Der Bergdoktor 2086 - Andreas Kufsteiner - E-Book

Der Bergdoktor 2086 E-Book

Andreas Kufsteiner

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Beschreibung

Mit schwerem Herzen kehrt Mina in den Sommerferien in ihr Heimatdorf St. Christoph zurück. Ihr graut es vor den Erinnerungen, die hier auf sie warten. Vor einem Jahr ist ihr Bruder nach einer Bergwanderung nicht nach Hause zurückgekehrt. Nun will ihr Vater ihn für tot erklären lassen, doch in Mina sträubt sich alles dagegen. Solange Theos Leiche nicht gefunden wird, will sie ihn nicht aufgeben. Immer noch hat sie die heimliche Hoffnung, dass er eines Tages wieder vor ihr steht.
Bei ihrer Heimkehr ist die Familie erschrocken über den Anblick des jungen Madels. Mina hat in den vergangenen Monaten stark abgenommen, ist sehr blass und wirkt kraftlos - bis sie in den Bergen plötzlich auf ihren verschollenen Bruder trifft. Theo lebt! Doch als sie kurz wegschaut, ist er wieder wie vom Erdboden verschluckt. Hat sie sich das alles nur eingebildet? Wird sie ... verrückt?
In ihrer Verzweiflung sucht sie den Bergdoktor auf. Dr. Martin Burger hört seiner Patientin aufmerksam zu. Nach und nach beschleicht ihn dabei ein böser Verdacht ...


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Seitenzahl: 123

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

Cover

In Erinnerung an Theo

Vorschau

Impressum

In Erinnerung an Theo

Im letzten Sommer zerbrachen alle Zukunftsträume

Von Andreas Kufsteiner

Mit schwerem Herzen kehrt Mina in den Sommerferien in ihr Heimatdorf St. Christoph zurück. Ihr graut es vor den Erinnerungen, die hier auf sie warten. Vor einem Jahr ist ihr Bruder nach einer Bergwanderung nicht nach Hause zurückgekehrt. Nun will ihr Vater ihn für tot erklären lassen, doch in Mina sträubt sich alles dagegen. Solange Theos Leiche nicht gefunden wird, will sie ihn nicht aufgeben. Immer noch hat sie die heimliche Hoffnung, dass er eines Tages wieder vor ihr steht.

Bei ihrer Heimkehr ist die Familie erschrocken über den Anblick des jungen Madels. Mina hat in den vergangenen Monaten stark abgenommen, ist sehr blass und wirkt kraftlos – bis sie in den Bergen plötzlich auf ihren verschollenen Bruder trifft. Theo lebt! Doch als sie kurz wegschaut, ist er wieder wie vom Erdboden verschluckt. Hat sie sich das alles nur eingebildet? Wird sie am Ende verrückt?

In ihrer Verzweiflung sucht sie den Bergdoktor auf. Dr. Martin Burger hört seiner Patientin aufmerksam zu. Nach und nach beschleicht ihn dabei ein böser Verdacht ...

Tief atmete Mina durch und ließ den Blick über das Isarufer schweifen, das im frühen Morgenlicht verlassen dalag. Der Wind rauschte in den Weiden und trug den Duft blühender Wiesen mit sich. Vögel gaben in den Wipfeln ein Morgenständchen. In ihr munteres Zwitschern mischte sich das Rauschen des Flusses wie eine lebhafte Melodie.

Noch war die Luft angenehm kühl, aber später würde das Quecksilber sicherlich wieder auf dreißig Grad und mehr ansteigen. Das Gold der aufgehenden Sonne fiel schräg durch die grünen Wipfel und zauberte bizarre Muster auf das Gras.

Es war kurz nach halb sechs morgens. Die ersten Spaziergänger waren mit ihren Hunden unterwegs und blinzelten verschlafen in das Licht. Mina reckte die Arme nach oben und sog die würzige Luft in ihre Lungen. Hinter ihr lag bereits der größte Teil ihrer morgendlichen Joggingrunde. Sie lief gern so früh los, wenn die Luft noch mild und der Tag voller Möglichkeiten war.

