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Eigentlich ist es ja ganz normal, dass erwachsene Kinder aus dem Haus gehen, das elterliche Nest verlassen und ihren eigenen Weg einschlagen. Studium, eine andere Stadt oder ein anderes Land, das ist nicht ungewöhnlich. Eltern sind darauf vorbereitet - jedenfalls sollte man das meinen.
Auch Lukas und Simone Bornecker haben damit gerechnet, dass Jana und Julian eines Tages ihre eigenen Pläne und Wünsche verwirklichen wollen und sich daher aus St. Christoph verabschieden. Wie kann es sein, dass die "vereinsamten" Eltern nun in ein tiefes Loch fallen, nachts von ihren Kindern träumen und dass ihr schönes Haus ihnen so fremd und leer erscheint?
Während Simone sich zunehmend schlechter fühlt und sichtlich leidet, vergräbt sich ihr Mann Lukas in seine Arbeit. Als Architekt hat er einen guten Ruf und nimmt jeden Auftrag an.
Als es zwischen Simone und ihm zu einer Ehekrise kommt, die sich auch auf die Gesundheit auswirkt, greift Dr. Burger ein und verordnet dem Paar eine ungewöhnliche Therapie ...
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Seitenzahl: 108
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Hilfe, das Nest ist leer!
Vorschau
Impressum
Hilfe, das Nest ist leer!
Ein Ehepaar und eine verordnete Liebeskur auf der Alm
Von Andreas Kufsteiner
Eigentlich ist es ja ganz normal, dass erwachsene Kinder aus dem Haus gehen, das elterliche Nest verlassen und ihren eigenen Weg einschlagen. Studium, eine andere Stadt oder ein anderes Land, das ist nicht ungewöhnlich. Eltern sind darauf vorbereitet – jedenfalls sollte man das meinen.
Auch Lukas und Simone Bornecker haben damit gerechnet, dass Jana und Julian eines Tages ihre eigenen Pläne und Wünsche verwirklichen wollen und sich daher aus St. Christoph verabschieden. Wie kann es sein, dass die »vereinsamten« Eltern nun in ein tiefes Loch fallen, nachts von ihren Kindern träumen und dass ihr schönes Haus ihnen so fremd und leer erscheint?
Während Simone sich zunehmend schlechter fühlt und sichtlich leidet, vergräbt sich ihr Mann Lukas in seine Arbeit. Als Architekt hat er einen guten Ruf und nimmt jeden Auftrag an.
Als es zwischen Simone und ihm zu einer Ehekrise kommt, die sich auch auf die Gesundheit auswirkt, greift Dr. Burger ein und verordnet dem Paar eine ungewöhnliche Therapie.
Vom Kirchturm schlug es halb sieben.
Es war ein frischer, heller Frühlingsabend, nur wenige Tage nach Ostern. Eigentlich war Dr. Burgers Praxis für heute geschlossen, aber zwei Patienten der »besonderen Art« saßen noch in seinem Sprechzimmer.
»Ihr zwei wollt euch also verabschieden, wie ihr mir ja schon am Telefon angekündigt habt«, sagte der Doktor. »Julian und Jana, wir werden euch vermissen. Vor allem natürlich eure Eltern. Musste es denn sein, dass ihr zwei gleichzeitig aus dem elterlichen Nest davonfliegt?«
»Besser zusammen und nicht nacheinander«, meinte Jana Bornecker. »Dann findet der Anschied an einem Tag statt. Für Mama und Papa ist es eh ein Drama, dass wir das warme Familiennest verlassen. Aber es muss ja mal sein. Und wir werden immer wieder heimkommen, auch wenn wir andere Wege gehen und uns eigene Nester bauen.«
»Meine Schwester drückt sich mal wieder sehr blumig aus, Herr Doktor«, witzelte Julian. »Das tut sie ja eh sehr gern. Sie ist eben unsere Künstlerin. Wenn sie als Kind Briefe an Onkel und Tante geschrieben hat, dann waren das richtige Geschichten, die sie mit Zeichnungen verziert hat. Und dann ihre selbst gemalten Bilder, Figuren und so weiter. Unsere Eltern haben alles aufgehoben.«
»Und du, Julian?«, erkundigte sich Dr. Burger.
