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Die Zerreißprobe
Werden sie am Schicksal zerbrechen?
Von Andreas Kufsteiner
Erst vor wenigen Wochen ist Johannes Trappa mit seinem Sohn Nathan nach St. Christoph gezogen. Wie alt mag der kleine, auffallend zarte Junge sein? Fünf vielleicht? Oder sechs?
Doch dann berichtet Tessa Burger beim Mittagessen aufgeregt, dass Nathan genauso alt ist wie sie. Also schon acht!
Und sie weiß noch etwas über den neuen Klassenkameraden zu erzählen, etwas, das bei Dr. Burger alle Alarmglocken schrillen lässt ...
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Seitenzahl: 114
Veröffentlichungsjahr: 2019
Cover
Impressum
Die Zerreißprobe
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Bastei Verlag / Anne von Sarosdy
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 9-783-7325-9042-1
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Die Zerreißprobe
Werden sie am Schicksal zerbrechen?
Von Andreas Kufsteiner
Erst vor wenigen Wochen ist Johannes Trappa mit seinem Sohn Nathan nach St. Christoph gezogen. Wie alt mag der kleine, auffallend zarte Junge sein? Fünf vielleicht? Oder sechs?
Doch dann berichtet Tessa Burger beim Mittagessen aufgeregt, dass Nathan genauso alt ist wie sie. Also schon acht!
Und sie weiß noch etwas über den neuen Klassenkameraden zu erzählen, etwas, das bei Dr. Burger alle Alarmglocken schrillen lässt …
Über Nacht war Schnee gefallen. Ein feiner, rieselnder Schnee, der sich wie eine Schicht aus Puderzucker über das Dorf gelegt hatte.
Doch inzwischen waren die Wolken verschwunden. Die Morgensonne schien von einem blank geputzten Himmel und ließ die Zuckerschicht glitzern und funkeln wie einen kostbaren Schatz.
Dr. Martin Burger stand am Schlafzimmerfenster. Während er das Hemd zuknöpfte, glitt sein Blick über St. Christoph. Vom Kirchturm über sanft geschwungene Hügel und die Baumwipfel hinauf zum Hexenstein, Frauenhorn und Rautenstein, um nur ein paar der Gipfel zu nennen, die die Bewohner vor allzu rauen Wetterspielen beschützten. Ein richtiges Postkartenmotiv war das!
Kein Wunder, dass sich diese Umgebung großer Beliebtheit erfreute. Nicht nur bei den Anwohnern von St. Christoph, sondern auch bei den Urlaubern, die sich inzwischen zu jeder Jahreszeit im Berghotel „Am Sonnenhang“ einfanden.
Geführt wurde das Gästehaus von Andi Kastler und seiner Frau Heidi. Im Berghotel konnten die Urlauber Hektik und Stress des Alltags vergessen und sich nach Lust und Laune verwöhnen lassen.
Doch nicht alle Besucher schätzten die Gesellschaft Gleichgesinnter, sondern manche suchten die Stille der Natur und eine passende private Unterkunft, um vollkommen einzutauchen in das Dorfleben von St. Christoph.
Darüber hatte Martin Burger tags zuvor mit Fanny Wimmer gesprochen. Seit dem Tod ihres Mannes lebte die Mittsechzigerin allein in ihrem Bauernhaus am Dorfrand. Ein schmuckes Haus mit Sprossenfenstern und heller Fassade, an der sich im Sommer die Rosen emporrankten und die Geranien in Rot, Rosa und Weiß vom Balkon herunter grüßten. Zum Grundstück gehörten ein Bauerngarten wie aus einer Gartenzeitschrift und eine große Streuobstwiese. Kurzum: ein wahres Paradies.
„Und viel zu groß für eine alleinstehende Frau“, hatte Fanny dem Arzt tags zuvor in der Sprechstunde ihren Kummer geklagt. „Ich komm mir ja vor wie in einem Mausoleum.“
„Was redest du denn da, Fanny? Du bist im besten Alter und demnächst toben Enkel durch Haus und Garten.“ Dr. Burger hatte das Blutdruckmessgerät weggelegt und seiner Patientin ein neues Rezept für ihre Tabletten aufgeschrieben.
„Das sagen Sie mal meinem Valentin, Herr Doktor. Der hat nur seine Schreinerei im Kopf. Er muss sich erst was aufbauen, damit er einer Frau was bieten kann. Das sagt er immer.“ Fanny schüttelte so heftig den Kopf, dass Dr. Burger Angst um das Haarnest auf ihrem Kopf hatte. „Und die Babsi ist ja in Innsbruck kräftig am Studieren.“ Ihr Seufzen schien aus den Tiefen einer Bergschlucht zu kommen. „Nein, nein, die Schaukel im Garten wird noch länger nur dann quietschen, wenn der Wind weht.“
Diese Worte gingen Martin Burger durch den Kopf, als ein Sonnenstrahl auf das Bett hinter ihm fiel.
