Der Bergdoktor 2124 - Andreas Kufsteiner - E-Book

Der Bergdoktor 2124 E-Book

Andreas Kufsteiner

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Beschreibung

Wenn Tanja Plattner an ihre Kindheit zurückdenkt, sieht sie die herrliche Landschaft des Zillertals vor sich. Bis zu ihrem sechsten Lebensjahr hat sie in St. Christoph ein unbeschwertes und idyllisches Leben geführt. Doch mit der Scheidung der Eltern veränderte sich alles: Tanja musste mit ihrer Mutter nach München ziehen und hat ihren Vater, der all ihre Briefe unbeantwortet ließ, nie wiedergesehen. Geblieben ist ihr nur die große Sehnsucht nach ihm.
Als sie erfährt, dass ihr Vater verstorben ist, macht sich die Altenpflegerin auf den Weg in ihr Heimatdorf. Wenigstens die letzte Ehre will sie ihm erweisen. Doch in St. Christoph angekommen, wird die Sechsundzwanzigjährige von einer Flut von Gefühlen übermannt. Unzählige verloren geglaubte Erinnerungen stürmen auf sie ein, und die Dorfbewohner begegnen ihr teilweise sehr schroff und abweisend. Was haben die Leute nur gegen sie? Wie es scheint, verbinden die Menschen hier ein dunkles Geheimnis mit der Tochter des verstorbenen Bauern.
Unter dem großen Druck und als Folge einer seltenen, aber schweren Erkrankung bricht Tanja zusammen. Jetzt kann ihr nur noch der Bergdoktor helfen ...


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Seitenzahl: 146

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

Cover

Ahnungslos kehrte sie heim

Vorschau

Impressum

Ahnungslos kehrte sie heim

Ohne Dr. Burger wäre Tanja zerbrochen

Von Andreas Kufsteiner

Wenn Tanja Plattner an ihre Kindheit zurückdenkt, sieht sie die herrliche Landschaft des Zillertals vor sich. Bis zu ihrem sechsten Lebensjahr hat sie in St. Christoph ein unbeschwertes und idyllisches Leben geführt. Doch mit der Scheidung der Eltern veränderte sich alles: Tanja musste mit ihrer Mutter nach München ziehen und hat ihren Vater, der all ihre Briefe unbeantwortet ließ, nie wiedergesehen. Geblieben ist ihr nur die große Sehnsucht nach ihm.

Als sie erfährt, dass ihr Vater verstorben ist, macht sich die junge Frau auf den Weg in ihr Heimatdorf. Wenigstens die letzte Ehre will sie ihm erweisen. Doch in St. Christoph angekommen, wird Tanja von einer Flut von Gefühlen übermannt. Unzählige verloren geglaubte Erinnerungen stürmen auf sie ein, und die Dorfbewohner begegnen ihr teilweise sehr schroff und abweisend. Was haben die Leute nur gegen sie? Wie es scheint, verbinden die Menschen hier ein dunkles Geheimnis mit der Tochter des verstorbenen Bauern.

Unter dem großen Druck und als Folge einer seltenen, aber schweren Erkrankung bricht Tanja zusammen. Jetzt kann ihr nur noch der Bergdoktor helfen ...

»Nun aber bleiben Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei. Die Liebe aber ist die stärkste unter ihnen. Herr, nimm unseren Bruder Veit Leitegger gnädig bei dir auf und schenke ihm den ewigen Frieden.«

Eine Glocke begann zu läuten. Pfarrer Andreas Roseder breitete die Arme zum Segen aus.

Tanja Plattner hob den Kopf und blickte über die gesenkten Köpfe in den Bankreihen vor ihr. Aus dem Seitenschiff der Kirche traten schwarz gekleidete Männer an den Eichensarg und hoben ihn auf ihre Schultern.

Der üppige Sargschmuck aus gelben Osterglocken und weißen Tulpen schwankte leicht, als sie den Verstorbenen durch den Mittelgang zum weit geöffneten Portal trugen, durch das die Frühlingssonne ihre Strahlen in das Gotteshaus von St. Christoph schickte.

