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Wo der Bergwind dich hinweht
Hanna sucht einen Ort zum Glücklichsein
Von Andreas Kufsteiner
Als Hanna Miltner die Tür zum Haus ihrer Großeltern öffnen will, zittern ihre Hände so stark, dass ihr der Schlüssel zu Boden fällt. Sie hebt ihn auf, aber erst beim dritten Versuch dreht er sich knirschend im Schloss, und die schwere Eingangstür schwingt zurück. Abgestandener, schimmeliger Geruch schlägt ihr entgegen, und Hanna bleibt einen Augenblick zögernd in dem halbdunklen Flur stehen.
Es ist das erste Mal seit vielen, vielen Jahren, dass sie dieses Haus betritt - und sie tut es auch nur noch diesmal - ein allerletztes Mal also -, um vielleicht doch noch eine Antwort darauf zu finden, weshalb man sie damals verstoßen hat ...
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Seitenzahl: 133
Veröffentlichungsjahr: 2019
Cover
Impressum
Wo der Bergwind dich hinweht
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Michael Wolf
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 9-783-7325-8662-2
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Wo der Bergwind dich hinweht
Hanna sucht einen Ort zum Glücklichsein
Von Andreas Kufsteiner
Als Hanna Miltner die Tür zum Haus ihrer Großeltern öffnen will, zittern ihre Hände so stark, dass ihr der Schlüssel zu Boden fällt. Sie hebt ihn auf, aber erst beim dritten Versuch dreht er sich knirschend im Schloss, und die schwere Eingangstür schwingt zurück. Abgestandener, schimmeliger Geruch schlägt ihr entgegen, und Hanna bleibt einen Augenblick zögernd in dem halbdunklen Flur stehen.
Es ist das erste Mal seit vielen, vielen Jahren, dass sie dieses Haus betritt – und sie tut es auch nur noch diesmal – ein allerletztes Mal also –, um vielleicht doch noch eine Antwort darauf zu finden, weshalb man sie damals verstoßen hat …
Der Tod ihrer Großeltern lag nun schon eine Weile zurück. Die beiden waren rasch hintereinander gestorben. Ob sie hinfällig oder schwer krank gewesen waren – Hanna Miltner weiß es nicht. Denn zu der Zeit hatte sie ihre Pflegemutter, die in einem weit entfernten Heim lebte, besucht und anschließend mit einer Freundin eine längere Wanderung unternommen. Erst durch den Anwalt der Großeltern hatte sie erfahren, dass die Beerdigung längst stattgefunden hatte.
Auf ihre Anwesenheit war ausdrücklich keinen Wert gelegt worden.
Der Anwalt, der gleichzeitig der Nachlassverwalter war, hatte sie in sachlichen Worten darüber unterrichtet, dass sowohl das Haus als auch das sonstige Vermögen an eine Stiftung fielen. Das Einzige, worüber Hanna verfügen konnte, waren die Besitztümer ihrer Mutter, die sich in einer kleinen Kammer im Dachgeschoss befanden.
Es erfüllte sie mit Bitterkeit, dass ihre Großeltern, die sich immer sehr wohltätig gegeben hatten, ihr nichts vererbt hatten, sah sie darin doch erneut einen Beweis dafür, wie sehr sie ihre einzige Enkelin abgelehnt hatten. Selbst als der Tod schon nahe gewesen war, hatten sie sich nicht zu einer versöhnlichen Geste durchringen können.
Hanna ging durch den engen Flur und schaute ins Wohnzimmer. Nichts hatte sich verändert in all den Jahren, seitdem sie es zum ersten Mal bewusst wahrgenommen hatte. Plumpe Polstersessel mit Schondecken auf den Lehnen, ein ausladendes Sofa mit bestickten Kissen, die der Reihe nach angeordnet waren. Ein altmodischer dunkler Büffetschrank mit Vitrine, dessen Holz von der häufig verwendeten Politur glänzte.
Das beängstigende Gefühl, ersticken zu müssen, überkam Hanna. Sie warf einen Blick in das Schlafzimmer mit dem riesigen Doppelbett, über dem ein breites Bild mit einem religiösen Motiv hing. Alles war aufgeräumt, allerdings von einer dicken Staubschicht bedeckt. Alle Räume, Küche und Bad eingeschlossen, erinnerten an die Sechzigerjahre.
