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Bedrückt kehrt Dr. Martin Burger von einem Einsatz im Berghotel wieder heim. Dort hat er ein junges Mädchen versorgt, dass von seiner Mutter allein dort zurückgelassen wurde. Von Susanne Jakoby fehlt jede Spur, und ihre Tochter Sina muss sich zuerst einige Tage in der Mini-Klinik des Bergdoktors erholen, bevor sie sich näher mit der Frage nach dem Warum beschäftigen kann.
Doch als sie sich dann auf die Spurensuche macht, erwarten sie zahlreiche Überraschungen. Verborgenes aus der Vergangenheit ihrer Mutter kommt ans Tageslicht und verändert auch Sinas Leben von Grund auf ...
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Seitenzahl: 134
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Impressum
Die Antwort auf alle Fragen
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BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Michael Wolf
Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-6456-9
www.bastei-entertainment.de
Die Antwort auf alle Fragen
Es war ein langer Weg voller Lügen und Tränen
Von Andreas Kufsteiner
Bedrückt kehrt Dr. Martin Burger von einem Einsatz im Berghotel wieder heim. Dort hat er ein junges Mädchen versorgt, dass von seiner Mutter allein dort zurückgelassen wurde. Von Susanne Jakoby fehlt jede Spur, und ihre Tochter Sina muss sich zuerst einige Tage in der Mini-Klinik des Bergdoktors erholen, bevor sie sich näher mit der Frage nach dem Warum beschäftigen kann.
Doch als sie sich dann auf die Spurensuche macht, erwarten sie zahlreiche Überraschungen. Verborgenes aus der Vergangenheit ihrer Mutter kommt ans Tageslicht und verändert auch Sinas Leben von Grund auf …
»Du schummelst bestimmt wieder, Tessa«, sagte der fünfjährige Philipp Burger, der Filli genannt werden wollte, anklagend.
»Jetzt übertreibst du aber«, verteidigte sich Tessa, seine dreieinhalb Jahre ältere Schwester, gab dann aber zu: »höchstens ein bisserl.«
Dr. Martin Burger, der den Wortwechsel vom Flur aus lächelnd mitverfolgt hatte, fiel ein, dass heute Spieleabend war. Und da sich das Wartezimmer beizeiten geleert hatte, konnte er sogar fast von Anfang an daran teilnehmen – und auch ein wachsames Auge auf Tessa haben, das schlaue, kleine Katzerl.
Er betrat den Raum und stellte fest, dass auf dem Esszimmertisch schon alles bereitlag und alle Mitspieler darum versammelt waren. Er gab seiner Frau Sabine einen liebevollen Kuss auf die Wange, und sie lächelte ihn aus ihren schönen braunen Augen, in denen goldene Fünkchen tanzten, an. Das versetzte ihn immer noch in Hochstimmung, so wie damals, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte.
Sein Vater, Dr. Pankraz Burger, ein stattlicher Mann Anfang siebzig mit einer sanft gewölbten Leibesmitte, räusperte sich.
»Setz dich. Heute geht es um alles oder nichts«, verkündete er theatralisch, und der Rauhaardackel Poldi, der sich wie immer unter dem Tisch neben Pankraz hielt, bellte kurz auf.
»Wenn du schon mal rechtzeitig da bist …«, ergänzte Zenzi Bachhuber, die gute Seele des Hauses, und der strenge graue Knoten an ihrem Hinterkopf wippte ein wenig.
Ausgerechnet in diesem Moment klingelte Martin Burgers Handy, wahrscheinlich ein Notfall! Er erhob sich sofort und zog es aus seiner Jackentasche.
»Nein, nicht schon wieder! Wenn du jetzt gehst, dann räumt die Zenzi wieder alles beim Monopoly ab«, rief Tessa vorwurfsvoll aus.
»Tessa«, sagte ihre Mutter mit leisem Tadel.
Sofort schwieg die Kleine. Schließlich wusste sie schon seit Langem, dass die Patienten in dringenden Fällen Vorrang hatten.
Als Sabine zu ihrem Mann auf den Flur trat, hatte er das Gespräch bereits beendet.
»Im Hotel ›Am Sonnenhang‹ scheint es einen Notfall zu geben. Ich muss sofort hoch«, gab er Auskunft.
