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Kein Blick zurück - Dr. Burger und die Hoffnung einer blinden Patientin
Reni ist eigentlich ein Kind der Berge. Doch nachdem sie ausgerechnet in der Nacht vor ihrer Hochzeit von ihrer großen Liebe Matthias betrogen wurde, ist sie aus ihrem Heimatdorf St. Christoph geflohen und hat sich ein neues Leben in München aufgebaut. Dort arbeitet sie erfolgreich als Immobilienmaklerin, gemeinsam mit ihrem Kollegen Roland.
Als ihr Vater sie bittet, während seines Urlaubs auf ihr Elternhaus aufzupassen, kehrt Reni zum ersten Mal seit Jahren in ihr Heimatdorf zurück. Schnell stellt sie fest, dass sie die Berge mehr vermisst hat, als sie sich eingestehen wollte. Gilt das nur für die Berge - oder auch für ihren Exverlobten Matthias, dem sie dort zwangsläufig wieder begegnet?
Bevor sie sich diese Frage beantworten kann, nimmt ihr Leben erneut eine dramatische Wendung: Reni erblindet von einer Minute auf die andere ...
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Seitenzahl: 128
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Kein Blick zurück
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Bastei Verlag / Michael Wolf
Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-7389-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Kein Blick zurück
Dr. Burger und die Hoffnung einer blinden Patientin
Von Andreas Kufsteiner
Reni ist eigentlich ein Kind der Berge. Doch nachdem sie ausgerechnet in der Nacht vor ihrer Hochzeit von ihrer großen Liebe Matthias betrogen wurde, ist sie aus ihrem Heimatdorf St. Christoph geflohen und hat sich ein neues Leben in München aufgebaut. Dort arbeitet sie erfolgreich als Immobilienmaklerin, gemeinsam mit ihrem Kollegen Roland.
Als ihr Vater sie bittet, während seines Urlaubs auf ihr Elternhaus aufzupassen, kehrt Reni zum ersten Mal seit Jahren in ihr Heimatdorf zurück. Schnell stellt sie fest, dass sie die Berge mehr vermisst hat, als sie sich eingestehen wollte. Gilt das nur für die Berge – oder auch für ihren Exverlobten Matthias, dem sie dort zwangsläufig wieder begegnet?
Bevor sie sich diese Frage beantworten kann, nimmt ihr Leben erneut eine dramatische Wendung: Reni erblindet von einer Minute auf die andere …
Das sieht ganz und gar net gut aus!, dachte der Bergdoktor. Sorgenvoll suchte sein Blick den Himmel ab.
Da braute sich etwas zusammen! Graue Wolkentürme ballten sich über den Bergen zusammen.
Den ganzen Tag über war es drückend heiß gewesen. Es hatte sich angefühlt, als hielte die Natur den Atem an.
Nun zerriss der erste Blitz die Wolkendecke. Grelle Adern flammten auf, und nur wenige Atemzüge später rollte der Donner heran und steigerte sich zu einem bedrohlichen Rumpeln.
Martin Burger umfasste das Lenkrad fester. Sein Geländewagen kämpfte sich den steinigen Weg hinauf, der sich auf den Hexenstein schlängelte. Eine Straße gab es hier oben nicht, die endete weiter unten am Wandererparkplatz.
Doch die beiden Männer in dem Fahrzeug hatten keine Wahl: Ihnen lief die Zeit davon! Sie mussten sich sputen, wenn sie ihr Ziel rechtzeitig erreichen wollten. Womöglich war es bereits zu spät.
Ein Anrufer hatte der Bergrettung einen Steinschlag am Berg gemeldet und von Hilfeschreien berichtet, die er gehört hatte. Sie waren zu weit weg gewesen, als dass er hätte helfen können, deshalb hatte er bei der Bergrettung Alarm gegeben.
Martin Burger und Dominikus Salt waren sofort losgefahren. Die beiden Männer hatten schon etliche gemeinsame Einsätze in den Bergen hinter sich und waren längst Freunde geworden.
»Viel Zeit bleibt uns nimmer, dann ist das Unwetter hier«, murmelte Dominikus.
