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Es scheint fast so, als würde das Unglück die alleinerziehende Lisa Windbichler und ihre kleine Tochter Charlotte verfolgen. Alles läuft schief! Ihre Beziehung zerbricht, sie verliert ihren Job, und dann weist ihr eigener Vater ihr auch noch die Tür. Erst als Lisa durch Vermittlung des Bergdoktors eine Bleibe auf dem Hof des verwitweten Anselm Wallner findet, geht es endlich wieder bergauf. Sogar eine Werkstatt darf sich die Trachtenschneiderin in einer leeren Scheune einrichten. Doch kaum sieht Lisa am Horizont ein zartes Licht schimmern, da schlägt das Schicksal erneut erbarmungslos zu ...
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Seitenzahl: 130
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Dr. Burger und die Tränen der Trachtenschneiderin
Vorschau
Impressum
Dr. Burger und die Tränen der Trachtenschneiderin
Berührender Roman um einen unerwarteten Rückschlag
Von Andreas Kufsteiner
Es scheint fast so, als würde das Unglück die alleinerziehende Lisa Windbichler und ihre kleine Tochter Charlotte verfolgen. Alles läuft schief! Ihre Beziehung zerbricht, sie verliert ihren Job, und dann weist ihr eigener Vater ihr auch noch die Tür. Erst als Lisa durch Vermittlung des Bergdoktors eine Bleibe auf dem Hof des verwitweten Anselm Wallner findet, geht es endlich wieder bergauf. Sogar eine Werkstatt darf sich die Trachtenschneiderin in einer leeren Scheune einrichten. Doch kaum sieht Lisa am Horizont ein zartes Licht schimmern, da schlägt das Schicksal erneut erbarmungslos zu ...
»Ich fühl' mich hundeelend, Herr Doktor.« Franz Windbichler ließ sich schnaufend in den Sessel vor dem Schreibtisch seines Hausarztes sinken.
Er war seit beinahe vierzig Jahren Patient in der Burger-Praxis. Früher noch bei dem alten Landarzt, bis dieser seine Praxis an seinen Sohn übergeben hatte. In all den Jahren war Franz zweimal ernstlich krank gewesen. Einmal mit einer Blutvergiftung, nachdem ihn der Hund seines Nachbarn gebissen hatte, und einmal mit einer Lungenentzündung nach seinem Sturz in den Gebirgsbach.
Diesmal führte ihn jedoch etwas anderes ins Doktorhaus von St. Christoph und ließ ihn unruhig auf seinem Platz herumrutschen.
»Diese Schmerzen machen mich noch ganz narrisch.«
Dr. Burger beugte sich ein wenig vor. Seine braunen Augen blickten wach und gütig in die Welt. Kein Detail schien ihnen zu entgehen.
»Wo genau tut's dir weh, Franz?«
»Hier um die Brust herum!« Franz deutete einen Halbkreis um seinen Brustkorb an. »Es zieht und zwackt, dass ich mir keinen Rat mehr weiß. Ob das vom Herzen kommt?«
»Möglich wäre es. Es kommen aber auch andere Ursachen in Betracht. Wie wollen net gleich vom Schlimmsten ausgehen.«
Franz nickte dankbar. Die Ruhe, die sein Hausarzt ausstrahlte, wirkte beruhigend auf ihn.
»Wie lange hast du diese Schmerzen schon?«
»Vor zwei Nächten hat es angefangen. Es war erst net so arg, aber es wird schlimmer. Ich bin ständig müde. Hunger hab ich auch keinen. Net mal auf das Schokoladensoufflé meiner Frau.«
»Hast du noch andere Symptome? Fieber vielleicht?«
»Fieber net, aber einen merkwürdigen Ausschlag. Als hätte ich mich verbrannt. Hab ich aber net.« Franz zog sein Hemd aus, um dem Arzt das Elend zu zeigen. Tatsächlich zog sich ein rotes Band um seinen halben Brustkorb.
Dr. Burger betrachtete den Ausschlag sorgfältig. Dann nahm er sein Stethoskop und hörte sein Herz und die Lungen ab. Anschließend machte er ein EKG, schaute in die Ohren des Patienten und unterzog seinen gesamten Körper einer gründlichen Untersuchung.