Auf dem türkisfarbenen Wasser tanzte ein bunter Ball, ließ sich von den Wogen tragen und war wenig später hinter der Biegung des Flusses verschwunden.

Eine Rentnerin saß auf einer Bank, hielt eine Papiertüte mit Körnern auf ihrem Schoß und fütterte ein Eichhörnchen. Der possierliche Pelzträger schien bereits an sie gewöhnt zu sein, denn er saß zutraulich auf ihrem rechten Schuh und reckte sich nach den Leckerbissen.

Mina stellte die Füße etwas auseinander und begann mit ihren Dehnübungen. Ohne darüber nachdenken zu müssen, turnte sie ihre Routine. Ihre erdbeerfarbene Sportkleidung machte jede Bewegung mit. Die langen schwarzen Haare hatte sie mit einem Gummiband in derselben Farbe zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

Sie war das frühe Aufstehen gewohnt. Das blieb nicht aus, wenn man auf einem Bauernhof aufwuchs und von klein auf mithalf, die Tiere zu versorgen.

An das Leben in der Stadt hatte sie sich erst gewöhnen müssen. Hier in München schienen die Uhren schneller zu ticken als bei ihr daheim, aber Minas Ziel war ein Abschluss in Tourismusmanagement – und dafür war der Umzug in die Stadt unerlässlich gewesen.

Sie hatte gern mit Menschen zu tun. Sie wollte mithelfen, in ihrem Heimattal das empfindliche Gleichgewicht zwischen Tourismus und unberührter Natur zu bewahren, und gleichzeitig Urlaubern eine wunderbare Zeit bereiten. Ihr Studium finanzierte sie sich als Stadtführerin. Mittlerweile kannte sie jede Gasse und jeden noch so verborgenen Winkel in München.

Zumindest war das alles bis vor einem Jahr so gewesen. Bis ...

Nein, bloß net daran denken, ermahnte sie sich selbst und verbannte den Gedanken in den hintersten Winkel ihres Verstandes.

An diesem Tag war sie noch zeitiger aufgestanden als nötig. Und das hatte auch seinen Grund: furchtbare Albträume.

Mina ging an jedem Morgen joggen, um die nächtlichen Schrecken abzuschütteln. Das funktionierte ... nun ja, mal mehr, mal weniger gut ...

Ihr Handy vibrierte in ihrer Gürteltasche und bot eine willkommene Ablenkung von den düsteren Gedanken. Sie zog es aus ihrer Tasche und meldete sich. Am anderen Ende der Verbindung erkannte sie die Stimme ihres Vaters. Was er sagte, konnte sie schlecht verstehen, weil in diesem Augenblick in ihrer Nähe unter großem Schnattern ein Schwarm Enten aufflog.

»... Bruder ... erklären ... wir müssen ...«

In Minas Ohren rauschte es mit einem Mal.

»Kannst du das bitte wiederholen, Vaterl?«, bat sie mit zittriger Stimme.

»Wir werden deinen Bruder am vierzehnten für tot erklären lassen, Mina. Es ist an der Zeit. Wir müssen nach vorn sehen. Das weißt du, oder?«

Für tot erklären. Ihre Nackenhärchen richteten sich auf, und mit einem Mal überzog eine Gänsehaut ihren ganzen Körper.

»Aber das könnt ihr net machen!«, rief sie aus.

»Der Entschluss ist uns net leicht gefallen, das kannst du mir glauben.«

»Dann macht es net! Wenn ihr spürt, dass es zu früh ist ...«

»Es ist net zu früh. Mittlerweile ist beinahe ein ganzes Jahr vergangen.«

»Trotzdem. Das geht net, Vaterl. Theo könnte immer noch zurückkommen. Was soll er denn denken, wenn wir ihn dann schon aufgegeben haben? Er müsste ja glauben, dass er uns nix bedeutet. Bitte, wartet noch.«

»Liebes ...« Der dunkle Bass ihres Vaters war noch kratziger als sonst. »Es ist jetzt ein Jahr her, dass dein Bruder verschwunden ist. Er wird nimmer heimkommen, damit müssen wir uns abfinden. Dieser Schritt ist notwendig. Für uns alle.«

