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Als Renate nach ihrem schweren Autounfall in die Klinik eingeliefert wird, erkennt sie auf den ersten Blick die Patientin im Nachbarbett: Sabine Burger. Die Frau des Bergdoktors hat sich bei einem Sturz mit dem Fahrrad den Unterkiefer gebrochen. Nach der mehrstündigen Not-OP steht ihr jetzt ein langer und schmerzvoller Heilungsprozess bevor.
Aber auch Renate können die Ärzte keine Hoffnung machen, dass sie morgen oder übermorgen entlassen wird. Doch statt um ihr eigenes Leben zu kämpfen, lässt sie die Angst, was gerade daheim auf dem Hof passiert, nicht ruhen ...
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Seitenzahl: 118
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Was Dr. Burger prophezeite
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Chiemseer Dirndl & Tracht
Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-6018-9
www.bastei-entertainment.de
Was Dr. Burger prophezeite
Doch Renate hörte nicht auf den Rat des Bergdoktors
Von Andreas Kufsteiner
Als Renate nach ihrem schweren Autounfall in die Klinik eingeliefert wird, erkennt sie auf den ersten Blick die Patientin im Nachbarbett: Sabine Burger. Die Frau des Bergdoktors hat sich bei einem Sturz mit dem Fahrrad den Unterkiefer gebrochen. Nach der mehrstündigen Not-OP steht ihr jetzt ein langer und schmerzvoller Heilungsprozess bevor.
Aber auch Renate können die Ärzte keine Hoffnung machen, dass sie morgen oder übermorgen entlassen wird. Doch statt um ihr eigenes Leben zu kämpfen, lässt sie die Angst, was gerade daheim auf dem Hof passiert, nicht ruhen …
Mei, ist das eine Kälte!
Renate erwachte vom Klappern ihrer eigenen Zähne. Ihr Nacken war steif, und sie fror jämmerlich! Sie blinzelte und erkannte, dass sie noch immer auf der kleinen Bank saß, die ihr in den vergangenen sechs Tagen schmerzlich vertraut geworden war.
Sechs Tage? Waren es wirklich erst sechs Tage, die sie ohne Benedikt überstanden hatte? Es fühlte sich an wie ein ganzes Leben. Undenkbar, die Leere in ihrem Herzen noch länger zu ertragen!
Vom trüben Abendhimmel fiel Nieselregen und legte sich wie ein feuchter Film auf ihre nackten Arme und die Jeans. Renate hatte morgens angezogen, was ihr als Erstes in die Finger gefallen war, ohne weiter darauf zu achten. Wozu auch? Benedikt war fort, und sonst interessierte es niemanden, was sie anhatte. Ihr Bruder hatte mit sich selbst zu tun, und ihre Eltern waren ebenso fort wie Benedikt.
Benedikt. Tief in ihr krampfte ein Schluchzen ihre Kehle zusammen und machte ihr das Atmen schwer.
Vom nahen Kirchturm drang ein einzelner Glockenschlag heran. Die Laterne am Eingang des Kirchhofs war eingeschaltet, aber das Licht drang nicht zu Renate vor. Als würde es sie ebenso meiden wie jedes wärmere Gefühl. Kalt war es noch. Obwohl sie bereits Mai hatten. Der Winter mochte heuer nicht weichen, der Frühling kaum kommen.
Vor Renate erhob sich der Hügel mit dem schlichten Holzkreuz. Benjamin Herfurth. Die eingeritzten Zahlen unter seinem Namen verrieten, dass er viel zu früh aus dem Leben gerissen worden war. Mit gerade mal zwanzig Jahren.
Ein Einsatz als Bergretter hatte ihn das Leben gekostet. Während er einem verunglückten Bergsteiger helfen wollte, war er selbst abgestürzt. Sein Sicherungsseil war gerissen. Materialfehler. So hatte der Gendarm es ihr gesagt, als er Renate die Nachricht überbracht hatte. Seine Worte hatten sich wie Brandzeichen in ihr Herz eingegraben.
Benedikt fehlte ihr. Es fühlte sich an, als würde in ihr ein Loch klaffen, das sich niemals mehr schließen konnte. Renate presste eine Faust gegen ihre Brust und grub die Nägel so tief in ihre Handballen, dass es blutete. Sie spürte es nicht einmal.
Nicht zum ersten Mal war sie bei einem Besuch auf dem Friedhof von der Erschöpfung übermannt worden. Hier, auf der unbequemen Bank, fühlte sie sich Benedikt näher. Daheim fand sie keinen Schlaf. Nächtelang geisterte sie durch die Wohnung und sehnte sich nach etwas, das sie niemals mehr haben konnte.