Hanna eilte die Stufen hoch. Das winzige Einfamilienhaus hatte nur noch ein ausgebautes Dachgeschoss, in dem sich zwei Zimmer befanden, von denen eines das Kinderzimmer ihrer Mutter gewesen war. Es war verschlossen, doch Hanna hatte auch dafür den Schlüssel erhalten und öffnete es.
Das Zimmer war keineswegs ein Mädchentraum aus Weiß und Rosa. Es befanden sich nur die notwendigsten Möbelstücke darin, ein schmales Bett, ein eintüriger Schrank und an dem kleinen Fenster ein Schreibtisch mit einem billigen Stuhl. Das Bücherregal erschien geradezu der einzige Luxus in diesem lieblos eingerichteten Raum zu sein.
Ihre Mutter hatte wohl versucht, diese Trostlosigkeit abzumildern, der farbenfrohe Überwurf auf dem Bett schien von ihr angefertigt worden zu sein. An den Wänden hingen Fotos, die meisten von Klassenfahrten, eines aber zeigte ihre Mutter im Kreis von lachenden, übermütigen Freundinnen.
Hanna hängte das Bild ab und stellte sich ans Fenster, um es eingehender betrachten zu können. Maria war eine schöne junge Frau gewesen, aber viel zu ernst für ihr Alter. Das üppige, fast schwarze Haar umgab lockig ein schmales Gesicht mit regelmäßigen Zügen. Die grünen Augen blickten nachdenklich, und der reizvoll geschwungene Mund schien jemandem zu gehören, der seine Geheimnisse nicht preisgab.
Im Gegensatz zu ihren Freundinnen war sie sehr bescheiden gekleidet und trug einen offensichtlich selbst genähten Glockenrock und eine schlichte Bluse dazu. Doch das konnte nicht verbergen, dass sie eine schöne, schlanke Gestalt gehabt und sicherlich die Aufmerksamkeit vieler junger Männer erregt hatte.
Jähe Zuneigung stieg in Hanna empor. Sie hatte keine Erinnerung an ihre Mutter, doch sie war sich gewiss, dass sie ihr sehr zugetan gewesen wäre. Wäre nur nicht jenes Ereignis eingetreten, das bis auf den heutigen Tag ein Rätsel geblieben war.
Kurze Zeit nach der Geburt ihrer Tochter war Maria spurlos verschwunden.
Die Großeltern hatten es sich leicht damit gemacht, denn sie hatten ihre einzige Tochter schon lange abgeschrieben gehabt. Dass sie sich mit einem Mann eingelassen hatte und eine „ledige Mutter“ geworden war, wie sie sich ausgedrückt hatten, konnten sie ihr niemals verzeihen.
Und diese Einstellung hatte sich auch auf ihre Enkeltochter übertragen, die von ihrer Großmutter theatralisch „die Frucht der Sünde“ genannt wurde.
Ihre Großeltern hatten nie zu ihr gestanden, hatten sie als eine Familienschande angesehen, die den guten Ruf, den sie in der Kleinstadt genossen hatten, in Gefahr gebracht hatte. Hanna wurde daher zu Pflegeeltern gebracht, die weit weg gewohnt hatten, und später bei ihren seltenen Besuchen bei den Großeltern als Kind entfernter Verwandter ausgegeben.
Aber sie konnte sich nicht beklagen. Sie hatte es gut gehabt bei ihren kinderlosen Pflegeeltern, die sich aufopfernd um sie gekümmert hatten und zu denen sie eine tiefe Zuneigung gefasst hatte. Ihr Pflegevater war allerdings früh gestorben und die Mutter vermutlich auch infolgedessen vorzeitig pflegebedürftig geworden. Wann immer sie es ermöglichen konnte, besuchte Hanna sie im Heim, wo sie zusammen schöne Stunden verbrachten.
Die letzten Jahre hatte Hanna auf Wunsch ihrer Großeltern in einem von Nonnen geleiteten Internat verbracht, das sowohl einen hauswirtschaftlichen als auch einen landwirtschaftlichen Zweig für zukünftige Bäuerinnen angeboten hatte.
Seltsamerweise fühlte sich Hanna von der Landwirtschaft eigenartig angezogen, sodass sie beide Zweige absolviert und als Jahrgangsbeste abgeschlossen hatte. Danach hatte sie den Entschluss gefasst, sich um ein Praktikum auf einem großen Bauernhof zu bewerben.