»Nein, ist er net.« Mina zitterte mit einem Mal am ganzen Leib. »Wie kann Theo denn jetzt schon für tot erklärt werden? Er wurde net gefunden. Wir wissen überhaupt net, was mit ihm passiert ist.«

»Wenn jemand ohne ein Lebenszeichen verschwindet, kann man ihn nach zehn Jahren für tot erklären lassen. Das hat mir unser Anwalt erklärt. Wenn sich derjenige jedoch zum Zeitpunkt seines Verschwindens in Lebensgefahr befunden hat, kann die Todeserklärung schon nach einem Jahr beantragt werden.«

Er seufzte tief.

»Wir wissen, dass Theo unterwegs war, als die Schlammlawine am Feldkopf niedergegangen ist. Damals haben sich Unmengen von Steinen, Schlamm und Geröll ins Tal gewälzt und alles mitgerissen, was ihnen in den Weg geraten ist: Bäume, das Heustadel vom Jennerwein und gewiss auch unseren Theo.« Ihr Vater verstummte.

Mina hatte mit einem Mal einen Kloß im Hals.

»Wir wissen das aber net sicher. Sein Leichnam wurde nie gefunden. Er könnte genauso gut noch leben.«

»Dann hätte er sich ein ganzes Jahr vor uns verbergen müssen. Warum hätte er das tun sollen?«

»Wer weiß. Dafür könnte es viele Gründe geben.«

»Nenn mir nur einen, Mina.«

Mina überlegte wild hin und her – und schwieg letztlich.

Die Stille zwischen ihrem Vater und ihr träufelte wie Säure auf ihr Herz.

»Wir müssen ihn gehen lassen, Spatzerl. Auf dem Papier und auch in unserem Herzen, sonst kommen wir nie darüber hinweg, was geschehen ist.«

»Nein, nein, bitte, nein!« Hatte sie es geschrien? Geflüstert? Sie wusste es nicht. Wusste nur, dass ihr Bruder nicht tot sein durfte. Nicht Theo. Der gutherzige, grundanständige Bruder mit dem ansteckenden Lachen und dem riesengroßen Herzen. Sie kniff die Augen zusammen, weil es vor ihren Augen plötzlich flackerte.

Und dann ... oh! Wieder diese elenden Kopfschmerzen!

Hinter ihrer Stirn pochte ein wilder Schmerz, als wollte sich ein Gedanke mit Gewalt einen Weg ins Freie bahnen. Mina presste eine Hand an ihren Kopf und kämpfte darum, ihr Stöhnen zurückzuhalten.

Sie vermisste Theo so sehr, dass es sich anfühlte, als wäre sie im freien Fall und könnte keinen festen Boden mehr unter ihren Füßen finden.

Theo war der Älteste von ihnen gewesen. Nathalie und Leonie, ihre beiden Schwestern, waren Zwillinge und hatten von klein auf eine besondere Verbindung zueinander. Eine Bindung, bei der Mina stets ein wenig abseits stand. Vielleicht hatte Theo es deswegen immer als seine Aufgabe angesehen, sie zu beschützen.

Zum Beispiel damals, als Pfarrer Roseder ihr die Rolle der Maria im Krippenspiel übertragen hatte und ihre Klassenkameradin Vroni vor Neid ihr Pult umgeschmissen hatte. In den nächsten Wochen waren Mina allerlei unerfreuliche Dinge zugestoßen. Ihr Schulranzen war nach der Pause voller Schlamm und Schnecken gewesen, die Hausaufgaben verschwunden, ihr Turnzeug zerrissen ...

Theo hatte vermutet, dass Vroni ihr all diese Streiche spielte. Er hatte Vroni auf dem Schulhof abgepasst und mit ihr gesprochen. Was er gesagt hatte, war Mina verborgen geblieben, aber von Stund an hatte die Klassenkameradin sie in Ruhe gelassen. Und bei ihrem ersten Liebeskummer war es Theo gewesen, der mit reichlich Eiscreme, Taschentüchern und einer Schulter zum Ausweinen angerückt und nicht von ihrer Seite gewichen war.

Theo ... Minas Herz fühlte sich an wie ein Bleiklumpen.

