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Ein verletzter Keiler treibt sein Unwesen in St. Christoph und hat bereits einige Wanderer angegriffen. Alle Jäger und Förster sind auf der Pirsch nach dem Tier. Auch Justus Anselm, der ehrgeizige junge Forstgehilfe, ist im Einsatz. Um sein Können unter Beweis zu stellen, will er den Keiler unbedingt zur Strecke bringen. Als ein Busch verdächtig wackelt und er ein Keuchen zu hören glaubt, ist er überzeugt, das Wildschwein aufgespürt zu haben. Ohne zu zögern, legt er das Gewehr an und schießt.
Der Schmerzensschrei lässt ihm das Blut in den Adern gefrieren. Entsetzt teilt Justus den Busch und findet dahinter eine junge Frau, die von seiner Kugel am rechten Oberarm getroffen wurde. Die Wunde blutet stark, und Justus will die Verletzte unbedingt zum Bergdoktor bringen, doch sie sträubt sich und läuft weg.
Justus folgt ihr - und beobachtet, wie sie in einer halb verfallenen Kate mitten im Wald verschwindet ...
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Seitenzahl: 136
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
Scheu wie ein Reh
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Anne von Sarosdy / Bastei Verlag Hintergrund: shutterstock / ondrejprosicky
Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-4739-5
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Scheu wie ein Reh
Warum Lenerl sich im tiefsten Wald versteckte
Von Andreas Kufsteiner
Ein verletzter Keiler treibt sein Unwesen in St. Christoph und hat bereits einige Wanderer angegriffen. Alle Jäger und Förster sind auf der Pirsch nach dem Tier. Auch Justus Anselm, der ehrgeizige junge Forstgehilfe, ist im Einsatz. Um sein Können unter Beweis zu stellen, will er den Keiler unbedingt zur Strecke bringen. Als ein Busch verdächtig wackelt und er ein Keuchen zu hören glaubt, ist er überzeugt, das Wildschwein aufgespürt zu haben. Ohne zu zögern, legt er das Gewehr an und schießt.
Der Schmerzensschrei lässt ihm das Blut in den Adern gefrieren. Entsetzt teilt Justus den Busch und findet dahinter eine junge Frau, die von seiner Kugel am rechten Oberarm getroffen wurde. Die Wunde blutet stark, und Justus will die Verletzte unbedingt zum Bergdoktor bringen, doch sie sträubt sich und läuft weg.
Justus folgt ihr – und beobachtet, wie sie in einer halb verfallenen Kate mitten im Wald verschwindet …
Mit einem lauten Knall ließ die Bachhuber-Zenzi, die Wirtschafterin vom Doktorhaus, die Küchentür hinter sich ins Schloss fallen und wuchtete den schweren Einkaufskorb auf den Tisch, wobei sie fast die Kaffeetassen umstieß, die Dr. Martin Burger und sein Vater vor sich stehen hatten.
Die beiden Männer sowie Sabine Burger, die ebenfalls in der Küche war und ihrem verschnupften Nesthäkchen Laura einen Kamillentee zubereitete, blickten verdutzt auf. Doch da machte die Zenzi ihrem Verdruss auch schon Luft.
»Jetzt haben sie das Schweinderl noch immer net erwischt«, empörte sie sich und knallte eine Tüte Mehl so heftig auf den Tisch, dass Dr. Burger um die blitzsaubere Küche fürchtete. Wenn die Zenzi erst in Fahrt war, war sie so schnell nicht zu bremsen. Schon folgte die Zuckertüte, die – o Wunder –, ebenfalls heil blieb.
»Welches Schweinderl?«, wagte der Arzt eine zaghafte Frage. Er legte gerade eine Kaffeepause ein.
An diesem Montagmorgen Anfang Juni ging es in der Sprechstunde mal wieder hoch her. Die Patienten verschonten ihren beliebten Bergdoktor zwar am Wochenende mit ihren Wehwehchen, wenn es sich nicht um eine ernsthafte Erkrankung oder gar einen Unfall handelte. Dafür fielen sie montags wie die Heuschrecken in die Praxis ein.
Manchmal war es auch keine Erkrankung, was sie in die Sprechstunde führte, sondern einfach nur Einsamkeit oder Seelenpein. Doch Dr. Burger hatte für die Nöte seiner Patienten immer ein offenes Ohr, gleich, ob medizinischer oder psychischer Natur.