»Na ja, ich musste immer raus in die Natur«, antwortete der angehende Student. »Ich wollte wissen, wie alles zusammenhängt und wie es sein kann, dass Pilze aus dem Boden wachsen. Und warum manche Tiere einen Winterschlaf halten und andere nicht. Später war in der Schule Biologie mein Lieblingsfach. Ich wollte wissen, auf welche Weise bestimmte Pflanzen und auch andere Substanzen entweder heilsam oder schädigend wirken. Ich fing an, mich für Chemie zu interessieren. Genauso geht es auch künftig für mich weiter, mit Chemie und Pharmakologie beziehungsweise Pharmazie. Nach dem Studium will ich in die Forschung gehen.«
»Julian war ja nach der Matura fast zwei Jahre auf dem Gut vom Baron von Brauneck tätig«, warf Jana ein. »Er wollte prüfen, ob er vielleicht zum Agrar-Ingenieur taugt. Es hat ihm zwar gefallen, aber es war dann doch nicht das Richtige, denn ihm geht nichts über die Wissenschaft. Ich hab zuerst gedacht, dass ich mich eventuell zur pädagogischen Heilerzieherin eigne, so wie unsere Mutter. Zu Kindern hatte ich immer einen guten Draht. Mama arbeitet ja derzeit noch im Förderkindergarten St. Irmingard in der Nähe von Mayrhofen. Sie hat so vielen Kindern mit seelischen und körperlichen Beeinträchtigungen Zuversicht gegeben und ihnen gezeigt, wie bunt das Leben sein kann. Nach der Matura hab ich dort praktiziert, aber mir wurde schnell klar, dass ich beruflich andere Vorstellungen habe und dass ich nicht dasselbe tun kann wie meine Mutter. Ich möchte daher in Wien Kunst und Kunstgeschichte studieren.«
»Und du, Julian? Wohin zieht es dich jetzt?«, fragte Dr. Burger.
»Zuerst nach London, natürlich nicht nur wegen der Englischkenntnisse, die ich nebenher auffrischen will.« Julian lachte. »Englisch kann ich jetzt schon fast genauso gut wie Deutsch – dazu noch reines Oxford-Englisch, wie man es auf dem Gymnasium und in Kursen lernt. Außerdem war ich schon mal in England zum Schüleraustausch, gewohnt hab ich im Stadtteil Knightsbridge bei der Familie Dalton. Da hab ich wirklich viel gelernt. Steve, der in meinem Alter war, damals sechzehn, kam danach ebenfalls für drei Monate hierher.«
»Richtig, ich erinnere mich«, meinte der Bergdoktor und fügte hinzu: »Großartig, wenn so eine Freundschaft hält.«
Julian nickte. »Mein Freund Steve ist ein richtig guter Kumpel. Er wohnt jetzt mitten in der Stadt mit Blick auf den Trafalgar Square. Ziemlich lebhafte Gegend, sturmfreie Studentenbude, wirklich toll. Wir wollen es uns erst mal gut gehen lassen und nur an den Wochenenden mal bei seinen Eltern in Knightsbridge sein. Ich werd mal sehen, was aus Steves Schwester Kelly geworden ist. Eigentlich fand sich sie nett, als ich damals in London war. Na ja, sie war ein bisschen vorlaut und erst vierzehn, was will man da schon über jemanden aussagen! Kurz und gut, ich werde im Labor von Steves Vaters ein Praktikum machen und mein Studium an der Uni fortsetzen. Wann ich zurückkomme, ist noch unklar. Aber die letzten Semester will ich auf jeden Fall an der Uni München absolvieren. Und dann sehen wir weiter.«
Dr. Burger war beeindruckt. »Ich sehe, dass ihr Pläne habt, in denen aber noch genug Luft für kleine oder auch größere Änderungen bleibt. Das ist gut, denn manchmal muss man flexibel sein und andere Entscheidungen treffen. Ich wünsche euch beiden, dass ihr viel Erfolg habt und dass Frohsinn und Freude nicht zu kurz kommen. Wenn man studiert, sollte man sich auch mal eine Auszeit gönnen und daran denken, dass man später im Beruf meistens fest im Alltag eingespannt ist. Wo wirst du denn in Wien wohnen, Jana? Meine Frau ist eine waschechte Wienerin, das weißt du ja. Sie lässt auf ihre Heimatstadt nichts kommen. Ich kann das sehr gut verstehen.«