Er war ein sehniger Mann mit einem kantigen Kinn und leuchtend blauen Augen, um die sich ein Netz aus Lachfältchen zog. Seine gebräunte Haut und die kraftvollen Bewegungen verrieten, dass er oft in den Bergen unterwegs war.
»Hier ist leider Schluss für das Auto.« Dr. Burger stoppte seinen Wagen neben einer windschiefen Kiefer. »Den Rest der Strecke müssen wir laufen.«
Vor ihnen versperrten dicke Steinbrocken den Weg und verhießen nichts Gutes, denn lange lagen die noch nicht hier. Vor einigen Tagen war er auf der Suche nach vermissten Wanderern hier entlanggekommen – und der Pfad war frei gewesen!
»Dann los!« Dominikus nickte knapp.
Sie stiegen aus, buckelten ihre Einsatzrucksäcke auf und marschierten los.
Der Wind hatte aufgefrischt und vertrieb die Hitze. Aber das Wetterleuchten und das dumpfe Grollen, das immer lauter wurde, ließen ihre Blicke besorgt zum Himmel wandern.
Der Anrufer war der Bürgermeister gewesen, der seine Kühe von der Weide heimgetrieben hatte. Wessen Hilferufe er gehört hatte, wussten sie noch nicht – genauso wenig, was sich auf dem Berg zugetragen haben mochte. Der Anrufer hatte durchgegeben, dass die Rufe jäh aufgehört hatten.
Mit langen, kraftvollen Schritten stiegen sie bergauf. Bald lag die Baumgrenze unter ihnen, und nur noch flache Büsche und Himbeersträucher bedeckten den felsigen Untergrund.
Zu ihrer Rechten ragten die beiden schrundigen Gipfel des Hexensteins auf. Von hier aus wirkten sie zum Greifen nahe.
Überall auf dem Boden lagen Steinbrocken verstreut. Teilweise waren sie schon mit Flechten bewachsen, weil sie vor langer Zeit abgegangen waren, teilweise wirkten sie aber auch frisch abgebrochen.
Nach einer Weile stießen die Helfer auf einen Weidenkorb mit leuchtend roten Himbeeren. Er lag umgestürzt auf dem Pfad, und viele Früchte waren auf der Erde verstreut.
Unwillkürlich richtete Martin Burger den Blick nach oben. Etwas Hellblaues leuchtete ein gutes Stück entfernt am Felsen. Es war Stoff! Ein Kleid vielleicht?
»Dominikus?« Er deutete hinauf. »Sieh mal!«
Sein Begleiter folgte seinem Blick und nickte.
»Weiter!«
Sie stiegen zu der Felswand hinauf und kletterten über Steine und Felsbrocken, die ihnen den Weg versperrten. Bald kam ihr Atem schwer, und der Schweiß rann ihnen über die Stirn.
Es wurde immer dunkler um sie herum. Grell hoben sich die Blitze ab, zuckten für Sekundenbruchteile über den Himmel und wurden schließlich vom Donner abgelöst, der lauter und lauter zu werden schien.
Endlich näherten sie sich ihrem Ziel. Eine junge Frau kniete vor der Felswand. Sie wandte ihnen den Rücken zu, und ihr Kopf war herabgesunken.
Im Näherkommen wurden tiefrote Flecken auf ihrem Kleid deutlich. Blut verkrustete ihre blonden Haare.
»Oh mein Gott!« Dominikus stieß zischend den Atem aus. Er musste zu demselben Schluss gekommen sein wie Martin Burger: Die junge Frau war vom Steinschlag überrascht und verletzt worden.
Aber der war schon seit geraumer Zeit vorüber. Warum hatte sie sich seither nicht bewegt?
Neben ihr lag ein Plüschhund im Moos. Bedeutete das etwa, dass sie mit einem Kind unterwegs gewesen war?
Die beiden Männer tauschten einen Blick. Dann schlang Dominikus der Frau die Arme unter die Achseln und hob sie behutsam an.
Unter ihr kam, ganz versteckt in der Felsspalte, ein blasses Gesicht zum Vorschein. Ein Bub, nicht älter als vier Jahre!