Er gab Sabine einen zärtlichen Abschiedskuss, dann eilte er hinüber in die Praxis, wo sich seine Arzttasche befand, und steuerte den Wagen Richtung Sporthotel.
Wie immer bewunderte Martin die Schönheit seiner Bergheimat, die sich nun vor ihm ausbreitete. Wie Wächter begrenzten die sechs hohen Berge der Gebirgskette das Hochtal. Der höchste war der Feldkopf, der nun im Licht der Abendsonne majestätisch glänzte.
Wie viele schöne Jugenderinnerungen sich damit verbanden! Hüttenzauber auf der Feldkopfhütte, Wanderungen bis hoch in unwegsame Felsenklüfte …
Und dennoch war Martin Burger einst aus seiner geliebten Heimat geflohen, unerträgliches Leid hatte ihn fortgetrieben. Sein erste Frau Christl war bei der Geburt ihres Kindes gestorben und hatte das Kleine mit sich genommen. Nach dem frühen Tod der Mutter war das der zweite Schicksalsschlag, der ihn getroffen hatte.
Für eine Weile war Martin Burger nach München gegangen und hatte seinen Facharzt in Chirurgie gemacht, aber dann war er doch wieder nach St. Christoph zurückgekehrt. Sein Vater hatte die Arztpraxis nicht mehr weiterführen können, und so hatte Martin sie übernommen.
Da er nicht mehr auf ein persönliches Glück zu hoffen wagte, hatte seine Arbeit im Mittelpunkt seines Lebens gestanden. Er hatte die Praxis um einen Anbau erweitern lassen, der einen Operationssaal, Labor, einen Röntgenraum und sogar zwei Patientenzimmer für Notfälle enthielt. Von den Dörflern wurde er zu Recht als Mini-Klinik bezeichnet.
Bald schon hatte er von seinen Patienten den Ehrentitel »Bergdoktor« erhalten. Man achtete und vertraute ihm, denn er befasste sich nicht nur mit den Beschwerden seiner Patienten, sondern auch mit ihren Sorgen und Nöten.
Doch dann war etwas geschehen, was seinem Leben eine völlig neue Wendung gegeben hatte: Martin war der jungen Anästhesistin Sabine Rodenwald aus Wien begegnet, die ihrer Tante Rika in St. Christoph einen Besuch abstattete. Auf den ersten Blick hatte er sich in die reizende, schlanke Blondine verliebt.
Und ihr war es nicht anders ergangen. Martin war die Liebe ihres Lebens, und sie hatte für ihn alles zurückgelassen, was ihr vorher einmal etwas bedeutet hatte: ihre Stelle an einer Wiener Klinik, die Freunde und das prickelnde Leben in der Hauptstadt mit all den kulturellen Angeboten und Zerstreuungen. Doch sie hatte es nie bereut, wie sie immer wieder aufs Neue versicherte.
Und dass er sechzehn Jahre älter war als sie – Sabine war mittlerweile fünfunddreißig –, missfiel ihr auch nicht. Immer wieder betonte sie, wie jugendlich und attraktiv seine sportliche Erscheinung doch wirke.
Sie führten ein harmonisches Familienleben im Doktorhaus und erfreuten sich an ihren Kindern. Tessa war eigentlich ein Findelkind, war jedoch von den Burgers adoptiert worden und gehörte seitdem untrennbar zur Familie. Nach Filli war noch die kleine Laura geboren worden, die nun etwas über zwei Jahre alt war.
Ein glückliches Lächeln umspielte die Lippen des Bergdoktors, wenn er an seine Sabine und die Kinder dachte.
Doch nachdem er seinen Wagen auf dem Parkplatz des Sporthotels abgestellt hatte und in die Halle getreten war, nahm sein Gesicht einen ernsten Ausdruck an.
Hedi Kastler, die mit ihrem Mann Andreas das Hotel leitete, kam sofort hinter dem Empfang hervor, wo sie sich meistens aufhielt, und eilte ihm entgegen.
Sie war eine reizvolle blonde Frau Anfang vierzig, die – wie immer – ein sehr geschmackvolles Dirndl trug. Sonst immer von freundlicher Gelassenheit, wirkte sie im Augenblick jedoch ziemlich erregt.
»Was ist passiert?«, fragte der Bergdoktor sofort nach einer kurzen Begrüßung.