Tanja hatte das Gefühl, als würden die Engel, die so lebendig an die hohe Kirchendecke gemalt waren, tadelnd auf sie herabblicken. Unwirklich kam ihr alles vor.

Erst heute Morgen war sie in aller Herrgottsfrühe vom stark frequentierten Bahnhof ihrer Heimatstadt Augsburg abgefahren, und nun saß sie hier unvermittelt in einer alten Tiroler Dorfkirche zwischen Menschen, die sie nicht kannte und die nur eines mit ihr gemein hatten: die Trauer um Veit Leitegger, Tanjas Vater.

Tanja hörte Mäntel rascheln und Füße scharren, die Trauergäste erhoben sich.

Die junge Frau beeilte sich, es ihnen gleichzutun und mit gefalteten Händen dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen. Sie schloss die Augen. Ihr war auf einmal, als hätten die schönen Tiroler Kirchenlieder und die Gebete, mit denen der Pfarrer des Toten gedachte, sie zutiefst erschöpft.

Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich. Doch am liebsten hätte sie sich an den ungefähr fünfzigjährigen sportlichen Mann neben ihr gelehnt. Freundlich hatte er ihr zugenickt, als sie sich außer Atem neben ihn auf den letzten freien Platz in die hintere Kirchenbank gesetzt hatte. Er hatte die Trauerfeier mit ernstem Gesicht verfolgt, und Tanja fragte sich, ob er wohl ein Freund ihres Vaters gewesen war.

Mit Sicherheit hatte er, nein, hatte jeder der hier Anwesenden den Leitegger-Bauern besser gekannt als sie, seine einzige Tochter, ihn gekannt hatte, dachte sie beschämt. Oft hatte sie sich in den letzten Jahren vorgenommen, ihrem Vater zu schreiben. Hätte er sich gefreut? Ihr vielleicht sogar geantwortet?

Wahrscheinlich nicht. So viele Postkarten hatte sie ihm als Kind nach St. Christoph geschickt. Selbst gemalte Bilder zuerst, dann, als sie in die Schule gekommen war, die ersten ungelenken Zeilen. Nie war eine Antwort gekommen.

Eine dumpfe Traurigkeit stieg in Tanja auf. Veit Leitegger hatte einfach nicht zu ihrem Leben gehört. Seit zwanzig Jahren nicht, seit sie sechs war und ihre Mutter mit ihr aus dem Zillertal fort und nach München gezogen war.

In der bayerischen Metropole hatte Tanjas Mutter einen Geschäftsmann geheiratet. Tanja hatte es an nichts gefehlt. Doch sie war mit dem Mann, den sie fortan Papa genannt hatte, nie richtig warm geworden. Seine beiden leiblichen Töchter hatten ihre neue Stiefschwester wie ein ungeliebtes Aschenputtel behandelt.

Tanjas Mutter hingegen hatte das Leben an der Seite ihres wohlhabenden Mannes genossen und nicht gemerkt, dass ihre einst so quirlige kleine Tochter sich immer mehr in sich zurückzog.

Nach der Schule hatte Tanja eine Ausbildung in einem Pflegeheim begonnen. Als Altenpflegerin könne sie sich nicht einmal eine eigene Wohnung in München leisten, hatten Mutter und Stiefvater eingewandt. Zudem sei der Beruf ungemein anstrengend.

Beides stimmte, doch Tanja liebte die Arbeit mit Menschen, die Zuwendung, die sie ihnen geben konnte, und die Dankbarkeit, die sie dafür zurückbekam.

Nach der Ausbildung hatte sie eine Anstellung in einer Augsburger Seniorenresidenz gefunden und kurz darauf Boris kennengelernt. Gemeinsam waren sie in eine kleine Wohnung über den Dächern der alten Fuggerstadt gezogen.

Tanja genoss die Arbeit mit den Senioren, und es ging ihr nahe, wenn einer der liebenswerten alten Herrschaften starb.

»Zu deiner Arbeit gehört es doch nun wirklich nicht dazu, auch noch auf die Beerdigungen zu gehen. Warum tust du dir das an?«, hatte Boris sie öfter gefragt. Doch Tanja wollte von Herzen gern Abschied nehmen von den Menschen, denen sie sich verbunden fühlte.

