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Eigentlich wollte Sebastian Koller nie den elterlichen Berghof am Feldkopf übernehmen. Doch nach dem tragischen Tod seines Bruders und der Schwägerin bleibt ihm nun keine Wahl.
Der Schicksalsschlag und die Sorge um den Hof, den er nie wollte, machen Sebastian zum wortkargen Eigenbrötler. Schon bald nennt man ihn St. Christoph nur noch den "Kauz vom Berghof". Wenn er im "Ochsen" ein Bier trinkt, wird er von den anderen Bauern gemieden, und auch die Frauen machen einen Bogen um ihn. Dabei ist er ein gut aussehender Mann, stattlich mit einem wilden, brauen Lockenschopf, stahlblauen Augen und einem scharf geschnittenen Gesicht.
Sebastian wird im Dorf immer mehr zum Außenseiter. Und als er dringend Hilfe braucht, ist er allein ...
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Seitenzahl: 136
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Sonne über dem Unglückshof
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Michael Wolf
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 9-783-7325-9882-3
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Sonne über dem Unglückshof
Unter seiner rauen Schale schlägt ein weiches Herz
Von Andreas Kufsteiner
Eigentlich wollte Sebastian Koller nie den elterlichen Berghof am Feldkopf übernehmen. Doch nach dem tragischen Tod seines Bruders und der Schwägerin bleibt ihm nun keine Wahl.
Der Schicksalsschlag und die Sorge um den Hof, den er nie wollte, machen Sebastian zum wortkargen Eigenbrötler. Schon bald nennt man ihn St. Christoph nur noch den „Kauz vom Berghof“. Wenn er im „Ochsen“ ein Bier trinkt, wird er von den anderen Bauern gemieden, und auch die Frauen machen einen Bogen um ihn. Dabei ist er ein gut aussehender Mann, stattlich, mit einem wilden, brauen Lockenschopf, stahlblauen Augen und einem scharf geschnittenen Gesicht.
Sebastian wird im Dorf immer mehr zum Außenseiter. Und als er dringend Hilfe braucht, ist er allein …
Angespannt verfolgte Sebastian Koller die Arbeiten an der Produktionsanlage der kleinen Firma an der Küste Griechenlands. Da tönte ein Ruf durch die Halle.
„Sebastian, Telefon!“
Verwundert hob der neununddreißigjährige Maschinenbauingenieur den Kopf. Wer sollte ihn in dem weltabgeschiedenen Nest anrufen, wo kein Handy funktionierte und man ihn nur über das Telefon der Firma erreichen konnte?
Plötzlich wurde seine Kehle eng. Der Einzige, dem er die Telefonnummer für Notfälle gegeben hatte, war sein Bruder Toni. Der bewirtschaftete den elterlichen Hof in St. Christoph, dem Zillertaler Bergdorf, wo auch Sebastian zu Hause gewesen war, bevor er seine Passion darin gefunden hatte, in aller Welt als freiberuflicher Maschinenbauingenieur zu arbeiten. Im Gegensatz zu dem zwei Jahre jüngeren Bruder hatte er nie Bauer werden wollen.
Hoffentlich ist nichts mit Mama, grübelte er.
Seine Mutter kränkelte seit einiger Zeit, und er machte sich große Sorgen um sie. Acht Jahre zuvor hatten sie bereits den Vater zu Grabe tragen müssen, der einem Krebsleiden erlegen war.
Sebastians Beine waren schwer wie Blei, als er das Büro des Werkstattmeisters ansteuerte.
Er nahm den Hörer an sich, den ihm der Mann reichte, und meldete sich zögernd.
„Spreche ich mit Sebastian Koller, wohnhaft auf dem Kollerhof am Frauenhorn 12 bei St. Christoph, verwandt mit Anton Koller, dem Bauern desselbigen Hofes?“, erkundigte sich der Anrufer mit seltsam heiserer Stimme.
Verwundert über die förmliche Frage, runzelte Sebastian die Stirn. Der Hof war nur noch seine Postadresse, seit er die meiste Zeit des Jahres in aller Welt unterwegs war.
„Ich bin am Apparat“, erwiderte er zögernd. Abermals verspürte er Unbehagen.
