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Ein Gewitter liegt in der Luft! Es ist drückend schwül, die Luft scheint zu köcheln. Mensch und Tier stöhnen und reagieren zunehmend gereizt. Jedes Wort wird auf die Goldwaage gelegt, und Kleinigkeiten bringen das Fass zum Überlaufen. Im Doktorhaus sind die Kinder ungewöhnlich zickig und strapazieren die Nerven ihrer Eltern.
Doch das ist nichts gegen die Fehde zwischen den Strassers und den Untersillers. Warum sich die Familien hassen, weiß eigentlich niemand so richtig. Es ist einfach so - seit Generationen.
Doch dann erhalten beide Familie eine Einladung von Dr. Burger. Er hat ein wichtiges Anliegen ...
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Seitenzahl: 116
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Feindessohn
Vorschau
Impressum
Feindessohn
Erst im Angesicht des Todes kommt es zur Versöhnung
Von Andreas Kufsteiner
Ein Gewitter liegt in der Luft! Es ist drückend schwül, die Luft scheint zu köcheln. Mensch und Tier stöhnen und reagieren zunehmend gereizt. Jedes Wort wird auf die Goldwaage gelegt, und Kleinigkeiten bringen das Fass zum Überlaufen. Im Doktorhaus sind die Kinder ungewöhnlich zickig und strapazieren die Nerven ihrer Eltern.
Doch das ist nichts gegen die Fehde zwischen den Strassers und den Untersillers. Warum sich die Familien hassen, weiß eigentlich niemand so richtig. Es ist ganz einfach so – seit Generationen.
Doch dann erhalten beide Familie eine Einladung in Dr. Burgers Praxis. Er hat ein dringendes Anliegen ...
»So. Wenn ihr nicht aufhört zu streiten, gibt's keinen Kuchen zur Nachspeise.« Der ältere Herr mit der stattlichen Figur und den schlohweißen Haaren runzelte verärgert die Stirn.
Die beiden Kinder, an die seine Worte gerichtet waren, ein achtjähriges Madel mit dunklen Zöpfen und ein fünfjähriger Bub mit einem frechen blonden Haarschopf, schauten betreten. So verfeindet die beiden auch gerade waren – aber auf den Kuchen wollten sie nun wirklich nicht verzichten müssen!
Schnell senkten sie ihre Köpfe und murmelten eine Entschuldigung. Dr. Pankraz Burger seufzte.
Der Siebenundsiebzigjährige war alles andere als ein »Sonntags-Großvater«. Er liebte es, Zeit mit seiner wilden »Rasselbande« zu verbringen, ihnen Geschichten vorzulesen und die Natur zu erklären.
Aber die letzten Tage waren für ihn dennoch überaus anstrengend gewesen. Sein Sohn, Dr. Martin Burger, hatte in seiner Landarztordination gerade viel zu tun, und die Schwiegertochter Sabine war ebenfalls rund um die Uhr beschäftigt. Die ausgebildete Anästhesistin hatte versprochen, einen wissenschaftlichen Beitrag für eine Ärztezeitung zu verfassen, und sie nahm diese Aufgabe überaus ernst.
Inzwischen hatte sich Sabine Burger so in die spannende Materie vertieft, dass sie kaum noch ansprechbar war. Stundenlang saß sie am Computer, recherchierte und schrieb.
Ausgerechnet jetzt war zudem die Haushälterin der Familie Burger, Zenzi Bachhuber, für zwei Wochen zu einer erkrankten Cousine nach Jenbach gereist. Pankraz Burger, der eigentlich dieser Tage im Schlössl des Barons von Brauneck an einem Schachturnier hatte teilnehmen wollen, hatte selbstverständlich die Kinderbetreuung übernommen, denn in einer Familie war es halt einmal so, dass einer für den anderen da war.
Dennoch haderte Pankraz an diesem Nachmittag mit seiner Gutmütigkeit. Die Sommerferien dauerten schon lange – zu lange seiner Meinung nach – und weil es das Wetter nicht erlaubte, konnte er mit den Kindern nicht zum Badesee fahren. Seit Tagen kündigte sich über dem Ort ein Gewitter an. Die Luft war schwer und viel zu drückend, die Bewohner von St. Christoph rechneten jeden Moment mit einem heftigen Ausbruch von Blitz und Donner.