Vor einem Jahr war ihre Welt noch heil gewesen. Sie hatte kurz vor ihrem Abschluss gestanden, war in einen Kommilitonen verliebt gewesen und hatte den Hof ihrer Familie in guten Händen gewusst. Ihr älterer Bruder hatte ihn eines Tages übernehmen sollen. Ja, alles war in allerbester Ordnung gewesen.

Bis Theo nicht von seiner Bergtour zurückgekehrt war.

Eine Schlammlawine war genau über seiner Route niedergegangen. Die Bergretter hatten tagelang nach ihm gesucht, ihn aber nicht finden können.

Seit jenem Tag zog sich der Kummer wie ein Riss durch ihre Familie. Mina schlief kaum noch – und wenn, dann fuhr sie im tiefsten Dunkel aus Albträumen hoch.

Sich auf ihr Studium konzentrieren? Fehlanzeige! Ihr Abschluss war in weite Ferne gerückt, und ihre Beziehung zu Thorsten war zerbrochen. Er war genervt gewesen, weil sie nicht mit ihm ausgehen oder verreisen mochte, weil sie sich in ihrem Zimmer verkroch und weinte und weinte ...

Womöglich wäre es ihr gelungen, gegen ihre Trauer anzukämpfen, wenn ihr Bruder nur gefunden worden wäre, aber er blieb verschwunden und sein Ergehen ungewiss.

An seiner Stelle sollte Nathalie nun den Hof übernehmen.

»Es ist das Richtige«, drang die Stimme ihres Vaters wieder zu ihr durch. »Bitte, komm heim, Mina. Verabschieden wir Theo gemeinsam.«

»Ich ... kann net«, wehrte sie erstickt ab. »Es tut mir leid, aber ich kann das net.« Damit ließ sie ihr Telefon sinken und kämpfte gegen die Tränen an. Sie wankte zu einer kleinen Bank, die ganz versteckt zwischen üppigem Rhododendron stand, und sank darauf nieder. Blicklos schaute sie vor sich hin, gefangen von Kummer und Erinnerungen, bis ihr der Duft von frisch gebrühtem Kaffee in die Nase stieg.

Sie hob den Kopf und blickte geradewegs in braune Augen, die voller Wärme auf ihr ruhten. Sie gehörten zu einem Mann, der nur wenig älter als sie selbst sein konnte. Seine Haut war sommerlich gebräunt, und er verströmte die Vitalität eines Mannes, der auf sich achtete und gern und oft im Freien Sport trieb.

Seine blonden Haare waren auf eine attraktive Art zerzaust, und sein Mund schien allzeit zu einem Lächeln bereit zu sein. Jetzt grub sich jedoch ein besorgter Zug darum ein.

»Kaffee?« Er hielt ihr einladend einen Pappbecher hin, der mit einem weißen Deckel verschlossen war. Auf der Banderole stand Café Frosch – ich küss dich wach geschrieben. »Ich hab ihn noch net angerührt«, erklärte er freundlich, als sie keine Anstalten machte, zuzugreifen. »Er stammt von dem kleinen Café da vorn an der Ecke.« Er deutete mit der Hand die Richtung an.

»Danke, aber das ist wirklich net nötig«, wehrte sie ab.

»Ich möchte Ihnen wirklich net zu nahe treten, aber Sie sehen aus, als könnten Sie eine Stärkung vertragen. Sie sind bleich wie eine Wolkenwand.«

Mina presste die Lippen zusammen, nicht sicher, ob Worte oder ein verzweifeltes Schluchzen hervorkommen würden, wenn sie den Mund öffnete. Vermutlich beides. So schüttelte sie nur stumm den Kopf, sah ihn entschuldigend an und sprang von der Bank auf.

Der Kummer über das spurlose Verschwinden ihres Bruders türmte sich wie eine riesige Tsunamiwelle vor ihr auf und drohte sie zu verschlingen.

Wie von wilden Hunden gehetzt, rannte Mina los. Als könnte sie dem schmerzhaften Riss in ihrem Herzen jemals entkommen. Die Ungewissheit pochte wie ein tiefer, blutender Schnitt.