»Ich hab ein kleines Apartment in Glanzing in Aussicht«, erklärte Jana. »Man ist schnell im Zentrum von Wien. Und ich kann die Familie Steglitz jederzeit besuchen. Mit Geli Steglitz hab ich schon als Kind gespielt. Die Geli war mit ihren Eltern oft auf Urlaub in St. Christoph. Sie wohnten immer in einem kleinen Häuschen am Waldrand, zehn Minuten von unserem Haus entfernt. Inzwischen ist das Häusl abgerissen worden, weil die Mauern und das Dach brüchig waren und weil es sich nicht gelohnt hätte, alles zu erneuern.«
»Ferienhäuser haben wir seit einiger Zeit wirklich genug«, fand Dr. Burger. »Aber zum Glück ist bei uns noch alles unverfälscht und echt. Wahrscheinlich schätzen unsere Gäste genau das am meisten. Wer Rummel will, ist hier fehl am Platze. Langweilig wird's trotzdem nicht. Vergesst uns net, ihr beiden. Eure Eltern werden erst mal schwer daran zu knabbern haben, dass ihre zwei Spatzen die Flügel ausbreiten und über die Berge davonfliegen.«
Julian nickte. »Jana und ich, wir sehen dem Abschied mit sehr gemischten Gefühlen entgegen. Mama hat schon jetzt manchmal Tränen in den Augen, und Papa vergräbt sich in seiner Arbeit, um nicht ins Grübeln zu geraten. Er werkelt ja viel daheim umeinander und arbeitet Pläne für seine Kunden aus. In seinem Büro in Innsbruck beschäftigt er drei Mitarbeiter. Also, Architekt wie mein Vater könnte ich net sein. Das wäre mir zu sachlich. Obwohl Papa vom Geschäftshaus bis zum Sommerhaus im Grünen alles auf die Reihe bringt.«
»Man sieht es ja an eurem Haus am Hegebach«, warf Dr. Burger ein. »Das hat er perfekt umgebaut, wobei er den Charakter dieses schönen Anwesens perfekt erhalten hat. Ein Alpenhaus, das aber auch ein bisserl ausschaut wie eine Waldvilla. Rundum Natur pur. Euer Garten schaut für viele Leute ein bisserl wie der Garten Eden aus, viele Blumen, schöne Pflanzen, Bäume und natürlich auch Apfelbäume, die in einem Paradiesgarten nicht fehlen dürfen. Wir möchten auch einen lebendigen Garten haben, bei uns darf auch mal etwas über die Zaun ranken und die Blumen können dort blühen, wo es ihnen gefällt. Nicht umsonst fühlen sich bei uns alle möglichen Schmetterlinge, Hummeln und Bienen wohl.«
»Jetzt brechen wieder die schönsten Wochen und Monate für alle an, die gern draußen sind«, meinte Jana nachdenklich. »Ich hab sicher anfangs Heimweh, wenn ich in Wien bin. Aber ich freu mich auch auf die Zeit, in der ich einen großen Schritt hinaus ins Leben machen darf.«
»Wann werdet ihr fortgehen?«, wollte der Doktor wissen.
»Schon sehr bald«, erwiderte Jana. Sie wirkte nun doch ein wenig bedrückt. »Übers Wochenende und dann bis zum nächsten Mittwoch wollen wir uns noch Zeit lassen. Aber dann ist es so weit – und wir sagen Servus. Sag zum Abschied leise Servus, das ist ein Lied, das ich von früher kenne. Meine Patin hat es manchmal gesungen, wenn sie sich nach einem Besuch verabschiedete. Es hat mich immer ein bisserl traurig gemacht. Dabei kam sie ja immer wieder. Und es geht der Tante Rosl ja auch heute noch gut. Freilich, man weiß nie ... in ihrem Alter ...«
»Tante Rosl ist ein bisserl steif und hat Kreuzschmerzen wie fast alle Leut mit fast achtzig. Das wirft sie net um. Werd nicht melancholisch«, wies Julian seine Schwester zurecht. »An Papas Geburtstag treffen wir uns eh alle wieder. Also im Herbst. Und vorher halten wir engen Kontakt. Versprochen! Ach ja – morgen fahren wir noch nach München. Jana und ich haben dort gute Freunde, mit denen wir manchmal ziemlich ausgelassen gefeiert haben. Um eine Abschiedsparty kommen wir net herum. Unsere Freunde würden es uns sehr übel nehmen, wenn wir uns einfach bei Nacht und Nebel davonmachen.«
