Der Bergdoktor 2009 - Andreas Kufsteiner - E-Book

Der Bergdoktor 2009 E-Book

Andreas Kufsteiner

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Beschreibung

Zum zweiten Mal belogen

Mit diesem Verrat kann Anni nicht leben


Nein, ich hatte nichts mit der Kathi. Drei Jahre ist es jetzt her, dass ihr Mann Anni geschworen hat, keine Affäre mit der attraktiven Urlauberin gehabt zu haben. Ihre leisen Zweifel konnte er nie ganz ausräumen, aber inzwischen haben sie sich ein harmonisches Leben aufgebaut. Und seit sie wissen, dass ein Baby unterwegs ist, strahlt die Zukunft in den sonnigsten Farben.
Noch ahnen sie nicht, dass bereits dunkle Wolken an ihrem Schicksalshimmel aufziehen. Das Drama beginnt, als Kathi ins Zillertal zurückkehrt ...

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Seitenzahl: 129

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhalt

Cover

Impressum

Zum zweiten Mal belogen

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Michael Wolf

eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 9-783-7325-9163-3

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Zum zweiten Mal belogen

Mit diesem Verrat kann Anni nicht leben

Von Andreas Kufsteiner

Nein, ich hatte nichts mit der Kathi. Drei Jahre ist es jetzt her, dass ihr Mann Anni geschworen hat, keine Affäre mit der attraktiven Urlauberin gehabt zu haben. Ihre leisen Zweifel konnte er nie ganz ausräumen, aber inzwischen haben sie sich ein harmonisches Leben aufgebaut. Und seit sie wissen, dass ein Baby unterwegs ist, strahlt die Zukunft in den sonnigsten Farben.

Noch ahnen sie nicht, dass bereits dunkle Wolken an ihrem Schicksalshimmel aufziehen. Das Drama beginnt, als Kathi ins Zillertal zurückkehrt …

„Endstation! Alles aussteigen!“ Schnaufend und ruckelnd fuhr die Zillertalbahn im Bahnhof von Mayrhofen ein. Zischend stieg Dampf aus der Lokomotive auf. Der Wind wehte ihn über den Bahnsteig und um die Aussteigenden herum wie Nebel.

Hedwig kletterte die drei metallenen Stufen nach unten und stellte ihren Koffer neben sich ab. Ihren Hut mit einer Hand festhaltend, sah sie sich suchend um.

Die übrigen Mitreisenden drängten sich an ihr vorüber.

Wo Albert nur blieb?

Sie schaute sich beinahe die Augen aus, aber von ihrem Bruder war keine Spur zu sehen. Seltsam war das. Albert wollte sie doch vom Bahnhof abholen. Das hatte er ihr angeboten. Und sie hatte ihm ihre Ankunftszeit extra am vergangenen Abend telefonisch noch einmal durchgesagt. Ihr Zug hatte allerdings eine Viertelstunde Verspätung.

Ob Albert schon wieder gefahren war?

Hedwig trat unsicher von einem Fuß auf den anderen.

Vor der Trafik standen zwei Drehregale. Auf dem einen wurden bunte Postkarten mit Ansichten des Zillertals angeboten, auf dem anderen wartete ein buntes Angebot an Zeitungen. Die Krone-Zeitung warb mit einem Sonderangebot für Handys. Unwillkürlich schüttelte Hedwig den Kopf.

Ob diese Geräte eine Zukunft hatten? Sie waren doch viel zu teuer. Und warum sollte jemand ständig erreichbar sein wollen? Dann hatte man ja gar keine Freiheit mehr, musste ständig damit rechnen, dass es in der Tasche klingelte. Nein, danach verspürte sie kein Verlangen.

Nach und nach leerte sich der Bahnsteig. Ihr Bruder würde wohl nicht mehr kommen. Vielleicht war er daheim aufgehalten worden. Etwas konnte ja immer mal dazwischenkommen. Es hatte wohl keinen Zweck, noch länger hier zu warten. Hedwig beschloss, die letzten Kilometer mit dem Linienbus zurückzulegen. Sie nahm ihren Koffer wieder auf und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle.

