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Nur Mut!
Dr. Burger kämpft um Wahrheit und Gerechtigkeit
Von Andreas Kufsteiner
In St. Christoph geht es von Mund zu Mund, dass der Bergdoktor Amalie Kobler durch sofortige Wiederbelebungsmaßnahmen das Leben gerettet hat. Ein Autofahrer hat die Bäuerin umgefahren und mit lebensgefährlichen Verletzungen auf der Straße liegen lassen, ohne ihr zu helfen. Es war reiner Zufall, dass Dr. Burger auf seiner abendlichen Runde mit dem Familiendackel Poldi gerade dort vorbeigekommen ist.
Nun fragen sich die Dörfler, wer wohl diese schändliche Tat begangen hat. War es gar jemand aus ihrer Mitte?
Der feige Täter wähnt sich indessen in Sicherheit, denn Amalie hat keinerlei Erinnerungen an den Unfall. Doch eines Tages kehren die verschütteten Erinnerungen zurück ...
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Seitenzahl: 130
Veröffentlichungsjahr: 2019
Cover
Impressum
Nur Mut!
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Michael Wolf
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar
ISBN 9-783-7325-7925-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Nur Mut!
Dr. Burger kämpft um Wahrheit und Gerechtigkeit
Von Andreas Kufsteiner
In St. Christoph geht es von Mund zu Mund, dass der Bergdoktor Amalie Kobler durch sofortige Wiederbelebungsmaßnahmen das Leben gerettet hat. Ein Autofahrer hat die Bäuerin umgefahren und mit lebensgefährlichen Verletzungen auf der Straße liegen lassen, ohne ihr zu helfen. Es war reiner Zufall, dass Dr. Burger auf seiner abendlichen Runde mit dem Familiendackel Poldi gerade dort vorbeigekommen ist.
Nun fragen sich die Dörfler, wer wohl diese schändliche Tat begangen hat. War es gar jemand aus ihrer Mitte?
Der Frühling brachte neues Leben in das Zillertal. Der Schnee zog sich in die höheren Regionen zurück. Ströme kristallklaren Schmelzwassers bahnten sich ihren Weg ins Tal. Wild rauschte der Mühlbach an St. Christoph vorbei. Die Weiden rings um das Bergdorf grünten, dass einem das Herz aufgehen konnte.
Die Wiese am Waldrand war mit blassvioletten Krokussen bedeckt. Ein blühendes Meer, das bis zum bewaldeten Fuß des Hexensteins reichte. Meisen und Drosseln sangen. Und die Luft war erfüllt mit süßem Blütenduft. Ja, das Frühjahr war ein Fest für alle Sinne.
Martin Burger liebte diese Jahreszeit, wenn es wieder länger hell war und neues Leben seine heimatlichen Berge erfüllte. Er hatte es sich angewöhnt, abends einen Spaziergang mit seinem Dackel zu unternehmen. Poldi mochte die Touren und sauste ihm munter vornweg, und ihm selbst half der Weg, den Kopf nach einem langen Arbeitstag freizubekommen.
An diesem Abend wölbte sich ein veilchenblauer Himmel über den Bergen. Die Sonne stand tief im Westen und tauchte das Firmament in glühendes Rot.
Der Bergdoktor war schon seit dem frühen Morgen auf den Beinen. Mehrere dringende Bitten um Hausbesuche hatten ihn in aller Frühe aus dem Bett gerufen. Eine Virusgrippe ging im Dorf um und hatte bereits zahlreiche Landwirte und Urlauber niedergeworfen. Nach dem langen Winter waren die Abwehrkräfte vieler Menschen geschwächt, und der Erreger hatte leichtes Spiel.
Auch seine Familie musste mit Fieber das Bett hüten: seine Frau, seine beiden Töchter und sein Vater. Lediglich seine Wirtschafterin und sein kleiner Sohn hielten noch tapfer durch. Filli begleitete ihn an diesem Abend auch auf seiner Runde.
„Was für ein Vogel ist das, Papa?“ Filli pikste mit seinem Finger in die Luft und deutete zu einem Raubvogel mit gegabeltem Schwanz, der über dem Tal seine Kreise zog und dabei einen melancholischen Ruf ausstieß.