„Hier ist die Gendarmerie Schwaz“, gab sich der Anrufer nun zu erkennen. „Wir haben leider eine schlechte Nachricht, Herr Koller.“
Was er nun hörte, zog Sebastian schier den Boden unter den Füßen fort. Er musste sich setzen.
„Leider hat keiner der drei Insassen den tragischen Unfall überlebt“, schloss der Beamte mit deutlichem Bedauern in der Stimme und fügte hinzu: „Wir müssen Sie bitten, umgehend nach Hause zu kommen, um die nötigen Formalitäten für die Beerdigung und den Nachlass zu erledigen und um Ihrem Neffen beizustehen. Ihr Bruder hat Sie als Vormund für den Buben eingesetzt.“
Sebastian schluckte verstört. Er hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten.
„Ich nehme das nächste Flugzeug“, krächzte er und legte erschüttert auf.
Er mochte sich kaum vorstellen, wie geschockt der erst fünfzehnjährige Ingo sein musste. Der Bub hatte auf einen Schlag beide Elternteile und die heiß geliebte Oma verloren. Der Fahrer eines Lastwagens hatte Toni die Vorfahrt genommen.
Ohne auf die Fragen des Werkstattmeisters zu achten, verließ Sebastian, wie in Trance, das Büro. Er konnte das Geschehen noch immer nicht fassen, sah seinen Bruder als fröhlichen, jungen Mann vor Augen, der das Leben noch vor sich hatte. Sie waren sich herzlich zugetan gewesen, und Sebastian hatte seinen Erbanspruch als Erstgeborener leichten Herzens an den Jüngeren abgetreten.
Auch mit seiner Schwägerin Annegret, die mit ihrem Mann gleichaltrig war, hatte er sich gut verstanden. Toni und sie waren mit ihrem Sohn Ingo eine glückliche Familie gewesen, in der die kranke Großmutter gut aufgehoben war.
Und nun hatte der Gevatter sie alle geholt, nur Ingo war verschont geblieben. Der Bub hatte sich im Internat in Schwaz befunden, das er unter der Woche besuchte, als der Unfall geschehen war.
***
Die Beerdigung der Verunglückten erfolgte zwei Wochen später im engsten Familien- und Bekanntenkreis auf dem Friedhof von St. Christoph.
Es war ein kalter, regnerischer Tag Anfang Mai, der die Trauernden noch mehr betrübte. Im Interesse seines völlig verstörten Neffen hatte Sebastian jeden unnötigen Aufwand vermieden, der die Beerdigung nur in die Länge gezogen hätte.
Nach Beendigung der Zeremonie unterhielt sich Bürgermeister Toni Angerer mit Sebastian, während Dr. Martin Burger, der Landarzt von St. Christoph, den Jungen beiseitenahm.
„Falls du in irgendeiner Form Hilfe brauchst, scheu dich net, zu mir zu kommen, und sei es nur, um zu reden, Ingo“, bot er ihm an.
Der Onkel würde sich gewiss gut um den Buben kümmern, aber ein herzliches Verhältnis durfte er nicht erwarten. Eine enttäuschte Liebe in der Jugend und das Zerwürfnis mit dem Vater, der nicht verstehen wollte, dass sein Ältester das angestammte Erbrecht ablehnte, um Maschinenbau zu studieren, statt den Hof zu bestellen, der schon seit Generationen in ihrem Besitz war, hatte aus Sebastian einen wortkargen, verschlossenen Eigenbrötler gemacht.
„Danke, Herr Doktor“, wisperte Ingo und schniefte. Gern nahm er das Angebot des Bergdoktors an, wie Dr. Burger von seinen Patienten respektvoll genannt wurde.
Ingo hatte sich noch nie so verloren gefühlt. Er vermisste die Eltern schmerzlich, und bei dem Gedanken, die geliebte Oma nie wiederzusehen, nie mehr ihre gütige Stimme zu hören, wurde ihm ganz elend zumute.
Sebastian war nun sein einziger Verwandter. Von Seiten der Mutter gab es niemanden, der ihm Trost spenden konnte. Ihre Eltern hatten mit ihr gebrochen, weil sie den schlichten Bergbauern geheiratet hatte, statt den vermögenden Mann zu erhören, den sie ausgesucht hatten.
Auch Sebastian würde ihm keinen Trost spenden können. Ingo hatte den Onkel bisher nicht ein einziges Mal weinen sehen, er starrte nur finster vor sich hin und haderte mit dem Schicksal.