Bedrückt stellte sie bei diesen Beerdigungen oftmals fest, dass viele der alten Menschen wirklich völlig einsam gewesen waren. Denn nur allzu oft stand sie allein mit dem Pfarrer vor dem schlichten Sarg.

Dass heute offenbar das gesamte Bergdorf St. Christoph ihrem Vater das letzte Geleit gab, tröstete Tanja ebenso wie die persönliche Trauerrede. In besinnlichen Worten hatte der Pfarrer auf Veit Leiteggers Leben zurückgeblickt, und Tanjas Herz hatte sich zusammengezogen, als sie gewahr wurde, dass sie als Tochter des Verstorbenen mit keinem Wort erwähnt worden war. Nicht einmal in dem knappen Satz, der die Heirat ihrer Eltern streifte.

»Nach einer kurzen Ehe, die mit einer großen Enttäuschung endete, lebte der Leitegger-Bauer ganz für seinen Zirbenhof«, hatte Andreas Roseder gesagt. Als hätte seine Tochter in Veit Leiteggers Leben nie existiert!

Hinter dem Sarg schlängelte sich ein langer Zug von Trauergästen Richtung Friedhof. Tanja reihte sich am Ende ein. Sie merkte, wie ein Schauer durch ihren Körper fuhr, und zog ihren kurzen Mantel enger um den Leib.

In ihren wenigen Kindheitserinnerungen war in St Christoph immer Sommer, und die Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel. Das tat sie auch heute. Doch während es unten in Mayrhofen an diesem Mittwoch im April schon frühsommerlich warm gewesen war, wehte hier oben ein kalter Wind von den majestätischen Berggipfeln.

Hieß der hohe Gipfel dort drüben nicht Feldkopf? Und einer der anderen Frauenhorn? Tanja wunderte sich, welch lange verschüttete Erinnerungen so plötzlich aus ihrem Gedächtnis aufstiegen.

***

Langsam schob sich die Schlange der Trauergäste vorwärts Richtung Grab. Vor Tanja stand der Mann, der neben ihr in der Kirche gesessen hatte. Eine schmale Frau Mitte dreißig kam vom Eingang her über den Friedhof geeilt und stellte sich neben ihn.

»Entschuldige, Liebling, dass ich dich bei der Trauerfeier allein gelassen habe«, wisperte sie. »Ich wollte eigentlich nur noch schnell ein wichtiges Telefonat beenden und hatte schon den schwarzen Mantel an, da kam alles anders. Ich musste Filli vom Kindergarten abholen. Dein Vater hat's heut net geschafft.«

»Schon gut, Liebes. In der Kirche war eh kein einziger Platz frei. Das ganze Dorf nimmt Abschied vom Leitegger-Bauern. Aber sag, was hat denn der Vater so Wichtiges zu tun gehabt? Er lässt es sich doch sonst net nehmen, Filli abzuholen?«

»Er musste dich in der Praxis vertreten.« Die Frau schob ihre Hand in die des Mannes.

Tanja bemerkte, dass beide den gleichen goldenen Ring trugen. Sie konnte nicht anders, sie spitzte die Ohren, um das Gespräch des Ehepaares weiter zu verfolgen.

»Obwohl die Bärbel ein Schild mit der Mitteilung ›Praxis zwischen elf und vierzehn Uhr geschlossen‹ an die Praxistür gehängt hat, hat es gleich, nachdem du fort warst, Sturm geläutet«, erzählte die Frau leise weiter. »Rosemarie Köchel vom Haflinger-Gestüt ist in ein Maulwurfsloch auf der Weide getreten. Sie hat darauf bestanden, dass der Doktor sich den geschwollenen Fuß sofort anschaut.«

Sie schmunzelte leicht.