»Bis auf den Ausschlag ist nichts Ungewöhnliches zu finden.«
»Warum schmerzt das so? Wenn das von meinem Herzen kommt ...«
»Kommt es net. Darum musst du dich net sorgen. Sag, hast du als Kind die Windpocken gehabt?«
»Windpocken?« Überrascht riss der Bauer den Mund auf. »Freilich, aber das ist schon lange her und gar nimmer wahr. Sagen Sie bloß, das sind noch mal die Windpocken?«
»Net direkt. Diese Erkrankung hast du überstanden. Damals ist das Virus allerdings net vollständig aus deinem Körper verschwunden. Es bleibt lebenslang im Körper und nistet sich in den Nerven ein. Auch nach vielen Jahren können sich diese Viren wieder vermehren und entlang der Nerven unter die Haut wandern. Dort entwickelt sich dann eine Gürtelrose.«
»Warum heißt das so?«, fragte Franz.
»Der Name rührt von der oft gürtelartigen Ausprägung des Ausschlags her. Dieser kann sich überall am Körper entwickeln.«
»Und warum bricht das gerade jetzt bei mir aus?«
»Nun, das könnte am Stress liegen, an einer geschwächten Immunabwehr oder einfach am zunehmenden Alter.«
»Das Alter bringt allerlei Dinge, die man net gebrauchen kann«, brummte Franz. »Gürtelrose hab ich also?«
»So ist es. Die Erkrankung wird auch Herpes Zoster genannt.«
»Das habe ich bestimmt gleich wieder vergessen, Herr Doktor. Gürtelrose kann ich mir da schon besser merken. Und was können Sie dagegen tun?«
Dr. Burger druckte ihm ein Rezept aus.
»Diese Medikamente sollten dir über die nächsten Tage helfen und verhindern, dass die Erkrankung schlimmer wird.«
Franz blickte auf die Namen hinunter, die ihm nichts sagten.
»Was ist das alles?«
»Ein Schmerzmittel, eine Emulsion gegen das Jucken und ein Medikament, das die Vermehrung des Virus in deinem Körper verhindern soll.«
»Ein Schmerzmittel? Muss ich das wirklich nehmen? Von dem Zeug wird mir immer so flau im Magen.«
»Die Schmerztherapie ist wichtig, damit die Schmerzen net chronisch werden. In den nächsten Tagen solltest du größere Anstrengungen vermeiden und auf Alkohol verzichten.«
»Das Schnapserl am Abend wird mir net fehlen, aber Schonung ist auf einem Hof net drin.«
»Sie ist wichtig, damit sich dein Körper in Ruhe erholen kann. Der Ausschlag wird bald Bläschen bilden, die mit einer Flüssigkeit gefüllt sind. Diese enthält viele Viren. Andere Menschen sollten damit net in Kontakt kommen. Sie könnten sich anstecken, wenn sie die Windpocken noch net hatten.«
»Das wird meine Frau net gerade freuen. Sie hat es net so mit Ausschlägen oder Krankheiten.«
»Hat sie die Windpocken bereits durchgemacht?«
»Das weiß ich gar net. Danach muss ich sie fragen.«
»Tu das. Und komm bitte in einer Woche zur Kontrolle wieder her. Dann schaue ich mir an, wie die Heilung verläuft.«
»Okay, Herr Doktor.« Franz zog sein Hemd wieder an. Dann faltete er das Rezept und schob es in seine Hemdtasche. »Haben Sie vielen Dank.«
»Gute Besserung, Franz. Die Bärbel wird dir draußen einen neuen Termin geben.«
Franz nickte, verabschiedete sich und stapfte aus dem Sprechzimmer. Am Empfang saß die junge Sprechstundenhilfe seines Hausarztes. Auf seine Bitte notierte sie ihm den Termin auf einem Zettel und reichte ihm den mit einem herzlichen Lächeln. Es wärmte ihm noch das Herz, als er die Praxis bereits verlassen hatte und sich nach einem Abstecher in die Apotheke auf den Heimweg machte.