»Welches Schweinderl fragst du?« Die Zenzi sah ihren Ziehsohn fassungslos an. Sie hatte Martin nach dem frühen Tod seiner Mutter unter ihre fürsorglichen Fittiche genommen. Noch heute war er »ihr Bub«, wenn sie ihm auch Respekt zollte. Doch im Moment zweifelte sie an seinem Verstand. »Die Wildsau natürlich, die nun schon über drei Tage ihr Unwesen in St. Christoph treibt«, stellte sie klar. »Die Jäger vom Baron und der Förster sind einfach net fähig, dem gefährlichen Borstenvieh endlich den Garaus zu machen. Dabei haben sie am gestrigen Sonntag die ganze Gegend durchstöbert. Aber die Sau hat sich net blicken lassen.«
Sie förderte noch ein Netz Zwiebeln aus ihrem Korb, während sie ohne Atem zu holen fortfuhr: »Die Bäuerin vom Gerlingerhof drüben vom Frauenhorn hat heut im Laden der Jeggl-Alma berichtet, dass die Sau bis auf ihren Hof gekommen ist und randaliert hat. Seither hat sie eine höllische Angst.«
»Keiler«, fiel Pankraz Burger, der Senior und frühere Landarzt, in den Redeschwall seiner Haushälterin ein. »Es handelt sich bei dem gesuchten Tier um einen Keiler, net um eine Bache.«
Die Zenzi stutzte. Dann nickte sie grimmig.
»Umso schlimmer. Die haben doch Hauer lang wie die Stoßzähne eines Elefanten. So einem möchte ich net begegnen.«
Dr. Burger rieb ob der Übertreibung schmunzelnd sein Kinn.
»Nun ja, ein Fabelwesen ist der Keiler schon net, seine Hauer sind ganz normal«, stellte er richtig. »Ich nehme auch an, dass es sich bei dem Wildschwein auf dem Gerlingerhof net um den Unruhestifter handelt, sondern wirklich um eine Bache, die auf der Suche nach Futter für ihre Frischlinge war. Wildschweine bereichern ihren Speisezettel gern mal mit Küchenabfällen aus dem Kompost.« Er wurde wieder ernst und runzelte die Stirn. »Allerdings will ich die Sache net verharmlosen. Der angeschossene Keiler ist wirklich gefährlich und sollte endlich von seinem Leiden erlöst werden, bevor er tatsächlich noch jemanden angreift. Aber offenbar ist er sehr schlau.«
»Und ein gutes Gedächtnis haben Wildschweine auch«, teilte Pankraz den anderen mit. »Falls der Keiler den Jäger gesehen hat, der ihm die Kugel verpasst hat, sollte dieser besser net mehr seinen Weg kreuzen.« Er runzelte die Stirn. »War das net der Justus Anselm, der junge Forstgehilfe, der sein Praktikum beim Reckwitz macht? Man sagt, der Bursche ist mit dem Gewehr ein bisserl schnell bei der Hand.«
»Hitzköpfig ist er halt und will sich seine Sporen verdienen«, stieß Martin grimmig hervor. »Obwohl ihm der Reckwitz eingebläut hat, net einfach zu schießen, wenn ihm das Wildschwein vor die Flinte läuft, hat er sich net zügeln können und sich prompt einen Fehlschuss geleistet. Der Keiler war vorher schon angriffslustig und hat so manchen Wanderer und Spaziergänger in Angst und Schrecken versetzt. Deshalb sollte er auch abgeschossen werden. Aber nun ist er erst recht eine Gefahr, und es ist erhöhte Vorsicht geboten. Waldspaziergänge sollte man sich zurzeit besser verkneifen, und die Kinder dürfen vorläufig auch net ohne Begleitung aus dem Haus.«
»Der reinste Horror«, stöhnte Sabine gequält. Die bildhübsche Wienerin rollte die Augen. »Wegen dem vermaledeiten Vieh bleiben Schule und Kindergarten bis auf Weiteres geschlossen, und der Spielplatz an der alten Wassermühle ist im Moment auch tabu. Die Kinder langweilen sich zu Tode, und ich bin nur noch damit beschäftigt, Begleitschutz und Chauffeur zu spielen, damit sie wenigstens ihre Freunde besuchen können.« Sie schüttelte missbilligend den Kopf. »Was ist eigentlich so schwer daran, einen angeschossenen Keiler ausfindig zu machen?«
Martin zuckte die Schultern. »Wie gesagt, Wildschweine sind klug. Der Bursche meidet jetzt Männer mit Gewehren wie der Teufel das Weihwasser.«
»Warum schießen die Jäger dann net mit Pfeil und Bogen«, fiel Filli ein, der fünfjährige Filius der Burgers, der eigentlich Philipp hieß. »Die Indianer haben damit sogar Büffel erlegt.«
Der Bub war mit seiner drei Jahre älteren Schwester Tessa in die Küche gekommen, nachdem ihnen im Kinderzimmer langweilig geworden war. Seit ihm der Opa Pfeil und Bogen geschenkt und ihn zum Häuptling Adlerauge ernannt hatte, waren Indianer seine absoluten Favoriten und er verschlang jede Information, die er darüber erhalten konnte.
