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Als die alte Moosbruggerin stirbt, erben ihre beiden Enkelinnen Isa und Carmen das renovierungsbedürftige Häuschen etwas abseits von St. Christoph. Im Dorf sorgt das für einigen Gesprächsstoff, denn was man von den beiden jungen Frauen bislang gehört hat, ist alles andere als positiv. Isa soll von einem verheirateten Fernsehmoderator ein Kind erwarten, und Carmen hat sogar einige Monate im Jugendgefängnis gesessen.
So werden die Schwestern bei ihrem Einzug nicht gerade willkommen geheißen. Doch Isa und Carmen sind entschlossen, die Chance zu einem Neuanfang zu nutzen. So machen sie sich mit den besten Absichten auf den Weg zum Nachbarhof der Grubers. Doch dort treffen sie nur Anselm an - der ebenfalls ein Außenseiter ist. Die drei werden zur Schicksalsgemeinschaft ...
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Seitenzahl: 113
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Verborgene Talente
Vorschau
Impressum
Verborgene Talente
Dr. Burger entdeckt bei seinem Patienten eine besondere Begabung
Von Andreas Kufsteiner
Als die alte Moosbruggerin stirbt, erben ihre beiden Enkelinnen Isa und Carmen das renovierungsbedürftige Häuschen etwas abseits von St. Christoph. Im Dorf sorgt das für einigen Gesprächsstoff, denn was man von den beiden jungen Frauen bislang gehört hat, ist alles andere als positiv. Isa soll von einem verheirateten Fernsehmoderator ein Kind erwarten, und Carmen hat sogar einige Monate im Jugendgefängnis gesessen.
So werden die Schwestern bei ihrem Einzug nicht gerade willkommen geheißen. Doch Isa und Carmen sind entschlossen, die Chance zu einem Neuanfang zu nutzen. So machen sie sich mit den besten Absichten auf den Weg zum Nachbarhof der Grubers. Doch dort treffen sie nur Anselm an – der ebenfalls ein Außenseiter ist. Die drei werden zur Schicksalsgemeinschaft ...
»Kannst du mir bitte mal die Gartenschere herüberreichen?« Dr. Martin Burger, Landarzt im idyllischen Dörfchen St. Christoph im Tiroler Zillertal, nutzte den ordinationsfreien Mittwochnachmittag, um im Garten zu arbeiten.
Nachdem sich der Winter mit heftigen Schneefällen und dem einen oder anderen Schneesturm von seiner rauen Seite präsentiert hatte, erwarteten die Bergler nun voller Sehnsucht einen romantischen Frühling.
Die Wetterfrösche in Radio und Fernsehen waren zuversichtlich. Und tatsächlich hatten sich die Temperaturen in den letzten drei Tagen milde gezeigt. Schon schauten die ersten Krokusse aus den Wiesen hervor, auf denen noch die eine oder andere Schneedecke lag. Ostern stand vor der Tür.
Nicht nur der Bergdoktor und seine Frau Sabine nutzten den sonnigen Nachmittag, um im Garten zu buddeln. Hinter jedem Gartenzaun hörte man aufgeregte Stimmen, fröhliche Zurufe und auch den einen oder anderen erschöpften Schnaufer.
Nachdem Dr. Burger einen abgestorbenen Ast vom Apfelbaum gesägt und die Johannisbeersträucher zurechtgestutzt hatte, wurde er von seiner Frau beauftragt, die morsch gewordenen Bretter an ihrem Hochbeet zu erneuern.
»Muss das alles auf einmal sein?«, grummelte er, aber seine schlechte Laune war nur gespielt. In Wirklichkeit genoss er es, gemeinsam mit Sabine in der frischen Luft zu arbeiten.
»Ja, das muss sein, Liebling. Sonst kann ich die Petersilie nicht aussäen, und die Kräuter-Liesbeth hat gestern erst wieder gemeint, dass der Mond dafür nun ausnehmend günstig steht.«
»Der Mond, ach so. Oder hat deine Betriebsamkeit nur zufällig mit meinem freien Nachmittag zu tun? Nun, sei's drum. Ich mag mich net beklagen. Dein Kräutergartl hat uns im Vorjahr wahrlich große Freude bereitet, da muss ich wohl auch meinen Teil dazu beitragen.«
Schnell drückte Martin seiner Frau im Vorbeigehen einen Kuss auf die Nasenspitze. So erdverschmiert sah sie mit ihrem lockeren Pferdeschwanz und der übergroßen Latzhose aus wie ein entzückender Lausbub.