„Dann lass uns mal gehen, Bub“, riss Sebastian den Jungen aus seinen schmerzlichen Gedanken.
Ingo zögerte. Er konnte sich einfach nicht von den Verstorbenen trennen, deren Urnen in dem Familiengrab bestattet worden waren, in dem schon der Großvater und die Urgroßeltern ruhten. Abermals zerriss ein scharfer Schmerz sein junges Herz, und die Tränen rannen haltlos über seine Wangen.
Sebastian legte schwer seine Hand auf die Schulter des Neffen.
„Tränen bringen sie auch net mehr zurück, Bub“, sagte er leise. „Nichts macht das Geschehene rückgängig.“
„Sie sind jede meiner Tränen wert“, trotzte Ingo und wischte heftig über seine Augen. Dann blickte er den Onkel mürrisch an. „Du weinst net um sie. Hast du sie net geliebt?“
„Bub!“ Sebastian schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie kannst du das nur annehmen?“
„Entschuldigung“, murmelte Ingo reumütig. „War net so gemeint.“
„Schon gut, wir stehen alle ein bisserl neben uns, da sagen wir Dinge, die wir net wollen.“ Sebastian lächelte nachsichtig, legte den Arm um den Kopf des kleineren Neffen und fuhr leise fort: „Ich kann mir vorstellen, wie es in dir aussieht. Aber ich finde leider keine Worte des Trostes, weil dieses Unglück auch mich fassungslos macht. Doch glaub mir, die Zeit heilt alle Wunden. Das klingt zwar abgedroschen, ist aber so. Wir Menschen könnten net weiterleben, wenn sich unser Schmerz net eines Tages in Wehmut wandeln würde, die es uns ermöglicht, ohne Ingrimm an das Schicksal unserer Lieben zu denken.“
Er seufzte innerlich. Eine Wunde würde allerdings niemals heilen, jene, die ihm seine damalige Verlobte zugefügt hatte, als sie ihn kurz vor der Hochzeit verlassen hatte, um den reichen Hotelerben aus dem benachbarten Tuxertal zu heiraten. Der hatte ihr mehr bieten können als der arme Student, der sich erst eine Existenz aufbauen musste.
Sebastian wusste, dass es nur sein verletzter Stolz war, der die Wunde weiter schmerzen ließ. Trotzdem gelang es ihm nicht, die Verbitterung abzuschütteln, die aus ihm einen vergrämten, getriebenen Mann gemacht hatte, der nicht mehr an die Liebe glauben wollte.
Aus Angst, doch noch mal sein Herz zu verlieren und wieder enttäuscht zu werden, war er nirgends sesshaft geworden. Doch nun musste er das Erbe seines Neffen verwalten, was ihn zwang, eine nicht absehbare Zeit vor Ort zu bleiben.
Er sah auf seine Armbanduhr, deren Zeiger kurz nach sechzehn Uhr anzeigten.
„Höchste Zeit, dass wir zum Hof kommen, das Melken steht bald an. Jockl schafft die Arbeit net mehr allein.“
Der alte Senner, der hauptsächlich die Alm mit der Käserei betreute, die zum Kollerhof gehörten, hatte sich zwar bis zu Sebastians Ankunft um Hof und Vieh gekümmert, aber nun war er ziemlich erschöpft.
„Ich weiß, dass du den Hof nur ungern bewirtschaftest, bis ich in der Lage bin, ihn selbst zu führen“, bemerkte Ingo zögernd, während er versuchte, mit dem Onkel Schritt zu halten. „Aber das musst du auch net. Du liebst deinen Beruf, und außerdem will ich net…“
Sebastian blieb stehen und musterte seinen Schützling mit streng gefurchter Stirn.
„Hör zu, Kleiner. Ich muss den Hof net versorgen, könnte durchaus weiter als Maschinenbauingenieur meine Brötchen verdienen. Wir würden auch so über die Runden kommen. Aber ich bin es deinem Vater, meinem lieben Bruder, schuldig, dir dein Erbe zu erhalten. Also tu ich, was nötig ist, egal, was es mich kostet.“ Er legte beide Hände auf die Schultern des Buben. „Ich weiß, dass du ebenso gern Bauer bist, wie dein Vater es gewesen ist, und dein Herzblut an dem Hof hängt.“
„Aber ich …“, fiel Ingo erneut ein, verstummte jedoch, als Sebastian mit der Hand herrisch durch die Luft wischte.