Dr. Burger schmunzelte. »Die Indianer waren Meister im Umgang mit dieser Waffe«, stellte er klar. »Aber unsere Jäger würden den Keiler net mal treffen, wenn er vor ihnen stünde. Deshalb bleiben sie lieber bei ihren Büchsen.«
»Aber ich kann gut mit Pfeil und Bogen umgehen«, brüstete sich Filli und reckte seine kleine Gestalt. »Ich treffe immer.«
Natürlich waren seine Pfeile mit Gummipfropfen versehen, die niemanden verletzen konnten. Trotzdem tat das seiner Begeisterung fürs Bogenschießen keinen Abbruch.
»Ja, daneben«, spottete Tessa. »So groß kann das Ziel gar net sein, dass du’s triffst.«
»Das stimmt net«, verteidigte sich Filli empört. »Du bist ja nur neidisch, weil du …«
»Schon gut, hört auf zu streiten«, ging Dr. Burger energisch dazwischen. »Wir haben andere Sorgen.« Er wandte sich wieder den Erwachsenen zu und fuhr im Gespräch fort: »Der Bürgermeister hat vorgeschlagen, die Bergwacht einzusetzen, um den Keiler einzukreisen. Aber ich hab meine Zweifel. Wenn sich der Bursche erst gänzlich in die Enge getrieben fühlt, könnte er Amok laufen und jemanden ernsthaft verletzen. Andererseits könnte die Aktion dem Spuk auch ein Ende bereiten. Eine Treibjagd würde vielleicht die letzten Kraftreserven des verletzten Tieres aufbrauchen und es …«
»… stirbt an einem Herzkasperl«, bemerkte Tessa trocken und zwirbelte an einer Locke ihres schwarzen Haares, die in reicher Fülle ihren Kopf bedeckten und ihr zu dem Spitznamen Schneckerl verholfen hatten. »Dann können wir Kinder wenigstens wieder draußen spielen.« Als alle lachten, runzelte sie verwirrt die Stirn. »Aber Papa sagt doch immer, wer’s mit seinen Kräften übertreibt, schadet dem Herzen«, fügte sie hinzu.
»Ganz recht, Schneckerl«, pflichtete der Arzt schmunzelnd bei. »Nur leider ist das Herz eines Wildschweins ziemlich robust. Der Eber erliegt höchstens seiner Verletzung, oder eine weitere Kugel streckt ihn nieder. Wollen wir hoffen, dass die Jäger endlich Erfolg haben und im Dorf wieder Ruhe einkehrt.« Sein Blick streifte die Wanduhr über der Tür. Er seufzte: »Höchste Zeit, die Sprechstunde fortzuführen, bevor die Patienten noch meutern. Der Doktor macht sich einen lauen Lenz, während sie, von Schmerzen geplagt, im Wartezimmer ausharren müssen.« Er zog eine Grimasse, leerte sein Kaffeehaferl und stand auf.
»Ich komm mit rüber, dann geht’s flotter voran«, erbot sich Sabine. Sie war ebenfalls Ärztin mit dem Fachgebiet der Anästhesie und ihrem Mann in Praxis und Mini-Klinik, wie die medizinische Einrichtung im Anbau des Doktorhauses hieß, eine unentbehrliche Hilfe.
***
Vorsichtig pirschte sich Justus Anselm an das Buschwerk an, das hier den Weg im Krähenwald säumte, der sich um den Fuß des Hexensteins schmiegte, einem der sechs hohen Berge um St. Christoph.
Es war kein Irrtum möglich, der gesuchte Keiler war dahinter verschwunden. Justus hatte deutlich gesehen, wie das Tier ins Dickicht entschlüpft war, nachdem er es fast gestellt hatte. Doch jetzt war keine Spur mehr von ihm.