»Mit so ›an klumperten Latschn‹ passt sie nimmermehr in einen Reitstiefel, hat sie gegreint. Dabei will sie am Wochenende auf ein Turnier in Schwaz. Sie hat so jämmerlich dreingeschaut, dass dein Vater net umhin kam, sich ihrer anzunehmen und mich zu bitten, den Filli zu holen. Als wir nach Hause kamen, hatte er Rosemarie ausgiebig untersucht und den Knöchel geröntgt. Schlussendlich war er nur verstaucht. Er hat ihr eine Salbe verschrieben und sie sogar höchstpersönlich zur Apotheke begleitet. Rosemarie hat ihm aus Dank eine Stunde Reitunterricht versprochen.«

Der Mann lächelte. »Die er hoffentlich dankend abgelehnt hat«, wisperte er ebenso leise zurück. »Mit siebenundsiebzig Jahren noch mit dem Reitsport zu beginnen, würde meinem lieben Vater wahrscheinlich mehr Unannehmlichkeiten einbringen als eine harmlose Verstauchung.«

Dann wurde er ernst.

»Pfarrer Roseder hat schön gesprochen über den Leitegger-Veit. Plötzlich und unerwartet sei er von dieser Welt gegangen, sagte er. Mir scheint, unser Pfarrer hat auch keine rechte Erklärung dafür, warum der Herrgott ihn von heut auf morgen aus dem Leben gerissen hat.«

Er schüttelte leicht den Kopf.

»Dabei hab ich erst letzte Woche noch einen kurzen Schwatz mit dem Veit gehalten, als ich von meinen Hausbesuchen heimkam. ›Ich bin pumperlgsund, Herr Doktor. Aber wenn Sie wollen, schau ich gern mal wieder bei Ihnen in der Praxis vorbei‹, hat er gesagt. Jetzt ist er tot.«

Die warme Stimme des Mannes war voller Bedauern. Er war offensichtlich der Dorfarzt, schloss Tanja aus dem Gespräch.

»Geh, Liebling, mach dir keine Vorwürfe«, antwortete seine Frau. »Ich weiß, für dich als Mediziner ist es schwer, hinzunehmen, dass das Wohlergehen deiner Patienten net immer in deiner eigenen Hand liegt. So gut du deinen Beruf auch beherrschst, niemand weiß besser als du, dass der Beginn und das Ende unseres Lebens oft ein Geheimnis bergen. Wir Menschen werden es vielleicht nie begreifen.«

Ein schmerzhafter Zug umspielte die Lippen des Arztes. Er legte den Arm um die Schultern der Frau.

»Du hast wie immer recht, meine kluge Sabine«, flüsterte er und strich ihr über das blonde Haar. »Und sicher ist es gut für uns Menschen, nicht zu wissen, welche Wege der Herrgott für uns vorbestimmt hat.«

Der Dorfarzt und seine Frau waren ein harmonisches Ehepaar, dachte Tanja. Gleich darauf kam ihr Boris in den Sinn. »Ihr beiden seid das absolute Dreamteam«, hatte Tanjas Freundin und Arbeitskollegin Grit ihr immer wieder bescheinigt.

Ja, die Fotos an den Wänden ihrer Wohnung zeigten eine strahlende Tanja neben dem muskelbepackten, braungebrannten Boris auf der Zugspitze, vor den Krimmler Wasserfällen, dem Panorama der Appenzeller Alpen, dem Matterhorn. Die Bilder waren auf den zahllosen Mountainbike-Touren entstanden, zu denen der sportbegeisterte Boris sie, sooft es ihr Arbeitsplan zuließ, mitnahm.

Sie sahen aus wie ein Traumpaar, aber stimmte das wirklich?

***

Eine Windbö löste aus Tanjas Haarknoten eine Strähne ihres nussbraunen Haares. Sie strich sie sich hinters Ohr und merkte dabei, wie ihre Hand zitterte.

Ein leichter Schwindel hatte schon während ihrer Anreise im Bus eingesetzt. Sie hatte ihn den kurvigen Wegstrecken, die der Linienbus nach St. Christoph erklommen hatte, zugeschrieben. Doch der Schwindel war auch nach der Busfahrt nicht verschwunden. Im Gegenteil, das Gefühl, als schwanke der Boden unter ihr, hatte sich sogar verstärkt.