„Das ist ein Rotmilan, Filli.“
„Warum ruft er denn so traurig?“ Mit seinen fünf Jahren wollte der Bub alles wissen. Filli konnte es kaum erwarten, endlich zur Schule zu kommen, und beneidete seine ältere Schwester glühend, weil sie schon in die zweite Klasse gehen durfte.
„Ich glaube net, dass er traurig ist. Sein Ruf klingt immer so.“
Filli ließ den Vogel nicht aus den Augen. Das Kinn hoch erhoben und den Blick gen Himmel gerichtet, marschierte er neben seinem Vater her und stieß dabei gegen das Obstregal, das vor dem Gemischtwarenladen aufgestellt war.
„Hoppla!“ Die Ladenbesitzerin sortierte gerade Körbchen mit frischen Erdbeeren ein. „Gib acht, wohin du läufst, Filli.“
„Oh, tut mir leid, Tante Alma. Da war ein roter Milan.“
„Ah, die sind selten geworden. Bewachen das Tal, hat meine Großmutter früher erzählt.“ Ein Lächeln zauberte zahllose Fältchen um die Augen der Ladenbesitzerin.
„Wie geht es dir, Alma?“, erkundigte sich Martin Burger.
„Mei, ich kann net klagen, Herr Doktor. Alleweil viel zu tun hab ich, aber ich würde es gar net anders haben wollen.“
„Das freut mich zu hören.“
„Und wie steht es bei Ihnen?“
„Oh, bei uns liegen fast alle mit Fieber danieder.“
„Herrje. Das Virus, oder?“ Alma nahm eine Papiertüte vom Stapel und begann, frische Früchte hineinzufüllen. Zu guter Letzt packte sie noch ein Körbchen mit leuchtend roten Beeren obenauf. „Nehmen Sie die Ihrer Familie mit, ja? Die Vitamine stärken die Abwehrkräfte.“
„Vielen Dank, Alma. Was bekommst du dafür?“
„Lassen Sie nur, Herr Doktor. Sie tun alleweil so viel Gutes hier im Dorf, da revanchiere ich mich gern einmal. Sagen Sie Ihren Lieben gute Besserung von mir, ja? Ach, und Filli …“ Sie steckte seinem Sohn eine kleine Tüte mit Himbeerzuckerln zu und zwinkerte. „Das ist in gewisser Weise ja auch Obst.“
Fillis Augen leuchteten auf wie zwei Sterne. Er schob sich eines der Zuckerln in den Mund und lutschte andächtig.
Martin Burger spazierte mit seinem Sohn weiter. Sie umrundeten das Dorf und wollten gerade umkehren, als Poldi auf einmal Laut gab. Aufgeregt zerrte der Dackel an der Leine.
„Na, na, Poldi, was hast du denn?“ Der Bergdoktor schaute sich forschend um. „Hast du einen Hasen gewittert?“
Poldi bellte weiter.
„Warum ist er denn so aufgeregt, Papa?“
„Das weiß ich noch net.“ Dr. Burger folgte seinem Hund zu einem Gebüsch. Davor saß auf einem flachen Stein ein Vogel mit grau meliertem Gefieder: eine Taube!
„Oh! Guck, Papa! Ihr Flügel hängt herunter. Ob sie krank ist?“
„Oder verletzt. Ich muss mir das anschauen. Aus, Poldi. Lass von dem armen Vogel ab.“
Filli ging in die Hocke und beäugte die Taube.
„Ich glaube, sie ist verheiratet.“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Sie hat einen Ring am Fuß. Hier!“
„Dann gehört sie sicherlich einem Züchter.“ Dr. Burger beugte sich vor und schaute sich den Ring genauer an. Austria, stand darauf. Außerdem waren mehrere Nummern verzeichnet, die ihm nichts sagten. Die Taube stakste hin und her und ließ Poldi nicht aus den Augen. Offenbar machte der Dackel sie nervös. Der Bergdoktor behielt ihn dicht bei sich.