Verdrossen kratzte sich Justus am Kopf. Das Borstenvieh musste wirklich mit dem Teufel im Bunde stehen, wie schon so mancher abergläubische Bergbauer unkte.
Enttäuscht blies der sechsundzwanzigjährige Forstgehilfe die Luft aus. Er hatte gehofft, dem Keiler habhaft zu werden und seine Schlappe dadurch ausmerzen zu können, bevor sich um acht Uhr die Männer von St. Christoph auf dem Kirchplatz zur Treibjagd versammelten. Deshalb war er trotz der feuchtkalten Witterung des trüben Frühsommertages im Morgengrauen heimlich durch den Wald gestreift.
Das Glück war ihm auch hold gewesen, der Keiler hatte sich prompt gezeigt. Doch er war von dessen plötzlichem Auftauchen so überrumpelt worden, dass er sein Gewehr nicht rechtzeitig in Anschlag gebracht hatte. Daraufhin war das Borstenvieh im besten Schweinsgalopp davongeprescht und im Gesträuch verschwunden.
Justus seufzte. Genauso war es bei der ersten Begegnung mit dem ungewöhnlich großen Burschen abgelaufen. Bei einem Reviergang waren Förster Fabian Reckwitz und er unvermittelt auf den angriffslustigen Keiler getroffen. Als dieser ausgerechnet ihn, den Jungspund, ins Visier genommen und bedrohlich geschnaubt hatte, waren die Nerven mit ihm durchgegangen und er hatte geschossen, obwohl seine Hand gezittert hatte. Natürlich war der Schuss danebengegangen und hatte das Tier nur verletzt, statt es zu töten.
Der Förster, sonst ein umgänglicher Mann, ließ Justus seit diesem Vorfall seine Verärgerung deutlich spüren. Schließlich hatte er ihm eingetrichtert, erst zu schießen, wenn er das Ziel sicher im Visier hatte.
Im Nachhinein war auch Justus klar, dass er übereilt gehandelt hatte. Der Keiler hätte nicht angegriffen. Reyka, die Jagdhündin des Försters, hatte ihn mit ihrem drohenden Knurren irritiert. Man hätte durchaus einen sicheren Schuss anbringen können, wenn er, Justus, nicht durchgedreht wäre.
Jedenfalls sparten die Lästermäuler nun nicht mit Spott, und er traute sich kaum noch auf ein Bier in den »Ochsen«, dem urigen Gasthof von St. Christoph. Selbst Magda, die Bedienung, die ihm sonst gewogen war, machte aus ihrer Belustigung keinen Hehl. Aber die etwas frivole Frau war ohnehin nicht sein Typ, nur wollte sie das nicht einsehen.
Verdrossen sah er auf seine Armbanduhr, die kurz vor halb sieben Uhr anzeigte. Bis zur Treibjagd war nicht mehr lang hin. Er musste sich wirklich ranhalten, wollte er seine Ehre wiederherstellen. Es war sein Wildschwein, und sein Stolz ließ nicht zu, dass nun ein anderer seine Schlappe ausbügelte. Er würde beweisen, dass Jägerblut durch seine Adern floss und er bei Gefahr durchaus kaltblütig handeln konnte, bevor noch ein negativer Eintrag im Bewertungsbogen seiner kaum begonnenen Karriere ein Ende setzte.
Justus war mit Leib und Seele Waldhüter und konnte sich nicht vorstellen, je einen anderen Beruf als den des Försters auszuüben.
Entschlossen packte er das Gewehr fester und nahm das Dickicht genauer in Augenschein. Wildschweine waren durchtrieben und verhielten sich manchmal völlig ruhig, sodass man glaubte, sie seien längst über alle Berge.
Da! Hatte das Geäst des Strauchs nicht gerade gewackelt? Und überhaupt, dahinter bewegte sich ein großer, dunkler Schatten. Kein Zweifel, der Keiler streifte noch immer durchs Gebüsch und wartete nur darauf, dass Justus aufgab.
Dieser lächelte grimmig. Da hast du die Rechnung ohne den Wirt gemacht, Bürschchen. Rasch legte er das Gewehr an, fixierte sein Ziel und drückte ab.
Der Schmerzensschrei, der daraufhin die Stille des frühen Morgen zerriss, ließ dem Forstgehilfen das Blut in den Adern gefrieren. Es war nicht das Quieken eines Tieres, sondern der Schrei eines Menschen.