Das Kind flog dem Bergdoktor förmlich entgegen und klammerte sich schluchzend an ihn. Vor Angst zitterte der Junge am ganzen Leib.
Er blutete aus einer Wunde an seiner Schläfe, schien aber ansonsten unversehrt zu sein. Seine Mutter musste ihn in der Felsspalte versteckt und mit ihrem Körper vor dem Steinschlag beschützt haben.
Für sie selbst war der Spalt zu klein gewesen. Er hatte nur Raum für eine Person geboten.
Wimmernd presste sich der Bub an Martin Burger. Der Bergdoktor kannte ihn: Es war der kleine Felix. Seine Mutter Wiebke Preindl bewirtschaftete mit ihrem Mann einen Bauernhof unten im Dorf.
Über den Kopf des Kindes hinweg schaute der Arzt zu seinem Kameraden hinüber. Dominikus beugte sich über die Bäuerin, tastete nach ihrer Halsschlagader und schüttelte dann sacht und sichtlich erschüttert den Kopf. Seine Botschaft war eindeutig: Hier können wir nichts mehr tun.
Martin Burger drückte den Buben fester an sich. Wie gern hätte er das Leid von ihm ferngehalten, das an diesem Nachmittag über ihn hereingebrochen war …
***
»Nein!«
Schwer atmend fuhr Martin Burger im Bett hoch und blinzelte, bis ihm aufging, dass seine Erinnerungen ihn im Schlaf heimgesucht hatten.
Das Unglück am Berg war inzwischen sechs Monate her, aber noch immer verfolgte ihn das unliebsame Gefühl, zu spät gekommen zu sein. Längst hatte der Winter den Sommer abgelöst und eine weiße Schneedecke über dem Zillertal ausgebreitet, aber die Ereignisse jenes unheilvollen Tages standen dem Arzt noch so deutlich vor Augen, als hätten sie sich erst gestern ereignet.
Er hatte versucht, Wiebke zu helfen, aber die Bäuerin musste bereits kurz nach dem Steinschlag ihren letzten Atemzug gemacht haben, lange vor dem Eintreffen der Bergretter. Es schmerzte ihn, dass er nichts mehr für sie hatte tun können.
Vor dem Fenster seines Schlafzimmers war es noch dunkel. Die Leuchtziffern des Weckers standen auf kurz nach halb sechs am Morgen. Es lohnte sich also nicht mehr, sich noch einmal auszustrecken.
An Schlaf war ohnehin nicht mehr zu denken. Nach seinem lebhaften Traum voller Erinnerungen war er hellwach.
Neben ihm im Bett regte sich seine Frau. Sie gähnte. Ihr blonder Haarschopf lugte unter der Zudecke hervor.
»Guten Morgen, Liebes.« Er beugte sich zu ihr und gab ihr ein liebevolles Busserl.
»Hm-m«, machte sie.
»Was heißt das? ›Bitte weitermachen‹ oder ›bitte weiterschlafen‹?«
»Hm-m.«
»Alles klar.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
Seine Frau war herzensgut, aber ein Morgenmensch war sie nicht. Vor dem ersten Kaffee war mit ihr nichts anzufangen. So ließ er sie noch ein wenig schlafen, stand leise auf und ging ins Bad, um zu duschen und sich anzuziehen.
Als er wenig später in die Küche hinunterging und die Kaffeemaschine in Gang setzte, fiel sein Blick aus dem Fenster. Die bergige Landschaft war tief verschneit. Aus einigen Bauernhäusern drang bereits Lichtschein. Auf den Höfen begann der Tag frühzeitig.
Sein Heimatdorf lag im Zillertal – so hoch, dass nur eine einzige Serpentinenstraße heraufführte. Nicht weit vom Doktorhaus entfernt stand der Preindl-Hof auf einer Anhöhe. Matthias musste seinen Sohn nun allein großziehen …
Als Hausarzt kannte Dr. Burger alle Menschen im Tal und half, wo er konnte. Dafür nannten ihn die Dorfbewohner dankbar ihren »Bergdoktor«. Sein Haus stand am Waldrand, lediglich einen Steinwurf von der weißen Dorfkirche entfernt. Seine Praxis war im Anbau des rustikalen Alpenhauses untergebracht.