Der Bus fuhr dreimal am Tag von Mayrhofen nach St. Christoph. Die Station war nur einen Steinwurf vom Bahnhof entfernt, und das war ein Glück, denn als Hedwig sie ansteuerte, wollte der Fahrer gerade los.

„Warten Sie, bitte!“ Hedwig winkte lebhaft, um sich bemerkbar zu machen, und eilte zur Haltestelle hinüber.

„Gemach, gemach“, begütigte der Fahrer. „Lassen Sie sich nur Zeit, junge Frau. Wir sind schließlich net auf der Flucht. Oder etwa doch?“ Er sah sie prüfend an.

„Nein, das net.“

„Das wollte ich hören.“ Er zwinkerte ihr zu und gab ihr Wechselgeld heraus, als sie ihren Fahrschein bezahlte.

Hedwig wollte ihren Koffer in das Gepäcknetz wuchten, aber ein anderer Fahrgast kam ihr zuvor. Ein hochgewachsener Mann mit dunklen Haaren und freundlichen Augen war es.

„Lassen Sie mich das machen.“ Er hob ihr Gepäck über den Sitz hinter dem Fahrer und nickte ihr zu.

„Recht vielen Dank.“ Hedwig sank aufatmend auf ihren Platz nieder.

„Gern geschehen. Sie sind auch mit der Zillertalbahn angekommen, nicht wahr?“

„Ja, stimmt.“

„So ein Ärger, dass wir eine Verspätung hatten.“

„Mei, seien Sie froh, dass wir den Zug überhaupt haben“, warf der Fahrer über seine Schulter ein. „Früher wurden die Reisenden mit dem Pferdegespann nach Mayrhofen gebracht. Dreimal täglich war eines unterwegs, aber net etwa am Stück, nein, die Fahrgäste mussten in Zell Zwischenstation machen und dort übernachten.“

„Sagen Sie bloß?!“

„Freilich. Im Jahr achtzehnhundertdreiunddreißig wurde beschlossen, dass eine Bahn hermuss, aber bis zur ersten Fahrt dauerte es noch bis zum zwanzigsten Dezember neunzehnhundert. Und dann ging es erst einmal nur bis Fügen. Bis die komplette Strecke fertig war, sollten noch ein paar Jährchen vergehen.“ Mit diesen Informationen schloss der Fahrer die Türen des Busses und gab Gas.

Wenig später fuhren sie eine Landstraße entlang, die in steilen Serpentinen höher und höher hinaufführte.

„Mit Zwischenübernachtung für eine Fahrt nach Mayrhofen?“ Hedwigs Gegenüber schüttelte merklich den Kopf. „Was das für eine Zeit gekostet haben muss. Heute wäre das unvorstellbar.“

„Das stimmt, aber dafür konnte man die wunderbare Aussicht in aller Ruhe genießen. Das war bestimmt sehr schön.“ Sie deutete aus dem Fenster auf die schroffen Berggipfel, die hoch in den sommerlich blauen Himmel ragten.

„Das ist freilich auch wieder wahr.“

„Verbringen Sie auch die Ferien in St. Christoph?“

„Nein, ich lebe dort. Pankraz Burger ist mein Name, ich bin der Dorfarzt.“

„Es freut mich, Sie kennenzulernen. Mein Bruder hat mir schon von Ihnen erzählt. Er ist Ihnen unendlich dankbar, weil Sie seine Tochter im tiefsten Winter gesund und munter auf die Welt geholt haben. Mitten in einem Schneesturm.“

„Im Schneesturm?“ Der Landarzt strich sich über den Bart. „Dann muss der Albert Hartl Ihr Bruder sein.“

„Ja, genau. Ich bin die Hedwig Hartl.“

„Und Sie wollen Ihre Familie besuchen? Mei, da werden Sie eine schöne Freude haben.“

„Das hoffe ich. Und auf ein paar erholsame Urlaubstage.“

„Sie sind Lehrerin, hat mir der Albert erzählt. In Salzburg?“

„Stimmt. Ich lebe gern dort, aber hin und wieder brauche ich die Weite des Himmels über mir. Was habe ich die Berge vermisst!“ Hedwig stieß den Atem aus. In den nächsten Tagen wollte sie ausschlafen, wandern und Zeit mit ihrer Familie verbringen. Darauf freute sie sich sehr.