Apropos Lausbub, dachte Martin Burger, und laut fragte er: »Was macht eigentlich Filli?«
Filli, der fünfjährige Sohn der Burgers, hatte sich letzte Woche beim Rodeln den Fuß verstaucht. Passiert war das Unglück folgendermaßen: Filli und seine achtjährige Schwester Tessa waren miteinander vom Schlosshügel abgefahren, dabei hatten sie plötzlich zu rangeln begonnen, und infolgedessen war der Junge vom Schlitten gefallen.
Das hatte vielleicht ein Geschrei gegeben! Tessa, die sich am Unfall des Bruders schuldig fühlte, hatte beinahe noch lauter geweint als Filli, dessen Fußknöchel gleich einmal anschwoll.
Tessa hatte sofort nach den Eltern gerufen, und Martin war auch gleich zur Stelle gewesen. Dank dieser »dramatischen« Ereignisse war der Geschwisterstreit bald vergessen gewesen: Hand in Hand hatten die beiden Kinder abends auf dem Sofa gesessen und sich von ihrer Mama aus dem alten Märchenbuch vorlesen lassen.
Martin hatte den Knöchel untersucht und seinem Sohn ein paar Tage Auszeit vom Kindergarten verordnet. All dies geschah sehr zur anfänglichen Freude von Sabine, die ihre Kinder gern daheim bemutterte, wenn diese krank waren. Inzwischen rüttelte der aufgeweckte Filli aber ganz schön an den mütterlichen Nerven.
»Ich hab ihn heute Vormittag zur Abwechslung mal kreativ beschäftigt«, erzählte Sabine lachend. »Wir haben alte Tapeten über die Hauswand gespannt, und dann durften Laura und Filli sich mit den Fingerfarben mal so richtig austoben. Das war vielleicht ein Spaß!«
»Welcher ziemlich sicher in der Badewanne geendet hat«, setzte Martin grinsend hinzu.
»Mit mäßigem Erfolg.« Sabine zeigte ihrem Mann lachend ihre Hände. Unter den Fingernägeln hatten sich Farbreste festgesetzt, die – trotz Nagelbürste und Seife – noch ein paar Tage lang an den kreativen Vormittag erinnern würden.
»Also, ich war schon etwas besorgt, als ich euch da an der Holzfassade von unserem schönen Haus werkeln gesehen hab«, mischte sich nun Altdoktor Pankraz Burger ins Gespräch. Der Vater von Martin hatte das Haus seinerzeit selbst gebaut und war immer noch heikel darauf bedacht, dass es gut behandelt wurde.
»Ach geh, Vater, du kennst mich ja!«, widersprach Sabine. »Ich würd' das Haus doch nie und nimmer verschandeln. Wir haben bloß die Künstler in uns rausgelassen und wirklich gut aufgepasst ...«
»Na ja, bei euch Stadtmenschen weiß man nie«, meinte Pankraz. »In deinem geliebten Wien sind inzwischen auch schon so viele alte Häuser mit Farbe verunstaltet.«
»Und wie ich immer sag, Vater: Manches davon ist wirkliche Kunst. Anderes ist nur Vandalismus. Da hast du völlig recht.«
Martin Burger schüttelte angesichts des ewigen »Disputs« zwischen dem überzeugten Bergler Pankraz und dem Stadtpflänzchen Sabine den Kopf. Freilich wusste er, dass das Geplänkel nur als Spaß gemeint war, denn so wie es Pankraz etwa liebte, in der Großstadt die Oper zu besuchen, so genoss Sabine nicht nur ihren schönen Garten, sondern auch die stundenlangen Waldspaziergänge.
Dennoch setzte Martin der Diskussion nun ein autoritäres Ende: »Jetzt tut's euch net künstlich reinsteigern. Hauptsache, die Kinder hatten am Vormittag ihren Spaß und haben net nur vor dem Fernsehkastl gehockt. – Kannst du mir bitte das Brettl festhalten, damit ich's annageln kann?«, wandte er sich an seinen Vater.
Pankraz ließ sich nicht zweimal bitten. Für seine siebenundsiebzig Jahre und sein stattliches Körpergewicht war der alte Herr erstaunlich wendig. Gemeinsam brachten die beiden Männer Sabines geliebtes Hochbeet wieder in Form. Rauhaardackel Poldi unterstützte sie dabei, indem er kläffend um ihre Beine herumsprang. Vielleicht freute er sich aber auch nur auf den Spaziergang, den Pankraz ihm für später versprochen hatte.
Als die Burgers ihr Werk vollendet hatten, setzten sie sich mit einem Kännchen Kaffee, den Haushälterin Zenzi punktgenau auf den Tisch stellte, auf die Terrasse, und bestaunten die »Kunstwerke« der Kinder.