„Ende der Diskussion“, beschied er. Er warf sich herum und marschierte zum Wagen.
Während der Fahrt zum Hof verfiel Sebastian in grimmiges Schweigen, was Ingo aber nicht lange ertragen konnte.
„Erstaunlich, dass du dich noch immer so gut mit der Viehwirtschaft auskennst“, eröffnete er vorsichtig das Gespräch. „Hat Opa dich damals so gedrillt, dass du es bis heute net vergessen hast?“
Sebastian antwortete nicht gleich und bog in den Weg ein, der zu ihrem Hof führte. Dieser befand sich mehrere Höhenmeter über St. Christoph in einer Senke am Frauenhorn, einem der sechs steinernen Wächter um das idyllische Bergdorf.
„Dein Großvater war ein strenger Lehrmeister“, erwiderte er schließlich. „Er wollte aus mir unbedingt einen Bauer machen und konnte net akzeptieren, dass ich andere Berufspläne hatte. Ich habe schon immer gern an Maschinen herumgeschraubt. Aber Stall ausmisten, Kühe melken und vor allem Käsern, das habe ich gehasst.“
„Aber du könntest es noch immer, wenn du müsstest?“, fasste Ingo neugierig nach. „Ich meine das Käsern.“
Das war etwas, was er noch nicht beherrschte, obwohl der selbst gemachte Bergkäse neben der Viehwirtschaft die Haupteinnahmequelle des Kollerhofes war.
„So lala“, antwortete Sebastian zögernd. „Mir graut schon davor, wenn der Jockl demnächst in Pension geht. Ich fürchte, so schnell bekommen wir keinen Ersatz, heutzutage sind Senner rar.“
Er zuckte resigniert mit den Schultern.
„Wird mir wohl nix anderes übrig bleiben, als mich vorübergehend selbst um die Sennerei zu kümmern“, setzte er dann hinzu. „Wir haben ein Abkommen mit der Genossenschaft und sind verpflichtet, diese regelmäßig mit unserem Käse zu beliefern.“
Er seufzte. Trotzdem hatte er keine Ahnung, wie er die zusätzliche Arbeit ohne Hilfe bewältigen sollte. Immerhin musste er neben einer großen Anzahl von Milchkühen und ihren Kälbern sowie ein paar Bullen und Ochsen noch den Hof versorgen, auf dem sich auch so allerlei Viehzeug tummelte, darunter Federvieh, Schweine und Ziegen.
„Wenn du mich von der Schule freistellen lässt, kann ich mithelfen“, schlug Ingo vor.
Sebastian drehte den Kopf und grinste. „Das könnte dir so passen, Kleiner. Sollte ich keinen Senner bekommen, schau ich mich halt nach einem Knecht für den Hof um und gehe selbst auf die Alm. Wenn mich der Jockl nochmals in die Mangel nimmt und mir alle Kniffe erklärt, wird aus mir vielleicht doch noch ein guter Senner.“
„Ich will aber net in die Schule“, beharrte Ingo. „Es gefällt mir net, wenn man mir dauernd mitleidig auf die Schulter klopft. Ich hab Angst, in Tränen auszubrechen.“
Er stöhnte gequält und faltete flehend die Hände.
„Bitte, Onkel Bastian, es sind doch nur noch wenige Wochen bis zu den Sommerferien. Der Direktor des Internats wird gewiss zustimmen, nach allem, was passiert ist“, war er sich sicher. „Ich kann mich doch gar net auf den Lehrstoff konzentrieren, so durcheinander, wie ich bin.“
Er schüttelte unglücklich den Kopf.
„Ich begreife einfach net, was geschehen ist.“ Jetzt entrang sich ein gequälter Schluchzer seiner mageren Brust. „So grausam kann das Schicksal doch net sein und mir gleich alle drei Menschen rauben, die ich so sehr geliebt habe.“
Sebastian wandte den Kopf und blickte besorgt zu seinem Schützling, den das Leid bereits gezeichnet hatte. Ingos vormals keckes Bubengesicht hatte seine Pfiffigkeit verloren, und seine sonst so blitzenden Augen wirkten wie erloschene Kerzen. Kein Funken glomm mehr in ihnen, nur die Schatten des Schmerzes und der Hoffnungslosigkeit wogten darin wie dunkle Wolken.