»Benni«, wimmerte sie. »Komm zu mir zurück. Bitte. Ich brauche dich so sehr …«
Hinter ihr knackte es plötzlich im Unterholz. Ein Schauder rieselte über ihren Rücken. Sie drehte den Kopf und starrte in die Dunkelheit, die so dicht war, dass ihre Augen wehtaten vom Versuch, sie zu durchdringen.
Schritte knirschten auf dem Kiesweg. Jemand kam! Aber um diese Uhrzeit? Wer hatte hier so spät noch etwas zu suchen? Gewiss niemand mit guten Absichten!
Hastig kramte sie in ihrer Handtasche, brachte einen Lippenstift hervor und hob ihn hoch wie eine Waffe.
»Halt!«, rief sie so fest aus, wie sie es zuwege brachte. »Ich hab ein Pfefferspray. Kommen Sie ja net näher, sonst benutz ich es!«
»Das wird net nötig sein. Ich werde dir nichts tun. Versprochen. Erkennst du mich denn net?«
Die dunkle Stimme war ihr so vertraut, dass sie erleichtert aufschluchzte: Johannes, Benedikts Bruder.
Seine kräftige Gestalt schälte sich aus der Dunkelheit. Er trug eine schwarze Jeans und ein schwarzes Shirt. Kein Wunder, dass sie ihn nicht gesehen hatte.
Mit seinen dunklen Haaren, den braunen Augen und dem markanten, oft zu ernsten Gesicht war er das genaue Gegenteil von Benedikt, der blond, jungenhaft und auf eine warmherzige Art unbekümmert gewesen war. Mit Johannes musste man erst warmwerden, aber Renate wusste, dass er ein gutes Herz hatte.
»Mei, du zitterst ja.« Er zog seine Jacke aus und hängte sie ihr fürsorglich um.
»Es ist so kalt geworden.« Sie ließ ihr Pseudo-Pfefferspray sinken und zog die Jacke fester um ihre Schultern. »Was machst du denn so spät noch hier?«
»Dasselbe wollte ich dich gerade fragen. Ich hab dich gesucht, und niemand konnte mir sagen, wo du bist. Also musste ich mir selbst was einfallen lassen. Hab mir gedacht, dass ich dich hier finde.«
»Wieso denn?«
»Weil ich selbst oft herkomme, um mit Benedikt zu reden. Wir haben uns immer alles erzählt, weißt du? Es … es fühlt sich falsch an, das nun nimmer tun zu können.« Er ließ sich auf die Bank sinken und lehnte sich vor. Dabei blitzte ein Tattoo unter seinem Kragen hervor: ein feuerspeiender Drachen. Ein Überbleibsel seiner rebellischen Teenager-Jahre. »Ich rede auch daheim mit Benedikt«, bekannte er. »Ist verrückt, ich weiß, aber ich kann net anders.«
»Ich finde das net verrückt. Ich tue das auch.« Ihre Augen brannten, aber sie hatte schon lange keine Tränen mehr. Zu viel hatte sie nach seinem Tod geweint.
»Du solltest net nachts herkommen. Schon gar net bei diesem Wetter«, tadelte Johannes. »Du könntest dir eine Lungenentzündung holen, weißt du?«
Sie senkte den Kopf. Was für einen Unterschied würde das machen? Ohne Benedikt war sie nur noch halb am Leben. Er war ihr Freund gewesen. Der Mann, mit dem sie ihr Leben verbringen wollte. Sie hatten Pläne gehabt. Wollten nach dem Studium ein Café eröffnen. Und nun war er fort – und sie hatte keinen Boden mehr unter den Füßen. Seit seinem Tod schien sie zu fallen und zu fallen …
»Lass uns heimgehen«, schlug Johannes vor. »Ich bringe dich nach Hause.«
Nach Hause? Der Hof im Hasenwinkel fühlte sich nicht mehr an wie ihr Zuhause. Sie hatte mit Benedikt in einer hübschen Wohnung in Schwaz gewohnt, in der Nähe der Uni, aber dorthin mochte sie nicht zurück. Zu vieles erinnerte sie dort an ihn. Es würde sie umbringen, wieder dort zu leben.
Doch was sollte sie sonst mit ihrem Leben anfangen?
Mit einem Leben ohne Benedikt?
Undenkbar, ohne ihn zu sein!
Ihre Schultern zuckten, als sie unterdrückt schluchzte.
Johannes sah sie sekundenlang schweigend an. Dunkel und verhangen war sein Blick.
»Es wird leichter irgendwann, heißt es«, murmelte er unbeholfen.