Hanna streifte die Erinnerungen ab und öffnete das Fenster, damit der Raum durchlüftet wurde. Danach begann sie, nach Unterlagen zu suchen, die ihre Mutter hinterlassen hatte. Junge Mädchen hatten immer ihre Geheimnisse, vor allem wenn sie streng erzogen worden waren.
Vielleicht waren irgendwo Tagebücher oder Liebesbriefe versteckt, aus denen hervorging, mit wem sich Maria heimlich getroffen hatte. Vielleicht fand sie auch irgendeinen Hinweis auf ihren Vater.
Zuerst öffnete Hanna die Schubladen des kleinen Schreibtischs, doch darin befanden sich nur alte Schulhefte. Es gab keine Briefchen von Freundinnen darin, mit denen sie sich vielleicht ausgetauscht hatte. Vermutlich waren die Hefte von ihren Eltern kontrolliert worden. Daneben lagen noch allerhand Utensilien für den Schulgebrauch, und Hanna wandte sich entmutigt ab.
Oder gab es etwa ein heimliches Versteck? Vielleicht unter den Dielenbrettern oder einer Schublade, die nicht richtig abschloss?
Hanna lüpfte den Bettvorleger und tastete den Boden nach Unebenheiten ab, doch nichts war zu finden, auch nicht hinter den Schubladen. Schließlich öffnete sie ohne große Erwartungen den Schrank, und der bot Überraschungen. War die Kleidung ihrer Mutter auf dem Bild vergleichsweise schlicht gewesen, so fand sie linker Hand in dem Schrank ein Dirndlkleid aus kostbarer dunkelgrüner Seide, aufwendig gearbeitet, das bestimmt nicht von der Dorfschneiderin stammte.
Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen und holte es heraus, um es sich vor dem Spiegel in der Vorderfront des Schrankes anzuhalten. Es stand ihr ganz wunderbar, denn Hanna hatte die grünen Augen ihrer Mutter geerbt. So musste ihre Mutter damals in diesem festlichen Gewand ausgesehen haben.
Ein Schauder überlief Hanna.
Dann entdeckte sie, dass Maria dieses Kleid wohl nie getragen hatte, denn es hingen noch die Verkaufsschilder daran. Aus ihnen ging hervor, dass das Dirndl in einem Trachtenmodengeschäft in Mayrhofen gekauft worden war. Damit hatte sie schon einen ersten Anhaltspunkt – ihre Mutter musste sich im Zillertal aufgehalten haben.
Außerdem hingen daneben noch ein Trachtenrock, eine weiße Spitzenbluse und eine Weste, offensichtlich von Hand gearbeitet. Eine ganze Ausstattung also, wie sie wohlhabenden Hoftöchtern oder Jungbäuerinnen zustand. Hanna untersuchte das Dirndl genauer und wurde bald fündig. In einer Tasche des Rocks fand sie ein kleines Schmuckkästchen.
Als sie es öffnete, leuchtete ihr ein Ring entgegen, auch er keine Massenware, sondern ein Meisterwerk der Goldschmiedekunst. Ein Diamant war in einen kunstvoll gearbeiteten Reif eingelassen, den Hanna für Platin hielt.
Wie war ihre Mutter an ein derartig kostbares Schmuckstück gelangt? Schon die Kleidungsstücke passten nicht in diesen schäbigen Schrank, und der Ring warf noch mehr Fragen auf. Hatte Maria das alles als Geschenke von ihrem heimlichen Geliebten erhalten, der auch der Vater ihres Kindes war?
Hanna durchsuchte noch einmal gründlich den Schrank, doch vergeblich. Es gab kein Versteck darin, aber das, was sie darin gefunden hatte, war an sich schon aufschlussreich genug. Ohne Zweifel hatte ihre Mutter ein Doppelleben geführt.
Doch sie hoffte immer noch, dass ihre Mutter etwas Schriftliches hinterlassen hatte, ein Tagebuch zum Beispiel, das sie vor ihren wachsamen Eltern verborgen gehalten hatte. Sie hob die Matratze des bescheidenen Bettes hoch, doch das wäre wohl zu offenkundig gewesen. Schließlich nahm sie das Bücherregal in Angriff.
Maria war eine eifrige Leserin gewesen, außer den Schulbüchern und einigen Klassikern hatte sie sich auch für Geschichte und Geografie interessiert. Im Mittelpunkt standen vor allem Gebirgslandschaften, vorzugsweise das Zillertal. Davon gab es mehrere Bildbände, die sie dem Aussehen nach wohl in Antiquariaten erstanden haben musste.