Sebastian konnte nur hoffen, dass sich Ingo bald von seinem Kummer erholen würde. Er war seinem Vater nicht nur im Äußeren ähnlich, war groß und sehnig, wenn auch noch schlaksig, er hatte auch dessen Durchsetzungskraft und starken Willen geerbt. Er würde nicht an dem Schicksalsschlag zerbrechen, sondern seinen Weg gehen, sobald er den schweren Verlust überwunden hatte. Doch bis dahin musste Sebastian dem Neffen Stütze sein und sein eigenes Leben erst mal auf Eis legen.
„Ich begreife das Geschehen ebenso wenig“, pflichtete er ihm bei. „Aber leider haben wir keinen Einfluss auf unser Geschick, müssen es nehmen, wie es kommt, und darauf hoffen, dass unsere Trauer irgendwann nachlässt.“
Er lächelte dem Neffen aufmunternd zu.
„Ich rede mit dem Direktor, es ist schließlich eine Ausnahmesituation“, versprach er. „Ich denke jetzt auch, dass die Arbeit auf dem Hof dich besser von deinem Kummer ablenken wird, als über den Büchern zu brüten. Außerdem kann ich deine Hilfe wirklich gebrauchen.“
Ingo schluckte. Sollte er dem Onkel gestehen, dass er die Hofarbeit hasste und im Grunde ganz andere Zukunftspläne hatte? Aber dazu war wohl nicht der rechte Zeitpunkt, nachdem Sebastian schon klargestellt hatte, wie wichtig ihm das Vermächtnis seines Bruders war. Wahrscheinlich würde er ihm gar nicht zuhören und seine Wünsche als Hirngespinste abtun.
Er schloss die Augen und horchte in sich hinein. Hatte er nicht die Verpflichtung, den Berghof weiterzuführen, wenn er erwachsen war? Außer ihm war niemand mehr da, der das schöne Gehöft davor bewahren würde, in fremde Hände zu gelangen.
Wüssten der Vater und der Großvater von seinen frevlerischen Gedanken, sie würden sich im Grab umdrehen. Nein, er musste darauf vertrauen, dass die Zeit ihm den rechten Weg weisen würde. Auf keinen Fall durfte er voreilig handeln.
***
Sie hatten den Kollerhof erreicht, der idyllisch in einer Mulde des Berges lag, umgeben von hohen Föhren, die für wohltuenden Schatten sorgten. In dieser Höhe brannte die Sonne gnadenlos vom wolkenlosen Himmel.
Vorsichtig steuerte Sebastian den großen Geländewagen durch das enge Tor, worauf Zoltan sofort von seinem Platz aufsprang und aufmerksam die Ohren spitzte. Der große Wachhund, dessen muskulöse Gestalt allein schon Respekt einflößte, gab keinen Laut von sich, sondern schaute sich nur angespannt um. Erst als er den Wagen erkannte, legte er sich wieder.
Ingo stieg aus und ging zu seinem Hundefreund. Er war der Einzige, der Zoltan streicheln durfte. Er setzte sich neben den Hund, der nun vertrauensvoll seinen massigen Kopf auf seinen Schoss legte und sich kraulen ließ.
„Jetzt sind wir beide allein“, schniefte er traurig und kämpfte erneut mit den Tränen. Dann atmete er tief durch. „Papa hätte net gewollt, dass ich weine, also trauere ich nur noch still in meinem Herzen. Ich muss jetzt schneller als andere erwachsen werden und Verantwortung für den Hof übernehmen, weißt du? Ich kann Onkel Bastian net zumuten, dass er wegen mir sein Leben umkrempelt. Dann verliert er womöglich noch den Anschluss in seinem Job.“
Abermals schniefte er.
„Dann muss ich meine Träume eben begraben. Aber Papa hätte sowieso net erlaubt, dass ich auf Lehramt studiere, statt Bauer zu werden, genau wie der Opa bei Onkel Bastian net wollte, dass er Maschinenbau studiert. Zumindest gab es damals noch Papa, der den Opa davon überzeugt hat, dass er ohnehin der bessere Bauer war. Ich habe aber keinen Bruder, der für mich einspringen kann …“