»Und glaubst du das?«
Er antwortete nicht gleich. Als er wieder sprach, war seine Stimme dunkel wie geschmolzener Stahl.
»Nein, ich glaub net, dass es wirklich leichter wird. Man lernt höchstens, mit dem Schmerz zu leben.«
Sie nickte bedächtig, denn genauso fühlte es sich an: als wäre der Schmerz ein Teil von ihr geworden.
»Ich wusste net, dass es so wehtun kann, jemanden zu verlieren«, flüsterte sie. »Warum verlieben, wenn das Ende so schmerzt?«
»Weil es dazugehört. Vielleicht. Die Liebe. Und das Ende.«
»Ich will das net noch einmal erleben. Lieber verliebe ich mich niemals wieder, als das noch mal durchmachen zu müssen. Es … es zerreißt einem das Herz.«
»Ja, das tut es.« Wieder dieser undefinierbare dunkle Blick. »Aber du wirst wieder lieben. Mein Bruder hätte net gewollt, dass du für immer alleine bleibst.«
»Ich will aber keinen anderen Mann als ihn.«
Johannes schwieg. Der Nieselregen wurde dichter, ging in einen stetig fallenden Niederschlag über.
»Was wirst du nun tun? Das Café allein eröffnen?«
»Das kann ich net«, bekannte sie leise. »Net ohne Benedikt. Das … das schaffe ich einfach net. Ich werde mir einen Job suchen. Irgendeinen.«
»Bist du dir sicher?«
»Ja, bin ich.«
»Dann …« Er zögerte kurz. »Dann hab ich einen Vorschlag für dich …«
***
Sechs Jahre später
Die Gämse stand reglos auf der felsigen Anhöhe und schien ihre Umgebung zu beobachten. Eine laue Frühlingsbrise zauste ihr dunkles Fell. Im Sommer würde ihre Färbung in ein helles Rotbraun übergehen, aber jetzt hatte sie noch ihr Winterfell und verschmolz so beinahe mit dem steingrauen Untergrund.
Der Winter hatte sich diesmal lange gehalten im Zillertal. Immer wieder waren kräftige Stürme über die Berge herangefegt und hatten noch mehr Schnee gebracht. Die Urlauber hatten sich darüber gefreut, bot ihnen das Wetter doch beste Bedingungen zum Skifahren. Die Bauern allerdings harrten ungeduldig der milderen Jahreszeit, in der sie ihr Milchvieh auf die Weide lassen und Heu machen konnten.
Vor wenigen Wochen hatte ein Wetterumschwung endlich mildere Temperaturen gebracht. Während sich die Gipfel noch weiß wie Zuckerhüte in den Himmel reckten, waren die Wiesen nun grün und mit einem Meer von Blüten übersät.
Martin Burger lauschte dem Zwitschern der Vögel und spürte, wie die Anspannung der vergangenen Tage von ihm abfiel.
Er kümmerte sich seit vielen Jahren als Hausarzt um das Wohlergehen der Menschen im Zillertal. Im Notfall war er auch als Bergretter unterwegs. Und solche Einsätze hatte es während des vergangenen Tauwetters viele gegeben. Nach Lawinenabgängen hatte er oft mit seinen Kameraden nach Verschütteten gesucht und dabei so manche Stunde Schlaf geopfert. Das war auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen.
An diesem Tag war es in seiner Praxis ruhiger zugegangen. So hatte er mit seiner Frau das schöne Wetter für eine abendliche Runde mit den Fahrrädern genutzt. Sie waren durch den Wald zu ihrem Hausberg gefahren, hatten die Baumgrenze hinter sich gelassen und an einem munter plätschernden Bach Rast gemacht. Hier saßen sie nun beieinander und erfreuten sich an der verheißungsvoll duftenden Frühlingsluft.
»Sieh nur, Martin.« Sabine Burger deutete nach oben. »Dort drüben!«
Er kniff die Augen zusammen. Neben der Gämse war noch ein zweites, kleineres Tier aufgetaucht. Ein Kitz! Auf zittrigen Beinchen schmiegte es sich an seine Mutter. Gämsen waren rar geworden, selbst in dieser Höhe.
»Mei, wie lieb es ausschaut. Es ist bestimmt erst ein paar Stunden alt.«
»Und es erkundet schon die Welt.« Sabine drehte sich um und lächelte ihn an. »Ich bin sehr froh, dass wir hergekommen sind.«
»Das bin ich auch.« Er lehnte sich zu ihr und gab ihr ein Busserl.