»Gar nicht so übel, die Farbzusammensetzung«, musste Pankraz zugeben. »Kann es sein, dass unsere Kinder künstlerisch begabt sind?«
Martin und Sabine tauschten einen belustigten Blick. So war er, der Opa: Immer bereit, in seinen drei Enkelkindern eine besondere Begabung zu wittern. Ob das nun die achtjährige Tessa war – die vor sechs Jahren als Findelkind vor dem Doktorhaus aufgefunden worden war und seitdem mit ihrem großen Herzen die ganze Familie verzauberte. Ob Filli oder Nesthäkchen Laura, die mit ihren zweieinhalb Jahren das Glück der Burgers vervollkommnete: Pankraz hielt jedes einzelne seiner Enkel für ein Wunderkind.
»Zum Glück«, wie Martin und Sabine immer wieder einhellig feststellten, waren ihre Kinder ganz normal. Die Kleinen hatten ihre Macken wie auch ihre großartigen Momente. Sie waren frech und aufgeweckt, sie stibitzten von Zenzis Keksvorräten – und wurden dafür angemessen bestraft. Wenn sie dann Unkraut jäten oder den Kinderzimmerboden saugen mussten, maulten sie und machten trotzige Gesichter – um nur gleich wieder ihren »Kummer« zu vergessen und fröhlich durchs Haus zu tollen.
»Aber wo wir gerade von künstlerischer Begabung reden«, begann Martin nun nachdenklich. »Ich war heute Vormittag bei den Grubingers und hab zufällig den jungen Anselm getroffen. Normalerweise kriegt man den tagsüber ja gar net zu Gesicht, so fleißig wie er immer im Stall und auf den Feldern arbeitet. Heute aber ist er in der alten Werkstatt verschwunden, welche die Grubingers am Rand ihres Gartens aufgestellt haben. – Wusstet ihr eigentlich, dass der junge Mann großartige Figuren schnitzt?«
»Für die Weihnachtskrippe?«, fragte Sabine.
»Nicht nur. Ja, da waren Ochs und Esel und auch ein kleines Christuskind mit perfekten winzig-kleinen Zehen. Da waren aber auch ein Osterhase und eine Figur, die mir verdächtig wie unser Bürgermeister ausgesehen hat. Samt der kurzsichtig zusammengekniffenen Augen, wenn der Angerer-Toni in der Kirche die Fürbitten liest. Großartig! Das hab ich dem Anselm auch gesagt, aber als er mich entdeckt hat, hat er seine Gerätschaft und sein Werkstück liegen lassen und ist gleich nach draußen gekommen. Ganz schnell hat er hinter sich die Tür zur Werkstatt zugezogen. Als wär's ihm peinlich, dass ich ihn bei seiner künstlerischen Betätigung überrascht hab. Deshalb hab ich dann auch nichts mehr gesagt, ich wollte den jungen Mann nicht in Verlegenheit bringen. Aber ich hab so den Verdacht, dass der Grubinger-Anselm gar net weiß, wie talentiert er ist.«
»Oje, das finde ich aber schade«, meinte Sabine. »Wahrscheinlich wird der Anselm daheim nicht recht gefördert. Die Grubingers sind ja bekannt dafür, dass nur harte Stallarbeit zählt.«
»Ja, vor allem für den Anselm.« Pankraz wiegte nachdenklich den Kopf. »Einen guten Krippenschnitzer hatten wir schon lang net im Dorf. Wär' mal wieder an der Zeit. – Was hattest du denn bei den Grubingers zu schaffen?«
»Ach, es war wieder einmal der Otto mit seinem Fuß. Das ist schon ein Jammer, dass diese Verletzung nie ordentlich verheilt ist. Der Unfall ist schon so lange her, aber weil der Otto keine Ruh' geben kann und auch die physiotherapeutische Behandlung ablehnt, ist es nie wirklich zusammengeheilt. Und jetzt zwickt's den Otto halt bei jedem Wetterumschwung.«
Sabine stellte ihre Kaffeetasse ab und lehnte sich neugierig vor.
»Was ist denn passiert?« Weil sie ebenfalls Ärztin war – Anästhesistin – setzte sie sich gern mit medizinischen Fragestellungen auseinander und diskutierte diese mit Mann und Schwiegervater.