Sabine blinzelte ins Licht. Ein Ruck, und ihr Kopf verschwand unter der Bettdecke. Gab es etwas Schlimmeres, als zu nachtschlafender Zeit von grellem Sonnenlicht geweckt zu werden?
„Was gibt’s denn da draußen so Spannendes zu sehen?“ Ihre Stimme klang dumpf unter der Bettdecke. „Doch net die hübsche Frau, die sich gestern beim Skifahren angeblich den Knöchel verstaucht hat? Als sie aus der Praxis kam, hat sie gar net mehr gehumpelt.“
Sabine tauchte wieder auf. Mit hochrotem Kopf, der nicht nur der Hitze unter der Decke geschuldet war. Was redete sie da nur? Sie hatte sich doch vorgenommen, nicht mehr eifersüchtig zu sein! Die morgendliche schlechte Laune brachte sie noch in Teufels Küche.
Martin trat ans Bett, setzte sich auf die Kante und strich seiner Frau eine zerzauste Strähne aus dem Gesicht.
„Meine Behandlung hat halt Wirkung gezeigt, wie das nach einem Arztbesuch sein sollte.“
„Aber so schnell?“
Martin lachte. „Eifersüchtig, Binchen?“, neckte er sie.
„Ach, woher denn!“ Sabine ärgerte sich noch mehr über sich selbst. Kannte sie ihren Mann doch so gut wie kein anderer Mensch unter Gottes Sonne und wusste, dass er gegen alle Versuchungen immun war, die die Frauenwelt bot.
Selbst ihrem ärgsten Feind wünschte Sabine nicht, was ihr Martin durchgemacht hatte. Schon früh aufgewachsen ohne Mutter, musste er seine erste Ehefrau und sein erstes Kind kurz nach der Geburt zu Grabe tragen. Er, der stolze Baum, war im Sturm der Trauer fast zerbrochen. Hatte die Flucht ergriffen, um jahrelang nur noch für seinen Beruf zu leben.
Frauen hatten ihn in dieser Zeit nicht interessiert, keine hatte es vermocht, sein Herz zu berühren. Bis die Anästhesistin Sabine Rodenwald in sein Leben getreten war. Sie allein hatte es vermocht, die Mauer aus Eis zum Schmelzen und sein Herz zum Glühen zu bringen. Bis auf den heutigen Tag.
„Dann ist es ja gut“, meinte Martin Burger. „Es hatte nur ganz kurz den Anschein, als ob du …“
„Scht!“, fiel sie ihm ins Wort. „Ich weiß eben, dass ich einen ganz tollen Mann habe. Deshalb pass ich ja so gut auf dich auf“, fügte sie sanfter hinzu.
Lächelnd blickte Martin auf seine Sabine hinab. Sah ihr tief in die Augen. Ihre Blicke tauchten ineinander ein, wurden dunkel. Plötzlich war da kein Lachen mehr. Kein Scherzen.
„Das ist auch gut so“, sagte er rau und drückte seine Lippen auf ihren Mund. Küsste sie, dass sie froh war, im Bett zu liegen. Sonst hätte sie den Boden unter den Füßen verloren. „Schade, dass es schon so spät ist“, meinte er nach einem Blick auf den Wecker.
Sabine erhob sich nun auch und schüttelte die Kissen auf.
„Woran hast du denn nun eben eigentlich gedacht, Liebling?“
„An die Fanny Wimmer. Sie war gestern bei mir in der Praxis. Obwohl sie ihre Medikamente regelmäßig nimmt, ist ihr Blutdruck viel zu hoch.“
„Glaubst du, es steckt eine schlimme Krankheit dahinter?“
Martin schüttelte den Kopf.
„Das Alleinsein in dem großen Haus tut ihr net gut. Die Medizin weiß ja schon lange, dass die seelische Verfassung Auswirkungen auf den Blutdruck hat.“
Sabine wusste genau, was ihr Mann meinte.
„Das bekommen wir ja auch im Alltag immer wieder zu spüren. Wenn wir uns ärgern, wird uns heiß. Wir schwitzen und haben Herzklopfen.“
„Gefühle haben viel mehr Macht über uns, als wir glauben. Innerhalb von Sekunden verändern sie unsere Herz-Kreislauf-Regulation. Das macht sich als Blutdruck- und Pulsanstieg bemerkbar.“
„Und was willst du dagegen tun?“ Ohne es zu bemerken, fuhr Sabine über Martins Arm. Sie liebte es, ihn zu berühren. Zu spüren, wie sich die feinen Härchen unter ihren Fingern sträubten.