Kein Wunder, dachte Tanja. Seit dem halben Croissant, das sie vor Tagesanbruch zu einer Tasse Kaffee hastig heruntergeschlungen hatte, hatte sie nichts mehr gegessen. Auf der schwarz umrandeten Karte, mit der das Beerdigungsinstitut sie von der Trauerfeier unterrichtet hatte, war etwas von einem »besinnlichen Beisammensein nach der Beisetzung« geschrieben. Dort würde es sicher etwas zu essen geben, vermutete sie.

Doch die Menge von Trauergästen vor ihr schob sich nur langsam Richtung Grab. Es würde noch mindestens eine Stunde dauern, bis sie im »Ochsen«, wie die Gastwirtschaft hieß, in dem das Beisammensein stattfinden würde, etwas zu essen bekäme.

Oder kündigte sich etwa eine dieser Migräneattacken an, unter der sie seit einiger Zeit litt? Zum Glück hatte ihr neuer Hausarzt ihr erst vor einigen Tagen ein Medikament dagegen verschrieben.

Hastig kramte sie in ihrer Umhängetasche nach dem kleinen Plastikröhrchen, dass sie für diese Zwecke griffbereit bei sich führte. Sie schluckte eine der Kapseln hinunter, schlang sich den Schal ein drittes Mal um den Hals und wartete frierend.

Endlich waren nur noch drei Menschen vor ihr, dann noch zwei, dann trat das Arztehepaar vor.

Der Schwindel hielt Tanja immer noch fest in seinem Griff. Links und rechts der offenen Grube nahm sie die sechs Sargträger wahr. Als wäre sie seekrank, verdoppelten sich die schwarz gekleideten Männer vor ihrem Blick. Aus den sechsen wurde ein Dutzend.

Mit großer Anstrengung tat sie einige Schritte nach vorn, während ihr Blick Halt an dem ersten der Männer suchte. Er war jünger als seine Kollegen, überragte die anderen um einen Kopf, und seine Schultern schienen so breit, dass er den Sarg vermutlich allein hätte tragen können.

Im Gegensatz zu den anderen Männern, die ihre Arbeit für beendet hielten und leise miteinander sprachen, sah Tanja, dass er ernsthaft und unverwandt auf das offene Grab blickte. Unter seinem weiten schwarzen Umhang steckten grobgestrickte Bauernstrümpfe in derben Schnürstiefeln.

Als hätte er gemerkt, dass sie ihn anschaute, hob er unvermittelt den Kopf. Einen Moment blickte Tanja in seine strahlend hellblauen Augen. Wie ertappt wandte sie den Blick ab.

Der Dorfarzt und seine Gattin schüttelten dem Pfarrer die Hand und redeten einige leise Worte mit einer Frau, die neben ihm stand. Sie trug einen kleinen Hut, dessen Schleier ihr Gesicht verdeckte. War sie eine Angehörige? Tanja konnte sich keinen Reim darauf machen. Aus der Trauerrede wusste sie, dass ihr Vater keine Geschwister gehabt und auch nicht wieder geheiratet hatte.

Der Moment des endgültigen Abschieds war da. Tanja fixierte die kleine Handschaufel, mit der die Trauergäste Erde aus einem Eimer auf den Sarg warfen. Verschwommen sah sie die leuchtend gelben und weißen Blumen in dem Loch zu ihren Füßen und merkte, wie die Konturen der rechteckigen Grube vor ihren Augen zerflossen. Hoffentlich wirkte das Migränemittel bald.

Ihre Hand verfehlte die Schaufel. Tanja grub ihre Finger in die feuchte Erde und warf diese mit bloßer Hand in das Grab des Mannes, dem sie ihr Leben zu verdanken hatte. Ihre Lippen formten einen lautlosen Gruß.

»Vergelt's Gott, Vater.«

Der Pfarrer nickte ihr freundlich zu. Tanja drückte seine Hand, trat dann vor die Frau mit dem Schleier und streckte auch ihr die Hand hin. Sie griff ins Leere. Die Frau hatte blitzschnell ihre behandschuhten Finger zurückgezogen.