„Ich war heute bei meinem Sohn zu Besuch“, berichtete der Arzt. „Martin studiert Medizin. Sein Herz schlägt für die Chirurgie, aber ich hoffe, er entscheidet sich eines Tages, mein Nachfolger in der Praxis zu werden.“

„So weit ist es aber sicherlich noch lange net, oder?“

„Mei, man wird net jünger, und ein bisserl genießen würde ich meinen Ruhestand später schon gern.“ Pankraz Burger rieb sich bedächtig das Kinn.

Sie verfielen in ein angenehmes Schweigen.

Hedwig sog die wunderbare Aussicht auf die Hänge, die grünen Almen und schroffen Gipfel in sich auf und spürte, wie die Anstrengungen der vergangenen Schulwochen von ihr abfielen. Noch schöner wäre es gewesen, mit ihrem Mann zu reisen, aber er war vor drei Jahren ganz überraschend an einem Schlaganfall gestorben. Sie hatten sich immer Kinder gewünscht, aber keine bekommen können. So stand sie nun allein.

Die Fahrt dauerte rund zwanzig Minuten, dann tauchte vor ihnen ein hübsches Bergdorf mit einer weißen Kirche mit Zwiebelturm auf. Der Bus hielt an der Station in der Nähe des Marktplatzes an. Pankraz Burger half Hedwig mit ihrem Koffer und stellte ihn draußen ab.

„Werden Sie abgeholt, Hedwig?“

„Ich fürchte, nein.“

„Dann werde ich Ihnen den Koffer rasch zum Haus Ihres Bruders tragen.“

„Mei, das müssen Sie net tun.“

„Ich kann Sie das schwere Gepäck doch net die steile Straße hinauftragen lassen. Schon gar net bei dieser Hitze.“ Er lächelte sie freundlich an, dann begleitete er sie mit ihrem Koffer in der Hand die Dorfstraße hinauf.

Ihr Bruder wohnte mit seiner Familie in einem gemütlichen Alpenhaus in Hohenluft. Im Dorf wurde dieser Teil liebevoll Künstlerviertel genannt, weil sich hier etliche Maler und Schriftsteller angesiedelt hatten. Ihr Bruder zählte auch zu ihnen. Albert malte Porträts und hatte sich damit einen guten Namen gemacht. Ein Aufsteller wies schon am Anfang der Straße auf sein Atelier hin.

Hedwig lief unwillkürlich schneller. Fast ein halbes Jahr hatte sie ihre Familie nicht gesehen, und sie konnte es kaum erwarten, ihre Lieben wieder um sich zu haben. Anrufe und Briefe konnten eine Begegnung eben nicht ersetzen.

Als sie näher kamen, wurde das Weinen eines kleinen Kindes im Haus lauter.

„Mei, die Anni scheint Kummer zu haben“, stellte Pankraz Burger fest.

Als sie sich dem Gartentor näherten, stromerte ihnen Frieda entgegen. Die braune Labrador-Hündin war seit einer Operation beinahe taub, wedelte jedoch freundlich und stupste sie zur Begrüßung mit der Nase an, als wollte sie sagen: Einmal streicheln, bitte.

Sie enttäuschten sie nicht.

Hedwig blieb vor der Haustür stehen und wandte sich ihrem Begleiter zu.

„Haben Sie vielen Dank für Ihre Hilfe.“

„Hab ich gern gemacht. Klingeln Sie ruhig. Ich werde noch rasch grüß Gott sagen, ehe ich heimgehe.“ Er stellte ihren Koffer ab.

Hedwig presste den Daumen auf die Türklingel, aber im Haus tat sich nichts.

„Die Klingel scheint kaputt zu sein“, murmelte sie.

Drinnen weinte ihre Nichte noch immer bitterlich. Ansonsten war nichts zu hören. Warum tröstete denn niemand die Kleine?

Eine seltsame Unruhe erfasste Hedwig und ließ ihren Magen flattern.

Sie klopfte an die Haustür, aber niemand kam, um ihnen zu öffnen.