***
Der Windbichler-Hof stand am Waldrand, nur eine Viertelstunde vom Doktorhaus entfernt. Der Pfad führte zwischen grünen Wiesen hindurch und steil bergauf, sodass Franz tüchtig abgekämpft und außer Atem daheim anlangte. Er konnte es kaum erwarten, sich ein Stündchen auf die Bank vor seinem Bauernhaus zu setzen, die warmen Strahlen der Abendsonne zu genießen und sich etwas auszuruhen, ehe ihn die Stallarbeit wieder rief.
Die Stimme seiner Frau war schon von Weitem zu hören.
»Was hast du nur gemacht, du ungeschicktes Ding! Das Laken war blitzsauber, und nun schau es dir an! Voller Grasflecken! Das musst du noch einmal waschen.«
Leises Gemurmel antwortete ihr.
»Nun trödle hier net herum, Mina! Mach dich an die Arbeit!«
Franz seufzte. Mina war die neue Magd auf seinem Hof. Die vierte in diesem Jahr. Keine hielt es länger als ein paar Wochen bei ihnen aus. Eine war sogar nach einem Tag auf und davon. An der Bezahlung lag es nicht, er war nicht knauserig. Allerdings verlangte seine Frau nichts weniger als Perfektion, und sie vergalt jedes Missgeschick mit harten Worten.
Dabei war seine Brigitte früher so lieb und anschmiegsam gewesen. Zumindest hatte er das bis zur Hochzeit geglaubt.
»Franz, da bist du ja endlich!« Sie hatte ihn entdeckt und kam mit wehendem Rock auf ihn zu.
»Es hat ein bisserl länger gedauert, als ich dachte.«
»Ein bisserl? Inzwischen hab ich die Gartenarbeit beendet. Dabei solltest du dich um das Unkraut kümmern. Es ist ja net so, als hätte ich nix anderes zu tun.« Sie bedachte ihn mit einem mahnenden Blick. »Was hat denn der Doktor gesagt?«
»Ich hab Gürtelrose.«
»Das auch noch. Hoffentlich hat er dir gute Medikamente verschrieben.«
»Glaub schon. Sag, hattest du bereits die Windpocken?« Er bemerkte, wie sie zusammenzuckte. Über Krankheiten sprach sie nicht gern. »Es wäre wichtig.«
»Sicher hatte ich die.« Sie wedelte mit der Hand, als könnte sie das Thema fortwischen. Dann zog sie ein Kuvert aus ihrer Rocktasche. Mit spitzen Fingern, als könnte es nach ihr schnappen. »Da ist ein Brief für dich gekommen.«
»Von wem ist er denn?« Verwundert, dass seine Frau ihm den Brief persönlich brachte, nahm er den Umschlag und spähte auf die Anschrift nieder. Jessas! Die weiche, runde Handschrift war ihm so vertraut, dass sein Herz einen schmerzhaften Satz machte. »Mei, der ist ja von Lisa.«
»Richtig.« Die Lippen seiner Frau waren nur noch ein Strich.
Franz strich über das Kuvert, während ihm das Herz blutete. Lisa war seine Tochter aus seiner ersten Ehe. Als sie zur Welt gekommen war, schien alles perfekt zu sein ... Sein Leben mit Thea und der kleinen Lisa war so lange her, dass es ihm vorkam, als hätte es ein anderer Mann geführt und nicht er.
»Willst du net reinschauen?« Seine Frau beäugte ihn kritisch.
»Doch, natürlich.« Er besann sich und riss das Kuvert auf. Es enthielt eine Karte mit wenigen, verzweifelten Zeilen. Er überflog sie und ertrug es kaum, seine Frau anzusehen.
»Was will sie?« Brigitte zog eine Augenbraue hoch. »Geld?«
»Nein ... Sie möchte heimkommen.«
»Dieses unverschämte Ding!« Seine Frau stemmte die Hände in die Hüften. »Schreib ihr, daraus wird nichts. Wir haben keinen Platz für sie.«
»Aber, Brigitte, sie braucht uns ...«
»Nein, sag ich. Ich kann mir schon denken, warum sie es sich plötzlich anders überlegt hat. Vermutlich hat ihr Freund sie sitzen lassen. Das geht uns aber nichts mehr an. Deine Tochter hat sich vor sechs Jahren entschieden, uns zu verlassen. Nun soll sie damit leben.«
Franz knirschte mit den Zähnen, und dann zerriss er die Karte.