„Braucht sie Hilfe, Papa?“
„Ich glaube schon. Hier, halt den Poldi bitte einmal fest.“ Er überließ seinem Sohn die Leine, setzte die Papiertüte mit dem Obst ab und streckte die Arme nach der Taube aus. Diese breitete ihre Flügel aus und flatterte los, ehe er sie zu fassen bekam. Wenig später war sie zwischen den Stämmen des nahen Waldes verschwunden.
„Sie kann noch fliegen.“ Filli jubelte. Er liebte Tiere und konnte es nicht ertragen, wenn eines litt. „Sie fliegt heim, oder, Papa?“
„Ich denke, ja.“ Dr. Burger hob die Einkaufstüte wieder auf und legte seinem Sohn eine Hand auf die Schulter. „Lass uns heimgehen. Zenzi wird das Abendessen bald fertig haben.“
„Oh ja! Hab Hunger!“ Filli rieb sich das Bäuchlein.
Seite an Seite liefen sie zum Dorf zurück. Bis nach Hause schafften sie es jedoch noch nicht, denn hinter einer Scheune am Rand des Dorfes sahen sie plötzlich einen Menschen auf der Straße liegen. Eine Frau in einem dunkelgrünen Dirndl war es. Durch ihre dunklen Haare zogen sich vereinzelte graue Strähnen. Blut quoll aus einer Wunde an ihrer Schläfe. Ihr rechtes Bein stand in einem seltsamen Winkel ab. Sie hielt die Augen geschlossen, und ihre bleiche Gesichtsfarbe ließ nichts Gutes vermuten.
„Auweia“, flüsterte Filli.
„Das ist doch die Kofler-Amalie!“ Martin Burger eilte zu der Verletzten hinüber. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Nur ein Traktor tuckerte in der Ferne über eine Wiese.
Neben der verletzten Bäuerin lagen einige Plastikstücke auf dem Asphalt sowie orangefarbene und farblose Glassplitter.
Stammten sie von einem Fahrzeug?
War die Bäuerin etwa angefahren worden? Aber wo war dann der Fahrer mit seinem Fahrzeug?
Dr. Burger kniete sich neben die Bäuerin, stellte seine Papiertüte ab und tastete nach dem Puls der Verletzten. Ein kurzes Flattern, dann nichts mehr. Er beugte sich vor, horchte auf ihren Atem. Kein Lebenszeichen zu finden. Lange konnte sie hier noch nicht liegen. Ab und zu kam jemand vorbei, der sie hätte finden müssen. Unverzüglich machte er sich daran, die Bäuerin wiederzubeleben. Er stemmte die Handflächen auf ihre Brust und begann mit der Druckmassage.
Zwei, drei, vier … In Gedanken zählte er mit.
Schließlich überstreckte er ihren Hals und presste seinen Mund auf ihren. Tief blies er seinen Atem in ihre Lunge.
Wieder Herzdruckmassage.
Zwei, drei, vier …
„Filli, zieh das Handy aus meiner Hosentasche. Du weißt, wie es funktioniert, nicht wahr?“
Der Bub schaute ganz erschrocken drein.
„Weiß ich.“
„Gut. Du musst den Notdienst wählen. Weißt du noch, wie das geht?“
Filli nickte wieder. Schon selbstbewusster diesmal.
„Na klar.“
„Sag in der Zentrale, wo wir sind. Kirchgasse Ecke Bacherlsteg. Und dass wir einen Rettungswagen brauchen.“
„Mach ich.“ Der Bub zerrte das Mobiltelefon aus der Hosentasche, strich über das Display und wählte.
„Wir brauchen Hilfe, Tante“, sprudelte er wenig später hervor. Er lauschte kurz, wurde offenbar nach seinem Namen und seinem Standort gefragt, und rasselte beides herunter.
Sein Vater setzte seine Anstrengungen fort.
„Komm schon, Amalie, gib jetzt net auf.“ Er kannte die Bäuerin seit vielen Jahren. Amalie Kofler bewirtschaftete mit ihrem Mann einen Hof im Norden von St. Christoph. Ihre Tochter lebte in der Stadt.
Maria hatte immer ein großes Interesse an der Krankenpflege gehabt und als Schülerin ein Praktikum in seiner Praxis gemacht. Das hatte sie in ihrem Berufswunsch bestärkt. Nach ihrem Schulabschluss war sie Krankenschwester geworden. Grundgütiger! Was für ein Schrecken würde es für sie sein, wenn sie erfuhr, dass ihre Mutter angefahren worden war!