Draußen klapperte der Briefkasten. Vermutlich brachte der Bote gerade die Morgenzeitung.
Kurz darauf klingelte irgendwo im Haus ein Wecker. Zenzi, die Wirtschafterin, würde gleich aufstehen und sich um das Frühstück kümmern. Sie sorgte seit vierzig Jahren für die Menschen im Doktorhaus und gehörte wie eine liebe Großmutter zur Familie.
Das leise Tappen von Pfoten näherte sich. Poldi trottete in die Küche.
Der kleine Dackel schlief in einem Körbchen unter der Treppe. Nun wedelte er freundlich und signalisierte sein Interesse an Futter, einem Spaziergang und Streicheleinheiten – nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.
»Guten Morgen, Poldi. Na, hast du gut geschlafen?« Martin Burger beugte sich zu seinem Hund und kraulte ihn zwischen den Ohren.
In diesem Augenblick schrillte die Haustürklingel.
So früh am Morgen? Das konnte nichts Gutes bedeuten!
Alarmiert richtete sich der Bergdoktor auf und eilte in den Korridor, um zu öffnen.
Draußen stand Luis, der Zeitungsbote. Sein rundes Gesicht verschwand beinahe unter dem dicken Schal, den er sich mehrfach um den Hals gebunden hatte. Er trug eine Winterjacke und Handschuhe. Verkrümmt stand er da und stemmte mit schmerzverzerrter Miene eine Hand in seinen Rücken.
»Entschuldigen Sie die frühe Störung, Herr Doktor, aber können Sie mir bitte helfen? Mir ist es gerade ins Kreuz geschossen, und jetzt komme ich nimmer hoch!«
»Freilich. Komm herein, Luis, dann schaue ich gleich, was ich für dich tun kann.«
Martin Burger ließ seinen Patienten eintreten, und damit begann ein neuer Tag im Doktorhaus.
***
Schon wieder leer? Reni Helmberger schüttelte enttäuscht ihre Wasserflasche. Ihre Kehle war so trocken, dass sie sich anfühlte, als wäre sie mit Sandpapier ausgelegt.
Hoffentlich bahnte sich keine Erkältung an! Die könnte sie gerade gar nicht gebrauchen, denn ihr Schreibtisch bog sich unter Papieren, Angeboten und Fotografien von Häusern und Wohnungen.
Reni war Immobilienmaklerin und arbeitete täglich daran, Menschen und Wohnungen zusammenzubringen. Lebensräume war nicht nur der Name ihres Unternehmens, sondern auch ihr Programm: Sie wollte Raum zum Leben geben.
Dabei war es zweitrangig, ob sie ein Haus, eine Wohnung, ein Loft oder eine Hütte vermittelte. Die Immobilie musste in erster Linie zu den Lebensumständen ihres Kunden passen. Sobald jemand bei der Besichtigung anfing, die Zimmer gedanklich einzurichten, wusste sie, dass der Funke übergesprungen und das Richtige gefunden war.
Reni vermittelte alles: ein neues Zuhause, ein Büro, einen neuen Garten oder eine Studentenbude. Ja, sogar ein Baumhaus hatte sie auf Kundenwunsch schon gefunden.
Ihr Markenzeichen war der hellblaue Stockschirm, ohne den sie niemals aus dem Haus ging. Gekauft hatte sie ihn vor vielen Jahren bei einer Rundreise durch das bezaubernde Cornwall. Reni hatte ein Faible für alles, was aus England kam: die praktische Mode, die spannenden Krimis und den Tee, den sie gern trank.
Ihre beste Freundin neckte sie öfters, indem sie behauptete, dass ihre Eltern sich bei der Namenswahl vertan hatten. Eigentlich hätte sie nicht Verena heißen sollen, sondern Victoria, so wie die berühmte britische Königin.
Darüber konnte Reni nur schmunzeln.
In letzter Zeit war noch etwas zu ihrem ständigen Begleiter geworden: ein hartnäckiges Durstgefühl, das sich auch von literweise Tee nicht vertreiben ließ. Dabei war das Wetter längst nicht mehr so heiß wie noch vor wenigen Wochen.