Seine Frau nickte zufrieden. Sie wusste nicht, dass er mit dem Papier auch etwas in sich selbst zerfetzte. Niemand wusste, welchen Preis er seit vielen Jahren bezahlte ...
»Du musst noch mal los, Franz«, sagte seine Frau in bestimmtem Ton, »und unseren Sohn von der Schule abholen.«
»Ist sein Mofa kaputt?«
»Das net, aber die Rektorin lässt ihn net damit fahren.«
»Was hat er angestellt?«
»Nix weiter. Hol ihn einfach ab, ja?«
»Brigitte. Erzähl es mir. Was hat Ben angestellt?«
»Er ...« Sie zögerte, dann brachte sie widerstrebend hervor: »Er hat mit ein paar anderen in der Schule Bier getrunken.«
»In der Schule? Alkohol?!«
»Er hat sich halt verleiten lassen.«
»Kein Wunder, dass die Rektorin ihn net mit dem Mofa fahren lassen will. Das werden wir auch net. In den nächsten Wochen kann er den Schulbus nehmen und darüber nachdenken, wie er sich in der Schule verhalten sollte.«
»Du willst ihm sein Mofa wegnehmen?« Seine Frau sah ihn so entgeistert an, als hätte er vorgeschlagen, ihrem Sohn den Schlaf zu entziehen.
»Von Wollen kann keine Rede sein.« Franz fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Er war müde, ihm war schwindlig, und sein Ausschlag schmerzte. Er wollte dieses Gespräch jetzt nicht führen, aber er musste es tun. »Wir müssen ihm seine Grenzen aufzeigen, sonst wird er es nie lernen.«
»Nein.« Seine Frau schüttelte lebhaft den Kopf. »Das kannst du net machen, Franz. Unser Junge ist auf das Mofa angewiesen. Hierherauf fährt doch kaum einmal ein Bus. Außerdem ist ein Schluck Bier nun wirklich kein Kapitalverbrechen. Ich bin sicher, er hat sich von diesem Oliver dazu bringen lassen, das Zeug zu probieren. Der Bursche hat einen schlechten Einfluss auf ihn. Ben würde sonst nie ...«
Seine Gedanken schweiften ab, während seine Frau weitere Entschuldigungen für ihren Sohn suchte. Er dachte an Lisa und daran, dass seit sechs Jahren kein einziger Tag vergangen war, an dem er sie nicht vermisst hatte. Nun würde sie umsonst auf eine Antwort von ihm warten.
Verzeih mir, mein Madel, murmelte er. Ich kann net anders. Eines Tages wirst du es verstehen ...
***
Oje, da braute sich etwas zusammen! Lisa beobachtete voller Sorge, wie sich der Himmel über den Bergen allmählich violett verfärbte. Auch wenn sie seit sechs Jahren nicht mehr hier gewesen war, wusste sie genau, was das bedeutete: Eine Gewitterfront näherte sich von Norden her!
Wenn das bloß kein schlechtes Vorzeichen war! Sie umklammerte das Lenkrad ihres roten Kleinwagens. Sie hatte ihn gebraucht gekauft, aber er war zuverlässig und sparsam im Verbrauch.
Lisa steuerte eine Bergstraße an, die von Mayrhofen kommend hoch in die Zillertaler Berge führte. Ein Hinweisschild verriet, dass es hier nach St. Christoph ging. Das war ihr Heimatdorf. Wobei ihre Heimat schon lange nicht mehr dort war. Allerdings hoffte sie, sie nun wieder hier zu finden.
Hoffentlich nahm der Vater sie auf. Wo sollte sie sonst hin mit der Kleinen? Ihr wurde ganz heiß bei dem Gedanken, er könnte sie fortschicken. Lisa kurbelte das Seitenfenster herunter. Nicht zu weit, damit Charlotte in ihrem Kindersitz keine Zugluft abbekam. Ihre Tochter juchzte, als sie den Stillup Speicher in der Nähe entdeckte.