Normalerweise war Pankraz Burger wirklich gern mit seinen Enkelkindern zusammen. Aber inzwischen gingen ihm die Ideen aus, was man noch unternehmen könnte. Sie waren schon durch den Wald gestreunt, um die Spuren von Wildtieren zu erforschen und Materialen für Naturbilder zu sammeln. Sie hatten »Mensch-ärgere-dich-nicht« und »Monopoly« gespielt, und Pankraz hatte sich sogar breitschlagen und sich von seinem jüngsten Enkelkind Laura als Prinzessin verkleiden lassen.
Aber jetzt waren die Ideen des Siebenundsiebzigjährigen erschöpft, und er selbst war es auch. Noch dazu kamen die Kinder seit Tagen nicht aus dem Streiten heraus. Vor allem die beiden Großen, Tessa und Filli (mit richtigem Namen hieß er Philipp), fanden immer einen Grund, um aufeinander loszugehen.
Pankraz seufzte abermals.
»Das liegt am Wetter, Herr Doktor«, sagte ein Mann, der gerade an der kleinen Gruppe vorüber radelte. »Kinder sind nun einmal besonders feinfühlig. Und die Gewitterspannung liegt ja schon seit Tagen in der Luft. Da muss unsereins die Nerven bewahren, auch wenn's schwerfällt!«
Der Radfahrer war Thomas Werth, der Lehrer von St. Christoph. Er musste es wissen und war ziemlich sicher froh, dass auch er Ferien hatte und sich nicht um die Streitereien der Kinder kümmern musste. Thomas Werth lächelte dem alten Doktor freundlich zu und radelte weiter.
Pankraz Burger fasste seine beiden älteren Enkelkinder an den Händen. Er ließ sich unter Mühen in die Hocke sinken, um den Kleinen direkt in ihre Gesichter zu schauen – bei seinem Hang zur Körperfülle war das gar nicht so einfach!
Dass sie sich mitten auf der Hauptstraße des Dörfchens befanden und dass jetzt sicherlich einige neugierige Blicke auf ihn gerichtet waren, kam noch dazu. Aber das spielte keine Rolle. Sollten die Leute nur sehen, dass auch der Altdoktor als Großvater mit den ganz gewöhnlichen Herausforderungen des Alltags zu kämpfen hatte. In diesem Fall mit der Laune der Kinder.
Nun ja, vielleicht hatte Lehrer Werth ja recht, und die Streitlust hatte mit dem Wetter zu tun: Seit Anfang der Woche verbarg sich eine gleißende Sonne hinter einer dicken Wolkenschicht. Die Luft im Ort schien zu köcheln. Das schlug nicht nur den Kindern aufs Gemüt.
»Ich will ja artig sein, Opa«, beteuerte Tessa mit einem kessen Augenaufschlag. »Aber was soll ich machen? Der Filli ärgert mich halt ständig!«
»Gar nicht wahr!«, brüllte der kleine Bub und holte auch schon kräftig aus, um seiner Schwester gegen das Schienbein zu treten.
»Aus! Eine Ruh ist!«, sprach Pankraz Burger ein Machtwort. Insgeheim ärgerte er sich über das Dilemma, in das er sich selbst gebracht hatte. Seine Schwiegertochter Sabine und Martin freuten sich nämlich schon sehr auf den Kuchen, den er mitzubringen versprochen hatte. Nun hatte er den Kindern aber »gedroht«, die Nachspeise zu streichen, sollten sie nicht brav sein. Wie kam er bloß wieder aus diesem Schlamassel heraus?
Als Dorfarzt hatte Pankraz diesbezüglich ein leichteres Leben gehabt, denn die meisten Patienten waren seinen Anweisungen brav aufs Wort gefolgt. Die Kinder waren da schon viel härtere »Gegner«, denn sie wickelten ihren Opa mit Leichtigkeit um den Finger.
Pankraz Burger beschloss, seiner Schwiegertochter, die sich normalerweise mit den Alltagssorgen der Kinder herumschlug, einen großen Blumenstrauß mitzubringen.
»Jetzt hört einmal zu«, sagte er leise, aber mit großväterlicher Autorität. »Soll ich euch ein Geheimnis verraten, wie man einen Streit beendet?«
Die Kinder nickten wissbegierig.