„Ich habe Fanny vorgeschlagen, Zimmer an Feriengäste zu vergeben.“
„Eine gute Idee!“ Plötzlich wurde Sabine ganz aufgeregt. „Meinst du, die Fanny würde auch an eine Familie vermieten? Der Bürgermeister hat mich gestern gefragt, ob ich was wüsste. Der Machan-Franz aus Schwaz sucht ein Haus für einen Mitarbeiter aus Berlin.“
Martins Augen leuchteten auf.
„Das wäre der Fanny bestimmt noch lieber. Ich werd sie gleich nachher fragen.“
***
„Ich denke ja gar nicht daran, Jo!“ Immer, wenn sich Regine Trappa ärgerte, wurden ihre Augen so blau wie ein Gletscher. „Auf keinen Fall gehe ich mit dir in dieses Kaff.“
„Schwaz ist kein Kaff, sondern eine Bezirkshauptstadt mit über dreizehntausend Einwohnern, eingebettet in eine idyllische Berglandschaft.“ Johannes Trappa steckte die Hände in die Hosentaschen.
Das Parkett knarrte unter seinen Füßen, als er ans Fenster trat und hinabblickte auf Autokolonnen, die sich wie Riesenwürmer die Straßen entlang wanden. Die wenigen Bäume, die ihre dürren Äste in den Winterhimmel reckten, wirkten genauso frustriert wie die Menschen, die mit verkniffenen Gesichtern an ihnen vorbeihasteten.
„In Schwaz sind wir mitten in ursprünglicher Natur. Hast du dir das Zillertal schon einmal im Internet angesehen? Dieses einzigartige Panorama! Die intakte Natur! Die gute Bergluft!“
„Ich wusste nicht, dass man das Internet riechen kann“, spottete Regine und schenkte sich Wein nach. Sie trank einen großen Schluck.
Johannes fuhr herum.
„Du weißt genau, was ich meine. Wenn du nicht so viel trinken würdest, wären deine Sinne nicht vernebelt.“
„Keine Sorge. Ich konnte nie klarer denken. Deshalb noch einmal langsam und zum Mitschreiben: Ich komme nicht mit! Nicht heute, nicht morgen und auch nicht an einem anderen Tag.“
Langsam sickerte die Bedeutung ihrer Worte in Johannes‘ Bewusstsein. Es war Regine also tatsächlich ernst. Ganz egal, welches Argument er in den vergangenen Tagen vorgebracht hatte.
Dabei hatte er sich so gefreut, als sein Chef ihm die Stelle im Hauptsitz der Firma in Schwaz angeboten hatte. Endlich hatte der Himmel seine Gebete erhört. Hatte ihm einen Sechser im Lotto mit Zusatzzahl geschickt, der in erster Linie seinem achtjährigen Sohn Nathan zugutekommen sollte. Und jetzt spielte ausgerechnet die Person nicht mit, der das Kind besonders am Herzen liegen sollte.
Als Johannes so dastand und sie anstarrte – ungläubig, fassungslos – wäre Regine um ein Haar weich geworden. Doch sie hatte sich vorgenommen, hart zu bleiben. Wenigstens dieses eine Mal. Zu oft hatte sie sich schon den Wünschen ihres Ehemannes gefügt.
„Du kannst nichts dafür, dass es nicht geklappt hat zwischen uns“, meinte sie jetzt und streckte die Hand aus.
Er zog den Arm weg. Ihre Hand fiel ins Leere.
„Ach ja?“ Seine Stimme war spitz. Ein Glück, dass die Wände und Türen der Wohnung massiv waren. So bekam Nathan in seinem Zimmer nichts mit von dem Streit. Er hatte auch so schon Kummer genug. „Wessen Schuld ist es denn?“
Wieder nippte Regine am Glas.
„Wie oft muss ich dir noch sagen, dass ich mich neben dir wie in einem Gefängnis fühle? Besonders, seit dieses Kind auf der Welt ist. Dabei wollte ich nie Ehefrau und schon gar nicht Mutter werden.“
„Und du hast trotzdem Ja gesagt, als ich dich gefragt habe.“
„Nicht umsonst hat der griechische Philosoph Platon die Liebe mit einer Geisteskrankheit verglichen, noch dazu mit einer schweren.“ Regines Lachen jagte Johannes einen Schauer über den Rücken. Schnell wurde sie wieder ernst. „Aber jetzt ist Schluss damit. Meinetwegen kannst du gerne in dieses Bergkaff ziehen. Ich werde hier ein neues Leben anfangen. Allein und frei.“
Johannes schnappte nach Luft.