»Julians erste große Liebe war eine Münchnerin«, verriet Jana. »Mila aus München. Ich hab ihn dauernd geneckt, weil er ganz vernarrt in sie war. Du denkst immer nur an deine München-Mila, mit diesem Satz hab ich ihn auf die Palme gebracht! Aber dann ging es doch auseinander. Die beiden sind aber bis heute gute Freunde geblieben. Mila ist längst wieder in einen anderen verliebt – aber Julian nicht. Er ist einfach zu wählerisch!«
»Das sagt die Richtige«, beschwerte er sich. »Du hast doch an jedem Burschen etwas auszusetzen, Jana. Meine Schwester lässt sich bestimmt nur mit einem Künstler ein, Herr Doktor, und zwar müsste der Betreffende sehr viel Feingefühl haben, aber auch jede Menge Energie. Er sollte ausschauen wie der Prinz aus dem Märchen, der Dornröschen wachgeküsst hat. Mindestens so, wenn nicht noch fescher.«
»Unsinn«, widersprach Jana. »Aber ein bisserl ansehnlich sollte er schon sein. Nicht wie Rumpelstilzchen oder König Drosselbart ...«
»Nimm den Froschkönig«, witzelte Julian. »Zuerst hast du ein possierliches Tierchen und dann – man glaubt es kaum – einen echt tollen Prinzen. Wie war das noch? Musste man den Frosch nicht küssen und an die Wand werfen, ehe er zum Prinzen wurde?«
»Ja, aber so etwas mache ich nicht. Vielleicht küssen, darüber müsste ich nachdenken. An die Wand werfen kommt nicht infrage, das wäre ja brutal. Ich bin tierlieb, bei mir dürfen sich auch Frösche wohlfühlen. Kein Frosch muss sich meinetwegen in einen Prinzen verwandeln!«
Dr. Burger betrachtete die Geschwister mit einem Schmunzeln. Er kannte sie schon lange. Natürlich waren sie jetzt erwachsen, aber sie besaßen immer noch dasselbe nette, ein bisschen schelmische Lächeln von einst.
Seine Praxis in St. Christoph war für die beiden – und viele andere Patienten – hin und wieder die rettende Anlaufstelle bei kleinen und größeren Wehwehchen gewesen.
Inzwischen zählte Julian zweiundzwanzig Jahre, Jana zwanzig. Sie hingen sehr aneinander. Wenn sie sich gelegentlich ein bisschen in die Haaren gerieten, dann war es ganz schnell wieder vergessen. Harmlose Sticheleien, mehr nicht. Sie waren immer »Brüderchen und Schwesterchen« gewesen, »herzige« Kinder mit einem freundlichen und sonnigen Wesen.
Wenn sie früher zusammen aufgetaucht waren, zum Beispiel als »Klöpfelkinder« in der Vorweihnachtszeit, um in ihren viel zu großen Lodenumhängen eine kleine Gabe für die Kinder aus dem Waisenhaus St. Marien zu sammeln, hatte man sie nie ohne ein Almosen wieder gehen lassen.
Den Brauch des »Klöpfelns« gab es auch heute noch. Die Klöpfelkinder aus der Gemeinde sangen zum Dank für die Spende ein Liedchen und freuten sich sehr, wenn man ihnen noch einen Riegel Schokolade oder ein paar Kipferln als »Wegzehrung« zusteckte. Schön, dass kleine Süßigkeiten auch heute noch echte Freude bei den Kindern im Tal auslösten.
Es musste wirklich nicht immer viel sein. Bescheidenheit war hier und da leider selten geworden oder wurde sogar belächelt.
Nicht so in den Bergen, denn wer zum Beispiel hoch droben in den einsamen Weilern wohnte und nicht mal eben zum Einkaufen um die Ecke gehen konnte, der schätzte auch Kleinigkeiten und hatte eh eine ganz andere Einstellung zum Leben als diejenigen, die sich alle möglichen Wünsche erfüllen konnten.
Zum Beispiel trugen die Kinder aus den Berghöfen im Winter dicke, einfache Wollpullis, die meisten die Ahnl gestrickt hatte. Kinder aus der Stadt hätten so etwas nicht angezogen. An ihren Pullis und Jacken prangten Labels bekannter Hersteller. Und wer sich das nicht leisten konnte, wurde oft verspottet und verhöhnt.