»Ein See, Mama! Guck! Können wir dort schwimmen üben?«
»Das ist kein Badesee, Lottchen. Das ist ein Stausee. Dort wird das Wasser aus den Bergen aufgefangen und gesammelt. Der Stausee dient der Energiegewinnung und verhindert Hochwasser im Tal. Man darf dort leider net schwimmen.«
»Och. Gar net?«
»Ich fürchte, nein.« Im Rückspiegel fing Lisa einen enttäuschten Blick ihrer Tochter auf. Mit ihren fünf Jahren konnte Charlotte es kaum erwarten, endlich zur Schule zu kommen. Sie hatte ein schmales Gesicht mit leuchtend grünen Augen, die Lisa an ihre Mutter erinnerten. Ein Band aus Sommersprossen zog sich über ihren Nasenrücken. Und ihre beiden Zöpfe waren genauso hellblond wie Lisas lange Haare.
Charlotte liebte Wasser, Enten und wünschte sich sehnlich, schwimmen zu lernen.
Auf ihrem rechten Arm zeichnete sich ein kleiner blauer Fleck ab. Der Schreck fuhr Lisa in alle Glieder.
»Hast du dich am Arm gestoßen, Spatzerl?«
»Weiß net.« Charlotte rubbelte sich den Arm.
Oh nein! Ich darf mich net verrückt machen, dachte Lisa. Kinder spielen und bekommen auch mal blaue Flecken, wenn sie net achtgeben. Das ist ganz normal und bedeutet gar nix.
Trotzdem fröstelte sie mit einem Mal.
Ihre Tochter spähte aus dem Fenster.
»Kann man auf Opas Hof schwimmen?«
»Net auf dem Hof. Im Wald gibt es einen See, den Kuckuckssee, aber der ist net zum Baden zu empfehlen. Er bekommt sein Wasser von den Gletschern und ist bitterkalt.«
»Was ist ein Gletscher, Mama?«
»Das sind riesige Eismassen auf den Bergen. Und von da kommt das Wasser in dem See, und darum ist es so kalt.«
»Es ist mir egal, wenn das Wasser kalt ist, Mama. Ich möchte wirklich gern schwimmen lernen.«
»Vielleicht warten wir damit lieber noch ein Jahr, bis du kräftiger bist.«
»Ich bin kräftig. Guck!« Charlotte, die auf der Rückbank saß, winkelte einen Arm an. »Ich hab richtige Muskeln!«
Vor dem Wagen huschten mehrere Hühner über die Straße, deshalb konnte sie nicht gleich antworten. Die Straße war steil und verlief in engen Serpentinen. Lisa brauchte all ihre Konzentration, um nicht von der Fahrbahn abzukommen.
Lottchen wollte gern schwimmen lernen, und Lisa fand das auch wichtig, aber gleichzeitig fielen ihr hundert Gründe ein, warum das gerade keine gute Idee war. Ihre Kleine hatte in ihrem kurzen Leben schon so viel durchgemacht, das durfte sich auf keinen Fall wiederholen.
Das kleine Madel widmete sich wieder ihrer Puppe und erzählte ihr, dass sie an diesem Tag endlich ihren Großvater kennenlernen würde. Sie konnte es kaum erwarten und sprach seit Wochen von nichts anderem. Hoffentlich würde er sie nicht enttäuschen.
Lisa war es schwer ums Herz. Sie fürchtete sich vor dem Wiedersehen mit ihrer Familie. Der Abschied vor sechs Jahren war alles andere als herzlich gewesen. Ihre Briefe hatte ihr Vater nie beantwortet, aber seine Enkelin würde er bestimmt nicht abweisen. Das hoffte sie zumindest.
Nur noch wenige Kilometer, dann waren sie am Ziel. Vor sechs Jahren hatte sie den Hof verlassen, mit der Absicht, nicht zurückzublicken. Nun stand sie vor den Trümmern ihrer Hoffnungen und brauchte dringend ein Zuhause für sich und ihre Tochter.
Was, wenn ihr Vater ihnen die Tür wies?
Das wird er net tun, versuchte sie sich zu beruhigen. Wir sind immer noch eine Familie.