dass ihr net auf mich warten sollt«, unterbrach der Bergdoktor die hitzige Diskussion.
Beim Eintritt des Vaters verstummten die Kinder, denn auch sie nahmen die Spuren der Erschöpfung auf dessen Gesichtszügen wahr.
Zenzi eilte in die Küche und kam gleich darauf mit einer Terrine zurück, aus der es verlockend duftete. Ihre Suppen und Eintöpfe waren einfach unwiderstehlich.
»Wir fangen jetzt mit dem Essen an«, erklärte Zenzi und bot zu der Suppe Scheiben von ihrem selbst gebackenen Brot an.
»Wenn du da bist, schmeckt es eben besser«, ließ sich Tessa vernehmen.
»Kleine Schmeichelkatze«, sagte der Vater lächelnd.
Das lebhafte Gespräch kam während des Essens für eine Weile zum Stillstand.
»Um was ist es denn vorhin gegangen? Die Wogen sind ja ziemlich hochgeschlagen, aber ich hab kein einziges Wort verstanden«, sagte Martin Burger anschließend.
Wieder sprachen fast alle durcheinander, und er hörte so etwas wie »Hexe«, »unheimlich« und »Gast« heraus.
»So, jetzt erzählt einmal in aller Ruhe, was vorgefallen ist.«
Tessa, die sehr wortgewandt war, fasste die Ereignisse, die sich bei der Jeggl-Alma zugetragen hatten, kurz zusammen.
»Wie kommt ihr eigentlich darauf, dass es sich bei der Fremden um eine Hexe handeln könnte?«, fragte ihr Vater fassungslos.
»Ich muss sagen, dass Hexen nicht nur im Mittelalter, sondern auch …«
»Das ist gar kein Wunder. Schließlich werden sie mit solchen Geschichten ja richtig gefüttert«, fiel Zenzi Pankraz Burger ins Wort.
»Die Kinder können schon zwischen Wirklichkeit und Erfundenem unterscheiden«, rechtfertigte sich der siebenundsiebzigjährige Senior etwas gekränkt.