Und Mayrhofen, woher die Kleidung stammte, lag im Zillertal, somit war eine erste Verbindung hergestellt. Hanna blätterte die Bücher durch, und dann machte sie eine Entdeckung, die ihr Herz schneller schlagen ließ. In einem der Bildbände fand sie zwischen den Seiten einen angefangenen Brief.
Er war mit Tinte geschrieben und größtenteils bis zur Unleserlichkeit verblichen, doch einige Satzbruchteile und Wörter konnte Hanna entziffern. Der Brief war offenbar an eine der Freundinnen, die auf dem Foto abgebildet waren, gerichtet, zu der Maria wohl ein besonderes Vertrauensverhältnis gehabt hatte.
Ich liebe ihn so sehr, aber es ist eine …, las Hanna, und das letzte Wort sollte wohl Sünde heißen. Dann reimte sie sich viele Geschenke, die ich nicht annehmen kann und nicht aus dem Herzen reißen zusammen. Deutlich jedoch war in der Nähe von St. Christoph lesbar.
Hanna ließ den Brief sinken. Ihre Mutter hatte sich vor der Geburt ihres Kindes in der Gegend um Mayrhofen und St. Christoph im Zillertal aufgehalten. Dort hatte sie eine Bekanntschaft gemacht und eine verbotene Liebesbeziehung mit einem Mann angefangen. Ein Mann, der vermutlich auf Grund dieser Geschenke älter und reicher als sie gewesen sein musste und dem sie völlig verfallen gewesen war.
Und der sie dann, als sie schwanger von ihm geworden war, im Stich gelassen hatte, wahrscheinlich weil es sich um einen verheirateten Mann gehandelt hatte. Oder hatte er nie erfahren, dass ihre Mutter ein Kind von ihm erwartete?
Hanna durchstöberte auch die übrigen Bücher auf dem Regal, doch dieses Teilstück eines Briefes war das einzige schriftliche Zeugnis, was einen gewissen Aufschluss über die Vergangenheit ihrer Mutter gab.
Zwischen den Büchern in der Mitte des Regals war eine Schmuckschatulle eingeklemmt, groß genug, um auch Fotos oder Briefe darin unterzubringen. Die hatte sich Hanna bis zuletzt aufgespart, und ihr Herz klopfte, als sie sie aufklappte. Darin befanden sich ein paar wertlose Schmuckstücke, denen sie weiter keine Beachtung schenkte. Ihre Aufmerksamkeit wurde von einem Umschlag angezogen, der sich darunter befand. Würde sie nun endlich Aufschluss über ihre Herkunft erhalten?
Mit zitternden Händen öffnete sie das Kuvert, und Geldscheine quollen ihr entgegen. Es war eine nicht unbeträchtliche Summe, mit der sie die nächsten Monate überbrücken konnte. Ein Schreiben lag dabei, und sie erkannte die unverwechselbare Schrift ihrer Großmutter. Doch sie richtete keinen liebevollen Abschiedsgruß an ihre Enkelin, sondern nur die Aufforderung, aus ihrem Leben mehr zu machen als ihre Mutter.
Dann hatte ihre Großmutter also doch an sie gedacht. Hanna war davon überzeugt, dass sie dieses Geld im Laufe der Jahre von ihrem kargen Haushaltsgeld abgezweigt hatte. Für einen Augenblick verspürte sie eine Mischung aus Zuneigung und Mitgefühl für diese im Grunde genommen unglückliche Frau, was aber rasch wieder verschwand. Die Erinnerung an ihre Lieblosigkeit ließ sich nicht so schnell verdrängen.
Hanna musste nicht lange überlegen, was sie aus diesem kargen Raum mitnehmen wollte. Sie legte die kostbare Trachtenkleidung, die aus Mayrhofen stammte, sorgfältig zusammen und brachte sie in einer großen Reisetasche unter, die sie mitgebracht hatte. Den übrigen Schrankinhalt verstaute sie in Säcken. Diese Sachen wollte sie als Spende abgeben, ebenso wie die meisten Bücher, von denen sie nur drei an sich nahm.
Als Hanna die verwaschene Unterwäsche aus einem Fach hob, fielen ihr ein paar schöne Spitzenteile dazwischen auf, und eine jähe Rührung übermannte sie. Die hatte ihre Mutter wohl erstanden, um ihrem Liebsten zu gefallen. Für den sie so leidenschaftliche Gefühle empfunden hatte, dass sie sich über alles hinweggesetzt hatte.