»Eine junge Frau, die seit ein paar Tagen unser Gast ist, wurde bewusstlos in ihrem Zimmer gefunden. Sie ist inzwischen wieder bei sich, aber sie ist sehr geschwächt und scheint völlig verwirrt zu sein«, gab Hedi Auskunft.
»Ist sie oben auf dem Zimmer?«
Hedi nickte und begleitete den Arzt hinauf ins zweite Stockwerk, wo sie die Tür zu einem der Gästezimmer öffnete. Auf dem Bett lag eine junge Frau und rührte sich nicht.
Das Zimmermädchen, das sie betreut hatte, stand sofort auf und verließ auf eine Geste ihrer Chefin hin das Zimmer. Hedi erkannte, dass auch ihre Anwesenheit nicht erwünscht war, und schloss leise die Tür hinter sich.
Martin schob den Vorhang etwas beiseite, damit er die Kranke besser ins Auge fassen konnte. Sie war noch sehr jung, fast noch ein Mädchen, und trotz ihrer Blässe und den Schatten um die Augen von großer Schönheit. Ihre fein geschnittenen Züge waren sehr regelmäßig, die Wangenknochen hoch angesetzt und der Mund reizvoll geschwungen. Schwarzbraune Locken umrahmten das zarte Gesicht.
»Wie heißen Sie denn?«, fragte er freundlich.
Es dauerte eine Weile, bis sie auf seine Frage reagierte.
»Sina. Sina Jakoby«, flüsterte sie schließlich.
»Ich bin Arzt, Dr. Burger ist mein Name. Sie wurden bewusstlos aufgefunden, deshalb wurde ich gerufen. Haben Sie Schmerzen?«
Sina schüttelte den Kopf. Alles an ihr wirkte matt und kraftlos, dennoch machte das Mädchen nicht den Eindruck, als ob es unter einer lebensbedrohlichen Krankheit leiden würde.
Der Bergdoktor untersuchte sie eingehend, was sie sich mit unbeteiligter Miene gefallen ließ, und stellte fest, dass ihr Kreislauf beeinträchtigt war und ihr Puls jagte. Außerdem wirkte sie ausgezehrt.
»Wann hast du zum letzten Mal gegessen und getrunken?«, erkundigte er sich, unwillkürlich in das vertraute »Du« der Bergler verfallend, was sie nicht zu stören schien.
Sina zuckte mit den Schultern.
»Weiß nicht, immer hier gewartet …«, stammelte sie, und jedes einzelne Wort schien ihr Schwierigkeiten zu bereiten.
Martin schloss daraus, dass sie völlig dehydriert war und auch schon seit längerer Zeit nichts mehr zu sich genommen hatte. Dafür sprachen auch alle übrigen Symptome – vor allem, dass es ihr schwerfiel, sich zurechtzufinden, und dass sie offensichtlich jedes Zeitgefühl verloren hatte. Eingesperrt in das Zimmer hatte sie – wer wusste, wie lange schon? – ausgeharrt und nicht gewagt, jemanden um Hilfe zu bitten.
»Auf wen hast du denn gewartet?«
»Mutterl«, stieß sie hervor, und ihre enzianblauen Augen, die einen auffallenden Kontrast zu ihren dunklen Haaren bildeten, füllten sich mit Tränen.
Der Bergdoktor sah sich im Raum um und entdeckte Kleidungsstücke, die dem Mädchen nicht passen würden und offensichtlich der Mutter gehörten. Doch es war wohl hoffnungslos, Sina zu fragen, wie lange ihre Mutter schon fort war.
Er verabreichte ihr ein kreislaufstärkendes Mittel, auch das ließ sie gleichgültig über sich ergehen.
»Bleib ruhig liegen, ich kümmere mich gleich wieder um dich«, versicherte er dabei. »Ich will nur noch kurz mit der Hotelchefin sprechen.«
Hedi wartete an ihrem üblichen Platz am Empfang.
»Muss das Madel ins Krankenhaus?«, fragte sie besorgt, als Martin Burger auf sie zutrat.