»Zuerst müsst ihr beide mindestens fünf Minuten lang schweigen. Kein Wort!«, sagte Pankraz und hob den Zeigefinger. »Und das ist wahrlich net einfach. Danach wird es aber erst recht schwierig, denn dann kommt der eigentliche Zaubertrick.« Die Kinder lauschten gebannt. »Dann nämlich, aber wirklich erst, wenn ihr die fünf Minuten in völligem Schweigen überstanden habt, muss jeder von euch als allererstes etwas Nettes sagen. Das kann gern etwas Allgemeines sein, über das Wetter oder ein schönes Blümerl am Wegrand.«
»Und dann?«, wollte Tessa wissen.
»Dann sind wir vielleicht schon bei Almas Einkaufsparadies, und ich werde mein Versprechen halten und leckeren Kuchen kaufen, solange ihr nicht mehr streitet.«
Der alte Herr hob den Finger und gab mit einem Klopfen auf seine Uhr das Startsignal für die Übung. Sofort schnappten zwei kleine Münder zu.
Filli, der seine Aufgabe allzu ernst nahm, hielt im Eifer sogar die Luft an. Allerdings schaffte er das nicht lange, er begann zu prusten und schnaufte danach los wie eine kleine Dampflokomotive. Schon öffnete Tessa ihren Mund, um das rote Gesicht des Bruders boshaft zu kommentieren, aber ein strenger Blick ihres Großvaters brachte sie rechtzeitig zum Schweigen.
Auf diese Weise erreichten die drei schließlich doch noch friedlich den kleinen Gemischtwarenladen in der Dorfmitte: Almas Einkaufsparadies.
Die Inhaberin, Alma Jeggl, war eine lustige ältere Frau mit rosa Apfelbäckchen und feinen silbernen Löckchen. Sie war freundlich und hatte für ihre Kunden stets ein offenes Ohr – und für die Kinder außerdem die eine oder andere Nascherei in ihrer »Geheimschublade«. Der Anreiz, in Almas Laden einzukaufen, war für die Kinder des Ortes also immer recht groß.
St. Christoph lag am Ende einer kurvenreichen Bergstraße, die im schönen Tiroler Zillertal hinter Mayrhofen abzweigte. Folgte man den Serpentinen, erblickte man nach einiger Zeit den goldenen Zwiebelturm der Dorfkirche, welcher von einem Wetterhahn gekrönt wurde.
Zwei hügelige Erhebungen bestimmten das Ortsbild. Auf der höheren prangte das hübsche Barockschlössl, in dem Baron Markus von Brauneck mit seiner Familie lebte. Den etwas kleineren Hügel zierte ein rustikaler Hotelbau, das Berghotel »Am Sonnenhang«. In der Dorfmitte von St. Christoph befanden sich nicht nur die Kirche und die Bushaltestelle, sondern auch Alma Jeggls »Einkaufsparadies« und das urige Gasthaus »Zum Ochsen«.
Die Bewohner des Ortes waren stolz auf ihr St. Christoph und die herrliche Bergwelt, die das Dorf malerisch umgab. Die meisten von ihnen waren Bauern, die in stiller Eintracht ihre Felder und Almen bewirtschafteten. Weil der Ort doch sehr weit gestreut in der Landschaft lag, waren nicht alle miteinander eng vertraut, auch wenn sich freilich alle Dorfbewohner kannten.
Einen gab es allerdings, der von Freundschaften, Familiengeheimnissen und Rivalitäten wusste – und das war der Arzt von St. Christoph. Dr. Martin Burger, Pankraz' Sohn und Nachfolger, den die Dorfbewohner respektvoll den »Bergdoktor« nannten, hatte die meisten Kinder auf die Welt geholt und jede Krankheit – so es möglich war – kuriert. Die Dorfbewohner vertrauten ihm so sehr, dass sie in der Praxis bisweilen auch das eine oder andere nicht-medizinische Problem zur Sprache brachten.
Pankraz, der in seiner aktiven Zeit ebenfalls einen guten Ruf als Diagnostiker gehabt hatte, war sehr stolz auf seinen Sohn, und er liebte die Familie, die sich dieser geschaffen hatte.
***
»Da sind ja der Nico und die Lissi!«, brach der kleine Filli um ein paar Sekunden zu früh sein Schweigegelübde.
Pankraz Burger sah zwar kurz auf seine Uhr, aber er hielt es für klüger, Filli nicht für seine Ungeduld zu ermahnen. Denn ausnahmsweise war Tessa mit ihrem Bruder einer Meinung.