Angestrengt machte Dr. Burger weiter. Bald rann ihm der Schweiß über Stirn und Rücken, aber er ließ nicht nach. Noch war nicht alles verloren. Noch nicht.
Das rechte Bein der Bäuerin war gebrochen, und vermutlich hatte sie auch innere Verletzungen davongetragen. Sehr wahrscheinlich war auch ein Schädel-Hirn-Trauma.
„Wach auf, Amalie, dein Mann braucht dich“, murmelte er. „Hilfe ist auf dem Weg. Du musst nur durchhalten, hörst du?“
Er tastete nach ihrem Puls. Da! Schwach, aber wahrnehmbar, flatterte der Herzschlag der Verletzten wieder gegen seine Fingerkuppe. Sie hatte wieder Puls!
Allerdings kam die Bäuerin nicht zu sich. Auch nicht, als der Rettungswagen eintraf und die Sanitäter übernahmen.
War seine Hilfe womöglich zu spät gekommen?
***
Maria Kofler fuhr nicht gern im Dunkeln Auto.
Sie mochte es nicht, von den Scheinwerfern entgegenkommender Fahrzeuge geblendet zu werden und dadurch für einen Augenblick beinahe blind zu fahren. Außerdem hatte sie nachts immer das Gefühl, dass aus den Schatten etwas vor ihren Wagen springen könnte, das sie zu spät wahrnahm. Ihre Fantasie war unerschöpflich, wenn es darum ging, sich verhängnisvolle Zwischenfälle auszumalen. Auch jetzt wurde sie das unliebsame Ziehen im Magen nicht los. Sie krampfte die Finger um ihr Lenkrad und starrte angestrengt durch die Windschutzscheibe nach vorn.
Die Landstraße war kurvig und so spät abends auffallend einsam. Kaum ein anderes Fahrzeug war unterwegs. Wer nicht fahren musste, war jetzt längst daheim. Maria jedoch hatte keine Wahl. Sie war erst vor zwanzig Minuten daheim in Innsbruck losgefahren, aber es kam ihr viel länger vor.
Der Anruf schien die Zeit angehalten zu haben …
Vor ihr huschte etwas Kleines über die Straße. Orangefarbene Augen leuchteten in der Dunkelheit. Ein Fuchs? Vielleicht. Er verschwand, ehe Maria bremsen konnte. Unwillkürlich schaute sie nach links und rechts, ob noch ein zweites Tier über die Straße preschen wollte. Doch nichts war zu sehen.
Sie drehte am Radioknopf. Gerade kamen die Nachrichten. Maria stellte das Radio wieder aus, weil sie im Moment den Kopf voller Sorgen hatte und nichts vom Weltgeschehen hören mochte.
All ihre Gedanken waren auf einen einzigen Punkt gerichtet. Wenn nur die Mutter wieder gesund wird. Ohne sie wird der Vater nimmer froh. Und ich auch net. Ich hab solche Angst um sie. Der Doktor mochte sich am Telefon net auf eine Prognose festlegen. Net einmal sagen, wie es um sie steht, konnte er. Ich glaube net, dass das ein gutes Zeichen ist.
Ihr Herz fühlte sich an wie ein Eisklumpen, als Maria den Blinker setzte und nach Schwaz hineinfuhr.
In der Stadt herrschte mehr Betrieb als auf der Landstraße. Maria kannte das Krankenhaus, in das ihre Mutter gebracht worden war. Sie steuerte den Parkplatz an und stellte ihren Wagen in einer freien Lücke ab.
Auf dem Beifahrersitz lag ihre Handtasche. Das Notizbuch, das sie stets bei sich hatte, ragte oben heraus. Sie schob es hinein, zog den Autoschlüssel ab und strebte mit langen Schritten der Notaufnahme entgegen.
In das Notizbuch schrieb sie Gedichte, die sie selbst ersann. Es war ihre Art, einen anstrengenden Tag zu verarbeiten. Als Krankenschwester hatte Maria täglich mit zahlreichen Sorgen ihrer Patienten zu tun. Und mit einem System, das immer mehr vom medizinischen Personal verlangte und immer weniger zuließ. Es war unmöglich, von alledem unberührt zu bleiben.