»Nein.« Er schüttelte den Kopf, bevor er hinzufügte: »Aber ich nehme sie mit mir hinunter in die Mini-Klinik, denn sie ist dehydriert und braucht Infusionen. Und gegessen hat sie wahrscheinlich auch eine ganze Weile nichts mehr.«
»Du lieber Himmel!«, entfuhr es Hedi. »Ein blutjunges Madl fast verhungert in unserem Hotel! Das kann doch nicht wahr sein!«
»Leider doch. Sie ist mit ihrer Mutter hier angekommen, und offensichtlich hat Frau Jakoby das Hotel vor einiger Zeit verlassen und ist nicht mehr zurückgekehrt. Ich vermute, dass Sina zu verwirrt ist, um zu wissen, wie lange ihre Mutter schon weg ist.«
»Die Mutter ist verschwunden und hat das arme Madel hier zurückgelassen? Vielleicht hat sie einen Unfall gehabt?« Hedi wechselte die Farbe. »Ich will mir das alles gar net vorstellen, und ich erinnere mich auch nur schwach an die Frau Jakoby. Leider kann ich net sagen, wann ich sie zum letzten Mal gesehen hab …«
»Auf jeden Fall werde ich das Madel jetzt in der Mini-Klinik ärztlich versorgen, das Gepäck nehme ich auch mit. Das mit den Kosten lässt sich vermutlich später regeln, wenn alles geklärt ist?«
»Selbstverständlich«, versicherte ihm Hedi Kastler. »Ich hoffe nur, dass die Frau Jakoby irgendwann heil und gesund zurückkehrt.«
»In dem Fall kann man sie an die Mini-Klinik verweisen«, erwiderte Martin, obwohl er stark bezweifelte, dass dieser Fall eintreten würde.
Schwester Sophie, die inzwischen von ihm informiert worden war, nahm Sina fürsorglich in Empfang, und dem Mädchen wurde eine Infusion angehängt. Sina bekam auch noch ein leichtes Beruhigungsmittel, und als sie die Augen schloss und in den Schlaf hinüberglitt, konnte auch Dr. Burger wieder zu seiner Familie zurückkehren.
Im Doktorhaus herrschte bereits nächtliche Stille. Poldi, der sein Körbchen unter der Treppe hatte, gab einen leisen Laut von sich, sonst regte sich niemand mehr.
Pankraz hatte schon sein Kabinettl aufgesucht, das an das Wohnzimmer angrenzte, und schrieb wahrscheinlich an seiner Zillertaler Chronik, die immer größere Ausmaße annahm. Und selbst Zenzi, die oft noch spät in der Küche herumwirtschaftete, um eine Leckerei für den nächsten Tag vorzubereiten, hatte sich schon in ihre Kammer unter dem Dach zurückgezogen.
Leise stieg Martin Burger die Treppe hinauf und sah zu den Kindern hinein. Tessas dunkler Lockenkopf, dem sie den Kosenamen »Schneckerl« verdankte, hob sich von dem weißen Kissen ab. Ihre regelmäßigen Atemzüge verrieten, dass sie in einen tiefen Schlaf gesunken war – genau wie ihr Bruder Filli, der wieder einmal sein Lieblingsauto mit ins Bett genommen hatte, das nun neben dem Bettrand bis zum nächsten Morgen auf ihn wartete.
Laura, die Jüngste, schnarchte leise und mit halb geöffnetem Mündchen. Ihre Pausbäckchen waren gerötet, und sie hielt mit beiden Händen ihre Schmusedecke ganz fest umklammert.
Ein Gefühl der Wärme durchströmte Martin. Niemals hatte er zu hoffen gewagt, dass sein Leben noch einmal so reich und glücklich sein würde. Und das verdankte er nur einem Menschen: seiner Frau Sabine.
Wie er vermutet hatte, wartete Sabine noch auf ihn. Im warmen Licht der Nachttischlampe lag sie da, ein Buch in ihrer Hand.
»Du sollst doch nicht auf mich warten, Schatzerl«, sagte er mit leisem Vorwurf und begann sich auszukleiden.
Das war eine Art Ritual zwischen ihnen geworden, denn beide wussten genau, dass Sabine erst dann zur Ruhe kam, wenn ihr Mann neben ihr im Bett lag. Eigentlich war es sogar ein Himmelbett, das genauso romantisch war wie das übrige Schlafzimmer. Der Raum war fast ganz in Blautönen gehalten, angefangen von den Vorhängen bis hin zum Teppich. Der Schrank war zudem kunstvoll mit bäuerlichen Motiven verziert.
Das Schlafzimmer war das Refugium des Paares, hier vertrauten die beiden einander alles an. Der Bergdoktor hatte Einblick in vieles, aber auf die Verschwiegenheit seiner Frau konnte er sich verlassen.