Justus brauchte eine Weile, bis er sich von seinem Schreck erholt hatte. Dann teilte er vorsichtig den Strauch und erblickte eine junge Frau, die am Boden einer Lichtung kauerte und sich den rechten Arm hielt, von dem Blut tropfte. Sie trug eine schwarze Jacke, und unter ihrem verrutschten Kopftuch quollen braune Locken hervor. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihm entgegen, während ihre Lippen vor Angst bebten.
»Jesses, das wollte ich net!«, stammelte Justus entsetzt. Er quetschte sich durch den Busch, sank neben der Fremden in die Knie und rang die Hände. »Sie müssen mir glauben, ich wollte net auf Sie schießen. Ich dachte, es wäre das Wildschwein, hinter dem ich her war. Es ist hier im Gestrüpp verschwunden.«
»Hier war kein Wildschwein«, stöhnte die Frau und verzog gepeinigt das Gesicht. »Ich habe ganz harmlos Kräuter gesammelt, und plötzlich knallte es. Und …« Jetzt blitzte Wut in ihren dunklen Augen auf. »Schießen Sie immer so verrückt in der Gegend herum? Als Förster muss Ihnen doch klar sein, dass man im Wald höchste Vorsicht walten lassen muss. Es sind immer Spaziergänger unterwegs.«
Die Uniform hatte Justus verraten. Beklommen sah er an sich herunter. Dann erwachte sein Trotz.
»Zurzeit marschiert niemand freiwillig durch den Wald, der net unbedingt muss. Und schon gar net um diese Uhrzeit«, knurrte er. »Haben Sie denn noch nix von dem gefährlichen Keiler gehört, der seit Tagen sein Unwesen treibt? Mit dem Burschen ist wirklich net zu spaßen.«
Die Fremde schüttelte verwirrt den Kopf. Dann stöhnte sie erneut schmerzgepeinigt auf.
»Lassen Sie mal sehen«, bat Justus und griff nach ihrem Arm, den sie ihm aber sofort empört entzog. Sie vertraute ihm nicht. »Ich bin in Erster Hilfe ausgebildet. Bitte, vielleicht kann ich helfen«, drängte er und machte ein zerknirschtes Gesicht. »Es tut mir wirklich leid, was passiert ist, und ich bin heilfroh, dass es net noch schlimmer gekommen ist. Ich meine …« Er stockte.
Bei dem Gedanken, dass er um ein Haar zum Mörder geworden wäre, wenn nicht ein gütiges Geschick die Hand dazwischen gehalten hätte, lief es ihm eiskalt über den Rücken. Wieder einmal hatte er voreilig gehandelt.
»Bitte lassen Sie mich die Wunde ansehen«, wiederholte er und versuchte ein Lächeln, das aber misslang. »Ich heiße übrigens Justus Anselm und mache mein Praktikum bei Förster Reckwitz.«
»Ein Anfänger also«, bemerkte die Fremde bissig, ohne sich selbst vorzustellen. Sie verzog verächtlich die Lippen. »Einem erfahrenen Forstbeamten und Jäger wäre das wohl auch net passiert.« Trotz ihrer Rüge sperrte sie sich jedoch nicht mehr gegen die Hilfe des Mannes und ließ zu, dass er ihr aus dem Ärmel ihrer Jacke half.
»Nur eine Fleischwunde«, stellte Justus nach kurzer Untersuchung erleichtert fest, runzelte dann aber besorgt die Stirn. »Trotzdem ist damit net zu spaßen. Die Kugel hat eine böse Schramme gerissen, die Wunde kann sich leicht entzünden.« Er hob den Kopf und blickte die Frau eindringlich an. »Sie sollten die Verletzung von Dr. Burger behandeln lassen. Natürlich komme ich für alle Kosten auf.«
Das würde ein ziemliches Loch in sein mageres Budget reißen, als Förster in der Ausbildung verdiente man schließlich noch kein Vermögen. Schlimmer noch waren jedoch die Folgen, wenn herauskam, dass er durch seine Dummheit diesmal sogar einen Menschen gefährdet hatte. Aber das war ihm egal. Er hatte es verbockt und musste für seinen Fehler geradestehen. Die Fremde konnte eine Blutvergiftung bekommen, das durfte er nicht riskieren.
Abrupt entriss ihm die Frau ihren Arm.
»Nein, keinen Arzt!«, stieß sie fast panisch hervor und sprang auf die Beine. Sie raffte ihre Jacke, packte den Korb mit den Kräutern und hastete davon.
Justus bekam sie gerade noch zu fassen.