Mina stolperte, fing sich wieder und taumelte weiter, während sich ihre Gedanken um eine einzige Frage drehten:

Wo bist du, Theo? Wo bist du nur?

***

»Mina? Warum schaust du denn so ängstlich?« Theo lag im Gras auf seinem Bauch und drehte den Kopf zu ihr. »Mach dir keine Sorgen. Mir fehlt nichts. Der Berg rumort ein bisserl, aber das hat nichts zu bedeuten. Lass uns den schönen Sommertag genießen.«

Damit wandte er sich wieder um und spähte zu den Gämsen, die weiter oben am Hang munter zwischen den Felsen herumsprangen. Ein glückliches kleines Lachen war zu hören, als er seinen Fotoapparat auf die Tiere richtete und den Auslöser drückte.

Klick. Klick. Klick.

Im selben Rhythmus schien Minas Herz zu pochen.

Wumm. Wumm. Wumm.

Wild und bang schlug es gegen ihre Rippen.

Sie konnte das drohende Unheil nicht benennen, aber sie spürte es, roch es, schmeckte es förmlich. Etwas stimmte nicht!

Lass uns gehen, Theo, es ist hier nicht sicher!, wollte sie rufen, aber sie brachte kein Wort hervor. Plötzlich schien der Boden unter ihren Füßen zu vibrieren. Die Härchen an ihren Armen richteten sich auf, und ein Schauer rieselte durch ihren Körper. Unwillkürlich blickte sie nach oben – und erschrak bis ins Mark.

Eine Schlammlawine stürzte von oben in ihre Richtung! Steine und Geröll wirbelten meterhoch. Die Massen wälzten alles nieder, was in ihren unheilvollen Weg geriet.

Mina wollte wegrennen, aber sie war wie gelähmt. Keinen Fuß konnte sie vor den anderen setzen.

Ihr Bruder lag noch immer im Gras, ahnungslos, seine ganze Aufmerksamkeit auf die Tiere gerichtet, die nun davonpreschten. Theo schien es nicht zu bemerken.

Jäh erreichten ihn die Schlammmassen und verschluckten ihn wie ein riesiges, formloses Ungeheuer. Seine Hand tauchte noch einmal aus den braunen Massen auf, dann war ihr Bruder fort.

Nun brüllte Mina doch. Brüllte sich ihre Angst und ihr Entsetzen aus dem Leib ...

»Nein! Neeeeiiiiin!«

»Theo?« Mit einem Ruck fuhr Mina in ihrem Bett hoch, blickte sich gehetzt nach allen Seiten um und sah im Dämmerlicht das gemütliche Zimmer, das sie sich mit Alice teilte. Durch das hohe Fenster drang silbriges Mondlicht herein.

Sie war in Sicherheit. Weit und breit keine Schlammlawine zu sehen. Nur eine schlaftrunkene Kommilitonin, die mit zerzausten Haaren aus ihren Kissen auftauchte und »Net schon wieder ...« murmelte.

»Es tut mir so leid.« Mina schlang die Arme um sich selbst. Ihr Nachthemd war schweißnass und klebte unangenehm auf ihrer Haut.

Alice tastete nach der Nachttischlampe und knipste sie an.

»Gleich halb zwei.« Sie konnte den Vorwurf nicht aus ihrer Stimme heraushalten. »Es ist mitten in der Nacht, Mina!«

»Entschuldige. Ich hab schlecht geträumt.«

»Und ich schreibe morgen ... oder vielmehr nachher eine Klausur in englischer Literaturwissenschaft.« Alice puhlte sich die Ohrstöpsel aus den Ohren. »Net mal die helfen noch. Mei, ich weiß, du machst eine schlimme Zeit durch, aber wenn ich diese Klausur vergeige, weil ich noch müde bin, muss ich den ganzen Kurs wiederholen.«

»Ich wollte dich wirklich net wecken.« Mina zupfte an ihrer Zudecke. Ihre Augen brannten, und sie wusste sich keinen Rat.

Seit einigen Monaten wurde sie von Albträumen verfolgt. Immer wieder fuhr sie schreiend hoch. Nacht für Nacht.