»Sind sich die Kinder auch nicht in die Haare geraten beim Spieleabend?«, wollte Martin nun wissen und ließ sich mit einem Aufseufzen ins Bett sinken.
»Ich konnte das Schlimmste verhindern. Tessa hat natürlich wieder versucht zu schummeln, sonst macht es ihr halt keinen Spaß. Filli hat sich zuerst darüber beschwert, und dann hat er gejammert, weil die Zenzi wieder einmal beim Monopoly gewonnen hat. Wie sie das nur immer anstellt!«
»Das liegt ihr halt im Blut«, erwiderte Martin lachend.
Auch Sabine lachte, dann aber wurde ihre Miene unversehens ernst.
»Und nun sag schon: Was hat es bei den Kastlers gegeben? Doch hoffentlich kein Unfall?«
Martin erzählte ihr die ganze Geschichte.
»Das ist ja eine seltsame Geschichte«, meinte Sabine, als er geendet hatte, und sah ihn ungläubig an. »Richtig gruselig! Mutter und Tochter kommen in freudiger Erwartung, ein paar schöne Tage zu erleben, im Sporthotel an, und dann geht die Mutter aus dem Haus und verschwindet spurlos. Eigentlich hätten die Kastlers längst die Polizei informieren müssen …«
»Das stimmt. Aber sie haben es halt nicht gewusst, weil die Sina sich auf ihrem Zimmer versteckt hat.«
»Und jetzt ist sie bei uns in der Mini-Klinik?«, vergewisserte sich Sabine, die sich aufgerichtet hatte.
»Ja. Und so, wie ich das sehe, wird es dem Mädchen bald bessergehen. Vermutlich erfahren wir dann auch Genaueres.«
»Ja, es war gut, dass du sie zu uns geholt hast. Aber ich habe ein ungutes Gefühl, was ihre Mutter anbelangt.«
»Ich auch«, gab der Bergdoktor zu. Vielleicht hätten wir doch gleich die Polizei benachrichtigen sollen.«
»Vielleicht ist auch nur alles ein großes Missverständnis«, meinte Sabine, glaubte aber selbst nicht daran.
In plötzlicher Erschöpfung schloss Martin die Augen, was Sabine, die jede Regung ihres Mannes kannte, nicht entging.
»Wie auch immer, du brauchst jetzt deinen Schlaf.«
Sie löschte das Licht und legte sich ebenfalls wieder hin. Wie immer, wenn ihm etwas seine innere Ruhe zu rauben drohte, suchte Martin ihre Nähe. Eingehüllt in tröstliche Wärme, schliefen sie endlich ein.
***
»Wie geht es dir, Sina?« Dr. Burger beugte sich über das Mädchen und überprüfte den Puls.
Die Infusion und der Schlaf hatten Wunder gewirkt: Die krankhafte Blässe war aus ihrem Gesicht gewichen, und ihr Blick war klar.
»Ich fühle mich schon viel besser. Vielen Dank«, sagte sie immer noch schwach, aber verständlich.
»Kannst du dich jetzt erinnern?«
Das Mädchen nickte.
»Wir sind am Ersten des Monats im Sporthotel angekommen. Am übernächsten Tag ist meine Mutter mit dem Auto weggefahren. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe«, gab Sina Auskunft.
Sie kämpfte wieder mit den Tränen, und Dr. Burger hielt tröstend ihre Hand.
»Dann ist sie schon eine ganze Weile weg«, stellte er fest. »Hat sie irgendetwas gesagt, bevor sie aufgebrochen ist? Vielleicht etwas Ungewöhnliches?«
Sina zog die Brauen zusammen. Sie schien angestrengt zu überlegen.
»Sie war sehr unruhig, seit wir hier waren, das ist ungewöhnlich für sie. Und als ich sie gefragt hab, was sie vorhat, hat sie gemeint, dass jetzt die Zeit gekommen sei, etwas in Ordnung zu bringen. Danach werde sich wahrscheinlich unser ganzes Leben zum Besseren ändern. Das habe ich sonderbar gefunden, aber sie wollte nicht mehr sagen. Eigentlich ist sie keine Geheimniskrämerin, also muss es etwas sehr Wichtiges gewesen sein.«
»Das glaube ich auch«, sagte Dr. Burger nachdenklich. »Wir werden sie als vermisst melden, Sina.«