Zuletzt legte Hanna das Bild in die Tasche, das Maria Miltner mit ihren Freundinnen zeigte, ein anderes von ihr war in der Wohnung nicht zu finden gewesen. Wahrscheinlich hatten ihre aufgebrachten Großeltern alles vernichtet, was sie an ihre fehlgeleitete einzige Tochter Maria erinnert hatte.
Den Umschlag mit dem Geld und den angefangenen Brief ihrer Mutter steckte Hanna in ihre Handtasche. Plötzlich überfiel sie eine tiefe Erschöpfung. Sie sank auf dem Bett in sich zusammen, und die Erinnerungen an ihre Kindheit überwältigten sie und ließen sie nicht mehr los.
Erst als es schon dunkelte, fand sie wieder zu sich und beeilte sich, die Sachen, die sie mitnehmen wollte, aus dem Haus zu schaffen. Sie hatte sich von einem Bekannten einen Radanhänger geliehen, darauf lud sie nun die Säcke. Dann ging sie noch einmal jeden Raum ab, überzeugte sich, dass die Fenster richtig verschlossen waren und sich alles an seinem Platz befand, sodass sie die Schlüssel guten Gewissens dem Nachlassverwalter überreichen konnte.
Als Hanna die Haustür endgültig hinter sich schloss, war es ihr, als sei auch ein Teil ihres Lebens damit beendet.
***
Dr. Martin Burger sang leise vor sich hin, als er sich auf der Heimfahrt von einem Patientenbesuch befand. Es klang grottenfalsch, was er von sich gab, und seine Sabine würde sich darüber lustig machen, aber das war ihm gleich. Denn er war bester Laune, wie immer, wenn sich ein unerwarteter Heilerfolg zeigte.
Die junge Bäuerin vom Rohrhof war schwer an einer doppelseitigen Lungenentzündung erkrankt gewesen, und das, nachdem sie erst vor Kurzem eine schwierige Entbindung durchgestanden hatte. Sie war so geschwächt gewesen, dass sie der Krankheit nur wenig Widerstand entgegensetzen konnte, und hatte sich geweigert, in ein Krankenhaus gebracht zu werden. Denn sie wollte ihr Neugeborenes auf keinen Fall zurücklassen.
Als die Krankheit zu ihrem Höhepunkt gekommen war, hatte Dr. Burger erbittert um das Leben der jungen Mutter gekämpft, während ihr Mann mit geballten Fäusten weinend an der Tür gestanden hatte.
Das Paar hatte erst vor einem Jahr geheiratet, es war eine Liebesehe gewesen, und die Geburt des Sohnes hatte ihr Glück vollkommen gemacht. Der junge Hofbauer wäre niemals darüber hinweggekommen, seine über alles geliebte Frau zu verlieren.
Dann jedoch hatten die Medikamente überraschend gewirkt, das Fieber war zurückgegangen, und auch das stoßweise Röcheln war einem ruhigeren Atmen gewichen. Nun begann sich die junge Bäuerin langsam, aber stetig zu erholen, und die Dankesbezeugungen ihres Mannes wollten kein Ende mehr nehmen.
„Sie haben net nur mein Annerl, sondern auch mein Leben gerettet, Herr Doktor“, wiederholte er immer wieder. Dr. Burger musste sich beherrschen, um sich nicht anmerken zu lassen, wie schmerzhaft der Griff der Pranken des Bauern vom Rohrhof war.
Heute nun hatte er befriedigt festgestellt, dass Annerl zwar noch sehr geschwächt, aber vollständig von ihrer schweren Krankheit genesen war. In dieser zarten jungen Frau verbarg sich mehr Kraft und Überlebenswillen, als er ihr zugetraut hätte. Das versetzte ihn in eine beinahe übermütige Stimmung, die noch von dem Abendfrieden erhöht wurde, der über der herrlichen Berglandschaft lag.
Eine Gebirgskette von sechs Bergen begrenzte das Hochtal, in dem St. Christoph lag, und die Abendsonne ließ den Gletscher des Feldkopfs rot erglühen. Die Almwiesen in leuchtendem Frühlingsgrün waren vom blühenden Almrausch rot gesprenkelt, dunkel hob sich dagegen der Bergwald ab.