Im Gegenteil, in München war der Herbst eingezogen: Nasskaltes Wetter bestimmte die Tage und Nächte. Dazu war es so trüb, dass es selten richtig hell wurde. In den Bergen hatte es vermutlich längst geschneit.
»Aaaaua!«
Ein Wadenkrampf explodierte jäh in ihrem linken Bein. Er kam so unerwartet, dass Reni nach Luft schnappte.
Sie zog die Zehen an und biss sich auf die Lippen, um einen weiteren Schrei zu unterdrücken. Verflixt noch mal, tat das weh! Reni kämpfte gegen den Schmerz an, aber es dauerte eine ganze Weile, bis das unliebsame Ziehen nachließ.
Dabei wartete noch Arbeit auf sie! Auf ihrem Computer wurden hübsche Wohnungen angezeigt. Ehemalige Militärkasernen waren modernisiert und umgebaut worden. Die Nähe zur Isar machte daraus begehrte Immobilien, die sich vermutlich im Handumdrehen vermitteln lassen würden. Es war Renis Hartnäckigkeit zu verdanken, dass sie den Auftrag dafür erhalten hatte.
Unwillkürlich spielte sie mit dem goldenen Medaillon, das sie an einer Kette um den Hals trug. Als es ihr bewusst wurde, schrak sie zusammen und verbarg das Schmuckstück unter ihrer Bluse.
Sie hätte es gar nicht mehr tragen sollen, das wusste sie. Immerhin war es ein Geschenk von Matthias gewesen, und ihre Trennung lag nun schon viele Jahre zurück.
Sie sollte nicht mehr der Vergangenheit nachtrauern, sondern nach vorne schauen. Doch das Medaillon erinnerte sie daran, wie es einmal gewesen war, daran, dass sie geliebt worden war. Und so brachte sie es nicht über sich, es abzulegen.
Vor dem Fenster ihres Büros war es längst dunkel geworden. Regentropfen trommelten gegen die Scheiben wie hungrige Vögel.
Reni beugte sich vor und sah die neuen Fotos durch. Unvermittelt klapperte ein Schlüssel im Türschloss, dann kam Milena herein. Die junge Putzfrau hatte sich ein buntes Tuch um die blonden Locken geschlungen und lächelte verschmitzt.
»Guten Abend, Frau Helmberger. Noch so fleißig?«, fragte sie, und nur ein leichter Akzent verriet ihre polnische Herkunft.
Milena studierte Sprachen und säuberte nebenher Büros und Arztpraxen, um sich das Geld für die Uni zu verdienen.
»Guten Abend, Milena. Sagen Sie bloß, es ist schon so spät?« Reni warf einen Blick auf die Zeitanzeige ihres Computers und schüttelte verblüfft den Kopf.
Tatsächlich! Sie hatte gar nicht bemerkt, wie die Zeit vergangen war.
»Eigentlich wollte ich noch den Auftrag fertigstellen …«, murmelte sie irritiert.
»Kein Problem, dann fange ich nebenan mit dem Putzen an.«
»Nein, nein, machen Sie ruhig. Ich werde heimgehen. Es ist spät geworden.«
»Ihr Mann wird sich bestimmt freuen.« Milenas Lächeln vertiefte sich. Sie schien davon auszugehen, dass Reni daheim erwartet wurde.
Leider war das nicht der Fall. Zu Hause wartete nichts als eine leere Wohnung. Dabei wäre sie bereits verheiratet gewesen, wenn nicht …
Nein! Rasch verbot sie sich die Erinnerung an die Ereignisse, die ihr Leben durcheinandergewirbelt und zum Bruch mit ihrem Verlobten geführt hatten.
Schluss für heute, entschied sie und schaltete ihren Computer aus.
»Wie geht es mit Ihrem Studium voran, Milena?«
»Gut.« Die Augen ihres Gegenübers leuchteten auf. »Nur noch ein Jahr, dann ich habe meinen Abschluss.«
»Wissen Sie schon, was Sie danach machen wollen?«
»Ja, ich möchte unterrichten. Mein Großvater und meine Eltern waren Lehrer. Ich hoffe, ich bekomme eine Anstellung an einer Schule.«