„Ich soll Nathan mitnehmen? Wie stellst du dir das vor? Ausgerechnet jetzt, wo es ihm so schlecht geht.“
„Erstens geht es ihm immer schlecht. Und zweitens bist du derjenige, den der Junge vergöttert. Und Adelina. Für mich hat sich Nathan doch noch nie interessiert.“ Das Glas in ihrer Hand zitterte, als Regine es erneut an die Lippen führte. Doch es war leer.
Obwohl Johannes ihren Alkoholkonsum mit Sorge beobachtete, vergaß er seine guten Manieren nicht und schenkte ihr nach. Doch es ging um mehr als nur um schlechte Angewohnheiten, die man mit entsprechendem Willen ablegen konnte wie schmutzige Kleider. Es ging um sein Leben, seine Liebe.
Die Jahre, seit er Regine hier in Berlin kennen und lieben gelernt hatte, waren die schönsten seines bisherigen Lebens gewesen. Sie war ein Magnet mit zwei Polen. Regine zog ihn an oder stieß ihn ab. Dazwischen gab es nichts.
Dieses Wechselbad der Gefühle war anstrengend und reizvoll zugleich. Wie Wirbelstürme fegten die Auseinandersetzungen über das Paar hinweg und hinterließen ein Meer der Zerstörung. Doch die leidenschaftlichen Versöhnungen waren jeden Streit wert und ketteten Johannes nur noch enger an diese Frau.
Dass Regine anders empfand, es ihr mit ihren Worten ernst war, erfasste er erst in diesem Moment.
Wie hatte er sich nur so täuschen können? Sie hatte doch alle Freiheiten gehabt, eine Reinigungshilfe für die Vier-Zimmer-Wohnung mitten in Berlin und ein kosovarisches Kindermädchen, das sich rührend um Nathan kümmerte.
Natürlich war Johannes nicht entgangen, dass sich seine Frau nur zu gerne und immer öfter vor der Verantwortung drückte und Nathan dem Kindermädchen Adelina überließ. Doch er hatte sich eingeredet, dass sich die mütterlichen Gefühle früher oder später doch noch einstellen würden.
Die Erkenntnis, das er sich getäuscht hatte, traf ihn wie ein Peitschenschlag. Johannes schlug die Hände vors Gesicht, fuhr sich über die Stirn, rieb die Augen. Wie hatte es nur so weit kommen können?
Er wusste nicht, wie lange er so dagestanden war. Als er wieder aus den Tiefen seiner Verzweiflung auftauchte, war Regine verschwunden.
Stattdessen stand Nathan vor ihm und blickte zu seinem Vater hinauf aus diesen Augen, viel zu groß und dunkel für das schmale, blasse Gesicht.
Ich kann verstehen, dass Regine ihn nicht lieben kann! Augenblicklich schämte sich Johannes für diesen Gedanken. Schließlich konnte Nathan nichts für seinen Zustand, die Muskel- und Kopfschmerzen, die Müdigkeit, die Angst und ständige Anspannung, die ihn schon als Baby ganze Nächte durchweinen ließ.
Mehrmals war Regine mit dem Kleinen beim Kinderarzt gewesen. Ohne Ergebnis. So war den Eltern nichts anderes übrig geblieben, als sich mit dem Zustand ihres Sohnes zu arrangieren.
„Habt ihr euch wieder gestritten?“, fragte Nathan in die Gedanken seines Vaters hinein.
Zwecklos zu leugnen. So zart Nathans Körper war, so wach und stark war sein Geist. Es gab nichts, das man vor ihm verbergen konnte.
„Ja, leider.“ Johannes ging auf die Knie. Augenhöhe war ihm wichtig.
„Mama will nicht mit nach Österreich, nicht wahr?“
Manchmal war ihm dieses Kind fast unheimlich.
„Nein.“
Wenn möglich, wurden Nathans Augen noch dunkler.
„Muss ich mit ihr hierbleiben?“
Ein Stich fuhr Johannes ins Herz. Er schloss seinen Sohn in die Arme und drückte ihn an sich, sanft, um nur ja nichts zu zerbrechen.
„Willst du nicht mit Mama zusammen sein?“
„Sie kann mich doch eh nicht brauchen.“
Johannes wusste nicht, über was er mehr erschrak: Über Nathans Tonfall oder seine Worte.