Sie kannte Kolleginnen, die sich von einer Verabredung zur anderen hangelten, um den Druck wenigstens für ein paar Stunden zu vergessen. Andere betrieben Sport bis zur Erschöpfung. Maria schrieb sich alles von der Seele. Manche ihrer Reime umfassten nur wenige Zeilen, aber sie halfen ihr. Niemand bekam ihre Texte je zu lesen.
Neben dem Notizbuch steckte auch ein Katalog mit Last-Minute-Reisen in ihrer Tasche. Ein Busunternehmen bot zahlreiche Urlaubsreisen an, die in wenigen Tagen begannen. Maria hatte ihre Urlaubsplanung bis zuletzt aufgeschoben, um Geld zu sparen. Als Single durfte sie hoffen, immer noch einen freien Platz zu erwischen. Nun schwankte sie zwischen einer Rundreise durch Irland und einer Reise durch Südengland. Beide Ziele reizten sie, und beide waren dank der späten Buchung bezahlbar. Nur: Wofür sollte sie sich entscheiden?
Während sie noch im Katalog gestöbert und Preise verglichen hatte, hatte sie der Anruf des Bergdoktors erreicht: Ihre Mutter war verunglückt und lag im Krankenhaus. Er hatte Maria gefragt, ob sie hinfahren würde, und sie hatte sofort zugesagt. Wenig später war sie schon auf dem Weg gewesen.
Das Bezirkskrankenhaus von Schwaz verfügte über einen ausgezeichneten Ruf. Die Patienten wurden hier nach hochmodernen Methoden behandelt. Trotzdem rieselte es Maria kalt den Rücken hinunter, als sie durch die Eingangshalle eilte und sich der Notaufnahme zuwandte. Furcht krampfte ihr Inneres zusammen wie eine unsichtbare Faust.
Im Flur kam ihr ein großer, kräftiger Mann entgegen. Er trug eine blaue Arbeitshose, Gummistiefel und ein kariertes Hemd, das über seinen breiten Schultern spannte. Ein brauner Bart wucherte an seinem Kinn.
„Papa!“ Maria flog ihrem Vater entgegen.
Er fing sie auf und hielt sie fest.
„Mei, dass du gekommen bist“, stammelte er.
„Natürlich. Ich musste kommen.“ Maria blickte zu ihrem Vater hoch. Seine Augen waren gerötet und voller Sorge. Er blickte so verwirrt drein, als könnte er nicht fassen, dass ihnen wirklich so ein Unglück widerfahren war. „Wie geht es Mutter? Hast du schon etwas gehört?“
„Nein. Sie wird noch operiert.“
„Was genau ist eigentlich passiert?“
„Das weiß ich selbst net genau. Doktor Burger hat sie an der Straße gefunden und ihr Leben gerettet. Sie war net bei Bewusstsein, als er sie fand, und ich glaube, sie hatte keinen … keinen Puls.“ Ihr Vater schluckte hörbar. „Jemand hat deine Mutter angefahren, Maria. So viel weiß ich inzwischen.“
„Angefahren? Was? Aber wie konnte das denn passieren?“
„Das wissen wir net. Der Fahrer wurde noch net gefunden.“
„Net gefunden? Soll das heißen, er hat Fahrerflucht begangen?“
„So sieht es wohl aus.“
„Aber das …“ Sie taumelte zwei Schritte zurück. Diese Neuigkeit musste sie erst verkraften. Jemand hatte ihre Mutter angefahren, sie verletzt und hilflos liegen lassen? Der Fahrer hatte sich einfach davongemacht? „Bist du dir sicher?“
„Ja. Der Fahrer war über alle Berge, hat Doktor Burger gesagt.“
„Mei …“ Marias Hand fuhr an ihren Mund. Fahrerflucht? Das eine Wort kreiselte durch ihren Kopf wie ein hungriges Raubtier. Sie konnte sich das nicht vorstellen. Ihre Mutter – angefahren und verletzt ihrem Schicksal überlassen. Ausgerechnet Amalie, die nie ein böses Wort sagte und immer half, wo sie konnte!