„Wir können um das Haus herumgehen und es an der Hintertür versuchen“, schlug sie vor. „Vielleicht sind Albert und Gabi im Garten und hören uns deshalb net.“

„Probieren wir es“, willigte Dr. Burger ein und lief neben ihr um das Haus herum.

Hier stand tatsächlich die Glastür offen, die vom Garten ins Haus führte.

„Hallo? Ist jemand daheim?“ Sie traten ein und gelangten in eine behagliche Stube. Hier klammerte sich die kleine Anni an die Gitter ihres Laufstalls. Ihr Gesicht war hochrot, und Tränen kullerten über ihre Wangen und tropften von ihrem Kinn. Sie war noch keine zwei Jahre alt und hatte dunkle Löckchen, die zu zwei süßen Rattenschwänzen gebunden waren.

„Ja mei, Spatzerl.“ Hedwig hob ihre Nichte aus dem Laufstall und wiegte sie tröstend. Anni schlang die Ärmchen um sie und schmiegte sich vertrauensvoll an sie. Ihre Tränen ließen allmählich nach. „Wo sind denn deine Eltern?“

Anni schniefte leise. Hedwig blickte zu Pankraz Burger hoch.

„Irgendetwas stimmt hier net“, sagte sie angespannt. „Mein Bruder und seine Frau würden Anni net einfach allein lassen.“

Er nickte bedächtig.

„Hallo? Hier sind Hedwig und Pankraz Burger. Ist jemand daheim?“, rief er und hob den Kopf, aber es kam keine Antwort. „Schauen wir uns im Haus um?“

„Das ist eine gute Idee.“ Hedwig behielt ihre Nichte auf dem Arm, während sie die Treppe nach oben stiegen und sich suchend umschauten. Das Haus war aufgeräumt und sauber und wirkte, als wären seine Bewohner nur rasch zum Briefkasten gegangen. Im Schlafzimmer waren die Betten ordentlich gemacht. Das Fenster stand einen Spalt weit offen.

Aber wo waren Annis Eltern?

„Hier heroben jedenfalls net“, murmelte Pankraz Burger und stieg mit Hedwig wieder nach unten. Sie suchten in der Küche und fanden die Tür, die in den Keller führte, offen. Kein Licht brannte, aber durch die Kellerfenster drang genug Sonnenlicht, um die unterste Etage des Hauses zu erhellen.

Sie wechselten einen Blick. Das mulmige Gefühl in Hedwigs Magen verstärkte sich.

„Wir kommen jetzt runter!“, rief der Arzt und machte sich daran, die Kellertreppe nach unten zu steigen. Hedwig wollte ihm gerade folgen, als sie ihn entsetzt den Atem ausstoßen hörte. „Jessas, Maria und Josef, bleiben Sie oben, Hedwig!“

„Wieso? Was ist denn los?“

„Das hier sollten Sie lieber net sehen.“

„Was? Was ist passiert?“ Hedwig erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder, so kratzig klang sie. Sie presste Anni schützend an sich und stieg einige Stufen nach unten.

Zuerst fiel ihr der Geruch auf. Feucht und unangenehm. Dann bemerkte sie, dass der gesamte Kellerboden überschwemmt war. Pankraz Burger war noch nicht ganz nach unten gestiegen, sondern verharrte auf der vorletzten Stufe. Er war fahl im Gesicht, und das hatte auch seinen Grund.

Zwei Menschen lagen hier herunten. Beide wiesen Verbrennungen auf und regten sich nicht. Verkrümmt lagen sie da, sodass ihre Gesichter nicht zu sehen waren.

„Albert!“ Hedwig wollte zu ihrem Bruder stürmen, aber der Arzt hielt sie zurück.

„Net! Wir wissen net, ob hier net noch alles unter Strom steht.“

„Strom?“ Verwirrt blinzelte sie, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Das hier, das ging weit über alles hinaus, was sie sich an Schrecklichem hätte ausmalen können.

„Schauen Sie nur. Die Waschmaschine scheint ausgelaufen zu sein. Und sie ist aufgeschraubt. Ich nehme an, Ihr Bruder wollte sie reparieren, hat dabei jedoch einen Stromschlag erlitten. Ebenso wie seine Frau, die wohl bei ihm war. Das Wasser hat den Strom zu ihnen geleitet.“

„Sind sie … sie sind net … oder etwa doch?“ Hedwig zitterte mit einem Mal am ganzen Leib. Instinktiv drückte sie ihre Nichte an ihre Brust, damit Anni ihre Eltern nicht so sehen musste. Ihr Blut war mit einem Mal kalt wie Eis.