»Es ist schon ein paar Jahre her«, begann Martin und wandte sich an seinen Vater. »Aber du erinnerst dich wahrscheinlich besser daran, Vater. Du hast den Otto damals ja als Arzt betreut.«
»Das waren wir beide gemeinsam, Martin. Aber ich weiß eh, warum du willst, dass ich die Geschichte erzähle. Weil man nämlich nicht gleichzeitig reden und ein drittes Stück Kuchen essen kann, stimmt's?«
Martin schmunzelte. »Ertappt. Du kennst ja deine Zuckerwerte, Vater. Aber abgesehen davon, erzählst du die Geschichte sicher auch besser. Du warst ja damals der Erste am Unfallort.«
»Das stimmt.« Pankraz wandte sich an seine Schwiegertochter. »Der Anselm war damals noch ein Bub von etwa zwölf Jahren und ist unerlaubterweise mit dem Traktor gefahren. Am Vortag hatten wir einen heftigen Sturm, und es gab kleinere Felsabgänge. Die Felder waren übersät mit abgebrochenen Ästen, Steinen und Geröll. Eigentlich hätt' der Bub ja in der Schule sitzen sollen, er hat jedoch geschwänzt. Weil er aber nicht im Wald unterwegs war, um sich ein Pfeiferl zu schnitzen oder mit Pfeil und Bogen zu spielen, sondern mit dem Vater auf dem Feld war, bin ich überzeugt, dass das Schwänzen die Idee seines Vaters war. Die beiden sind mit dem Traktor aufs Feld, und als der Vater abgestiegen ist, um einen Steinbrocken aus dem Weg zu räumen, hat der Bub dumm herumgespielt, die Bremse gelöst, und der schwere Traktorreifen ist dem Otto über den Fuß gerollt. Nachher haben die Eltern freilich behauptet, dass sie dem Anselm das Traktorfahren verboten hätten und dass sie geglaubt hätten, es wäre schulfrei.«
»Denen war wohl klar, dass sie sich strafbar gemacht haben«, sagte Sabine erschüttert.
»Auf mehrfache Weise«, bestätigte Pankraz. »Sie haben aber steif und fest behauptet, dass es so und nicht anders gewesen wäre.« Er machte eine kurze Pause, um die Kuchengabel ein letztes Mal zum Mund zu führen. Dann schob er den Teller zurück und fuhr fort: »Solange der Otto noch mein Patient war, hat er es nicht lassen können, darauf hinzuweisen, dass der Anselm an allem schuld war. Die Folgen des Unfalls waren auch wirklich schlimm: Ottos Fuß war völlig zerquetscht und ist nie wirklich verheilt.«
»Wie auch die seelische Wunde des Jungen«, vermutete Sabine leise.
»Wie meinst du das?«
»Nun, ich denke, der Anselm fühlt sich wahrscheinlich immer noch verantwortlich für den Unfall. So wie du das erzählst, hat der Vater zuerst von ihm verlangt, die Schule zu schwänzen und den Traktor zu fahren, und nachher hat er egoistisch die Verantwortung abgestritten. Das kann man doch net machen!«, rief sie erbost. »Hat sich wenigstens die Mutter auf die Seite des Buben gestellt?«
Pankraz zuckte mit den Schultern. »Ach, die Helga hatte bei den Grubingers noch nie was zu bestimmen. Da zählt fei nur das Wort des Vaters und inzwischen auch jenes vom Ferdinand, dem älteren Sohn. Auch die Regina, die Schwiegertochter, die Frau vom Ferdinand, hat ein resches Mundwerk und kommandiert ihren jungen Schwager fleißig umeinander. Der Anselm aber, den haben sie damals nach dem Unfall hart bestraft, und nun fühlt er sich wahrscheinlich ein für alle Mal in der Schuld. Inzwischen verrichtet er am Hof einen Großteil der Arbeit und schleicht sich nur heimlich in die Werkstatt, wenn keiner von seinen Leuten was davon merkt.«
Sabine seufzte. »Hat der Anselm denn gar kein Mädel? Er ist doch ausgesprochen fesch, so groß und breitschultrig. Und er hat so leuchtend blaue Augen! Mit dem Vollbart erinnert er mich manchmal an einen kanadischen Holzfäller«, fügte sie hinzu.
»Na hallo! So, wie du von dem jungen Grubinger schwärmst, könnte ich ja direkt eifersüchtig werden!« Martin untermalte seine Worte aber mit einem herzlichen Lachen und versprach: »Ich werd' bei Gelegenheit noch mal bei den Grubingers vorbeischauen und mit dem Anselm reden.«
»Danke, Liebling. Was täten die Leut' hier eigentlich ohne ihren Bergdoktor?«
***
Zwei junge Frauen standen vor dem verlassenen Moosbrugger-Haus. Beide waren sie noch jung, die eine noch ein halbes Kind, die andere hochschwanger.
Isa und Carmen Moosbrugger waren in den Geburtsort ihres Vaters, nach Altenacker, zurückgekehrt, um das Häuschen ihrer verstorbenen Großmutter in Besitz zu nehmen. Hier hatte die ältere der beiden Schwestern, Isa, als Kind in den Ferien glückliche, unbeschwerte Stunden erlebt.