Sabine hatte das Glück in sein Haus gebracht. Sie war ebenfalls Dr. med. und vertrat ihn, wann immer es nötig war. Außerdem baute sie ihn mit ihrer Wärme und ihrem Humor wieder auf, wenn ein besonders langer Tag ihn erschöpfte.
Weiter unten im Tal konnte er sein Haus erkennen. Es stand am Waldrand, nur einen Katzensprung von der Dorfkirche entfernt. Die Kinder hatten keine Lust auf einen Ausflug gehabt. Die drei Wirbelwinde halfen der Wirtschafterin lieber beim Backen. Oder beim Kosten, wie Martin Burger schmunzelnd vermutete.
Wie klein das Dorf von hier oben wirkte! Fast so, als hätte der Herrgott die Bauernhöfe willkürlich an den grünen Hängen verteilt.
Martin Burger legte seiner Frau einen Arm um die Schultern und genoss die Ruhe, die sie beide umgab. Eine Wohltat war das. Insekten summten. Nichts störte den Frieden dieses Nachmittags. Ihre Fahrräder lehnten am Stamm einer krummen Kiefer.
»Es ist so schön hier«, stellte er versonnen fest. »Wir müssen gar net verreisen. Wir haben den wunderbarsten Ort gleich vor der Haustür.«
»Das stimmt, aber ich würde trotzdem gern einmal wieder in den Urlaub fahren.«
»Nun, darüber lässt sich reden. Wohin möchtest du denn?«
»Vielleicht ans Meer. Das würde den Kindern sicherlich auch gefallen. Wir könnten nach Italien fahren. Mit einem Stopp in Venedig. Ich träume schon lange davon, einmal die Lagunenstadt zu besuchen.«
»Venedig? Wirklich? Das wusste ich net. Was zieht dich dorthin?«
»Die Gondeln. Der Markusplatz mit den vielen Tauben. Es muss so romantisch sein, auf einem der Kanäle mit dem Boot zu fahren.« Sabines Augen leuchteten bei dieser Aufzählung. »Ich hab schon so viel über Venedig gelesen, dass ich die Stadt gern mit eigenen Augen sehen würde.«
»Nun, dann sollten wir das unbedingt mit einplanen. Venedig ist schließlich net aus der Welt. Ich könnte mich für eine Woche in der Praxis vertreten lassen. Dann verreisen wir zusammen. Wie wäre es zu unserem Hochzeitstag?«
»O ja, das würde mir gefallen.« Sabine schmiegte sich an ihn. »Kannst du glauben, dass wir bald acht Jahre verheiratet sind, Martin? Es kommt mir gar net so lange vor.«
»Meine Liebe zu dir wächst mit jedem Jahr«, erwiderte er rau. »Und wenn ich wissen möchte, wie lange wir beide schon verheiratet sind, muss ich gar net rechnen, sondern nur in mich hineinspüren, wie sehr ich dich liebe, dann weiß ich es.«
»O Liebster!« Ein glückliches Lächeln leuchtete zu ihm auf.
Er zog Sabine in seine Arme und blickte in ihre Augen, die klar und so voller Liebe zu ihm aufsahen, dass sein Herz beinahe überfloss. Er liebte sie, oh, und wie er sie liebte!
Zärtlich küssten sie einander und vergaßen alles um sich herum. Sie waren einander so nah, dass ihre Herzen im selben Takt schlugen. Und es wurde beinahe unmöglich zu sagen, wo er aufhörte und sie anfing.
Irgendwann frischte der Wind auf. Die Temperaturen kühlten spürbar ab und mahnten zur Rückfahrt. Allmählich schwand das Tageslicht. Die Sonne sank hinter die Berge, und der Abend senkte sich auf das Tal wie ein dunkles Tuch.
»Lass uns zurückfahren«, schlug Martin Burger vor. »Wir haben noch ein schönes Stück Weg bis nach Hause vor uns.«
»Einverstanden.« Sabine stand auf und klopfte ein paar Grashalme von ihrer Hose. In ihrem weißen Top, der Strickjacke und der Jeans wirkte sie jung und fröhlich. Ihre blonden Haare waren schulterlang und gaben funkelnde blaue Augen frei, in denen ein fröhliches Lächeln blitzte.
Sie setzten ihre Helme auf und stiegen wieder auf die Räder. Martin Burger fuhr voraus. Von ihrem Rastplatz aus führte der Weg in sanften Schwüngen bergab. Der Pfad war so schmal, dass ein Auto nur schwer heraufgelangen konnte.
Nach einer Viertelstunde passierten sie die Baumgrenze.
Von hier an wurde der Weg unwegsamer. Wurzeln ragten hier und da aus dem Boden auf und verlangten äußerste Konzentration beim Fahren.