„Gehen Sie nach oben und rufen Sie den Rettungsdienst an“, bat Dr. Burger. „Ich werde schauen, ob ich den beiden noch helfen kann.“

„Aber … Albert? Na …“ Tränen ließen ihre Sicht verschwimmen. Wie gelähmt vor Entsetzen stand sie da.

Anni begann wieder zu weinen.

„Shh“, murmelte Hedwig und wiegte sie. „Du bist net allein. Ich werde mich um dich kümmern. Das verspreche ich dir.“

***

25 Jahre später

Net zu viel. Bloß net zu viel nehmen …

Anni tupfte noch einen Hauch Rot in ihre Farbe und erhielt genau den hellen Braunton, der ihr vorgeschwebt hatte. Schwungvoll führte sie ihren Pinsel über das Papier und malte die Umrisse der Sphinx nach.

Ihre Zungenspitze ragte zwischen ihren Lippen hervor, als sie mit dem Pinsel tupfte und strich. Wenn sie malte, versank sie völlig in ihrer Arbeit. So sah es in ihrem Atelier meistens ein wenig chaotisch aus, aber das täuschte. Alles lag an seinem Platz. Anni hätte ihre Pinsel und Farben mit geschlossenen Augen wiedergefunden.

Sie strich sich eine widerspenstige braune Haarsträhne aus der Stirn und beugte sich tiefer über ihr Bild, um der Sphinx mit einem dunkleren Farbton Tiefe zu geben.

Die Illustration war für ein Kinderbuch gedacht. In der Geschichte ging eine kleine Schildkröte auf eine große Reise. Ein Auftrag so recht nach Annis Geschmack. Sie liebte es, ihre Fantasie bei der Arbeit auf Reisen zu schicken, und sie investierte ihr Herzblut in jedes Bild.

Das Zeichentalent hatte sie von ihrem Vater geerbt. Die Begeisterung für Bücher von ihrer Mutter. So war ihr Beruf Buchillustratorin entstanden, und Anni war überglücklich, dass sie sich ein gutes Auskommen erarbeitet hatte.

Mit ihren siebenundzwanzig Jahren wusste sie genau, was sie wollte und konnte.

Ihr Elternhaus war nach dem tragischen Tod ihrer Eltern renoviert und mit einer neuen Elektrik versehen worden, damit sich ein solches Unglück nie wiederholen konnte.

Zwanzig Jahre lang war das Haus verpachtet gewesen. Dann waren die Mieter in die Stadt gezogen, und Anni und ihr frisch angetrauter Ehemann hatten entschieden, das Haus zu renovieren und zu ihrem Zuhause zu machen.

Anfangs war sie unsicher gewesen, ob das die richtige Entscheidung gewesen war oder ob die Schrecken der Vergangenheit sie verfolgen würden. Tatsächlich war es jedoch so, dass sie sich hier geborgen und beschützt fühlten. Als würde der Segen ihrer Eltern auf ihnen ruhen.

Anni liebte die Berge und wohnte gern hier. Hin und wieder vermisste sie ihre zweite Heimat Salzburg und mehr noch ihre Tante, aber sie war glücklich hier. Und Tante Hedwig konnte sie jederzeit besuchen, zumindest, wenn sie nicht gerade unterwegs war.

Ihre Tante war mit den Jahren immer reiselustiger geworden. Sie brachte Anni von jeder Tour ein Andenken mit. So lag ein Briefbeschwerer mit einer Ansicht der Sphinx auf dem Zeichentisch und diente als Vorlage für Annis Bild.

Tante Hedwig hatte Anni zu sich genommen und liebevoll aufgezogen, nachdem ihre Eltern ums Leben gekommen waren. Als man sie im Keller gefunden hatte, waren sie schon mehrere Stunden tot gewesen. Niemand hatte ihnen mehr helfen können.

Anni legte den Pinsel hin und strich über ihren Bauch.