»Du hast hier nichts zu suchen«, zischte sie unhörbar für die Umstehenden. »Schleich dich! Scher dich dahin zurück, wo du herkommst.« Hinter dem schwarzen Schleier funkelten dunkle Augen.

Tanja wich überrascht zurück und starrte die Fremde an. Auf einmal begannen die Trauergemeinde, der Friedhof und die majestätischen Berggipfel sich immer schneller um sie zu drehen.

»Jetzt bloß nicht ohnmächtig werden«, dachte sie, taumelte aber weiter rückwärts.

»Loisl, rasch, pack an!«, rief jemand.

Das Letzte, was Tanja sah, war eine große schwarze Gestalt, die auf sie zusprang und sie in die Arme zog. Dann verlor sie das Bewusstsein.

***

Alois Gaiser lief unruhig im Flur der Arztpraxis auf und ab. Vom Kirchturm schallten zwei Glockenschläge herüber. Daheim auf dem Hof wurde er längst erwartet. Doch er mochte nicht gehen, bevor er nicht vom Bergdoktor gehört hatte, wie es der Patientin ging.

Alois' Gedanken flogen zurück zu den Ereignissen der letzten Stunde. Schon in der Kirche hatte er die schmale junge Frau bemerkt. Nahe am Ausgang hatte sie neben Dr. Burger gesessen. Sie war der einzige Mensch auf der Trauerfeier gewesen, der nicht aus dem Dorf war. Und dennoch hatte sie so traurig auf den Sarg geschaut, als würde mit ihm ein Stück ihres Lebens davongetragen.

Alois stoppte vor dem Krankenzimmer und lauschte. Zwei leise Stimmen drangen heraus. Sakrament, was hatten Dr. Burger und seine Sprechstundenhilfe da drinnen so lange zu besprechen? Der Doktor hatte so zuversichtlich gewirkt, als er vor einer Viertelstunde die Tür des Krankenzimmers hinter sich geschlossen hatte. Am liebsten hätte Alois das Ohr an die geschlossene Tür gelegt.

Wie die meisten Bewohner von St. Christoph hatte der junge Gaiserbauer ein unerschütterliches Vertrauen zu Dr. Burger. Der Mediziner war unermüdlich im Einsatz für seine Mitmenschen und wurde von allen im Dorf nur der »Bergdoktor« genannt.

Einmal hatte Alois sich beim Sensen eine tiefe Schnittwunde zugefügt. Dr. Burger hatte sie so gut versorgt, dass die Narbe heute nur noch ein dünner weißer Strich auf Alois' braungebrannter Wade war. Zum Trost hatte der Bauernbub damals mit der Familie Burger in ihrer gemütlichen Stube zu Abend essen dürfen. Noch heute, Jahre später, erinnerte er sich an jede Kleinigkeit dieses Abends, als wäre es gestern gewesen.

Das schlichte Tischgebet, das der alte Doktor Pankraz Burger gesprochen hatte. Die fröhlichen Gespräche während des Essens. Dr. Burger hatte ihn, den fünfzehnjährigen Bauernbuben, hernach sogar höchstpersönlich nach Haus gefahren.

Alois seufzte leise. Nicht jeder hatte halt das Glück, in so einer glücklichen Familie zu leben, dachte er. In Gedanken versunken legte er nun doch das Ohr an das Türblatt.

Er hörte Schritte, die von innen auf die Tür zukamen, und fuhr erschrocken zusammen. Wie peinlich, wenn der Bergdoktor ihn beim Lauschen erwischte! Rasch warf Alois sich auf einen der zierlichen Besucherstühle, der unter dem muskelbepackten Jungbauern bedenklich knarrte.

Dr. Burger trat aus dem Krankenzimmer, zog leise die Tür hinter sich zu und lächelte Alois an, der ihm gespannt entgegenblickte.

»Unsere Patientin ist grad dabei, aufzuwachen. Ich werde sie gleich noch einmal eingehend untersuchen. Aber ich bin mir sicher, sie wird unsere Mini-Klinik heute noch verlassen können. Du kannst also beruhigt nach Haus gehen, Loisl.«

Alois runzelte die Stirn.