Die Kinder, die eben mit ihrer Großmutter den Gemischtwarenladen betraten, waren Tessas und Fillis Freunde aus der Schule beziehungsweise dem Kindergarten, und sie stimmten ebenfalls in den Begrüßungsjubel ein, als sie die beiden Doktorkinder erblickten.
»Als hätten sie sich nicht grad erst gestern zum Spielen gesehen«, sagte die Großmutter der beiden Kinder mit einem nachsichtigen Lächeln zum Altdoktor von St. Christoph. »Grüß Gott, Herr Doktor Burger.« Sie zupfte das Mädelchen, welches etwa so alt war wie Tessa, am Ärmel.
»Guten Tag, Herr Doktor Burger«, sagte das Kind schnell.
»Grüß euch, ihr zwei. Was treibt euch denn an einem Freitagnachmittag in den Laden?«, fragte Pankraz.
»Ich hatte diese Woche so viel um die Ohren, dass ich es nimmer geschafft hab, ein Brot zu backen«, gestand Martha Strasser, die Großmutter der Kinder.
»Und einen Kuchen!«, bettelte Fillis Kindergartenfreund Nico.
»Ja, bitte, Oma! Wir hätten sooo gern einen Kuchen. Oder ...« Der Blick des kleinen Mädchens blieb an einer kunstvollen Torte hängen, die in der Vitrine ausgestellt war. »Oder eine Torte. Sieh nur, Oma, das ist ja viel mehr als eine Torte. Sieh nur, die weiße Kutsche mit den zwei hübschen vorgespannten Pferdchen. Kann man sowas Schönes denn überhaupt essen?«
»Ja, freilich«, mischte sich nun die Alma Jeggl ins Gespräch. »Das ist alles aus Zuckerguss und zum Essen gemacht.«
Auch die beiden Burger-Kinder drückten sehnsüchtig ihre Nasen an der Vitrine platt, als sie die kunstvolle Torte in Form einer Prinzessinnenkutsche bestaunten.
»Ich bin sicher«, sagte Martha Strasser sanft zu Tessa, »dass eure Hauserin, die Zenzi, mindestens so schöne Torten bäckt. Hier im Ort wissen wir doch alle, dass an ihre Koch- und Backkünste nur die Clementine vom Schlössl heranreicht.«
»Aber eine Kutsche ...«, seufzte Tessa voller Verlangen.
»Schauen wir mal, Schneckerl«, sagte Pankraz Burger und schob seine Enkeltochter behutsam wieder in die Reihe zurück. »Wir sind ja noch gar net dran.« An die Bäuerin vom Strasserhof gewandt, fügte er hinzu: »Weißt du, Martha, unsere Zenzi besucht ihre Cousine in Jenbach. Deshalb kaufen wir heut' tatsächlich den Kuchen bei der Alma.«
Die Besitzerin des Gemischtwarenladens wandte sich nun an Martha Strasser und ihre beiden Enkelkinder. »Nun, was darf's für euch sein?«
Martha bestellte das Brot. Mit einem Seitenblick auf die kunstvolle Torte fragte sie dann mit leiser Stimme: »Ist die Torte etwa aus der Konditorei Limburger in Mayrhofen?«
Alma nickte. »Freilich. Du weißt ja, Martha, dass man dort die besten Kuchen im Umkreis kriegt. Und die Marie Untersiller ist so eine begabte Konditorin, die lässt sich immer was Neues einfallen. Wie, zum Beispiel, diese wunderschöne Kutsche. Mir tut es ja fast leid, dass ich sie nicht für immer in der Auslage stehen lassen kann!« Dabei schenkte die Gemischtwarenhändlerin den beiden Strasser-Kindern einen bedauernden Blick.
»Die Torte ist also von der Marie Untersiller. Leider«, flüsterte Martha so leise, dass ihre Enkelkinder sie nicht hörten. »Dann bitte nur das Brot.« Sie legte ihren Enkelkindern die Arme um die Schultern. »Und halt zwei Tafeln Schokolade für die Kinder.«
Alma nickte. Martha Strasser bezahlte und schob die protestierenden Kinder zur Tür hinaus.
»Warum hat die Frau Strasser die Torte net gekauft?«, fragte Tessa vorlaut. »Die Kinder haben es sich doch so gewünscht!« Die Tatsache, dass nun ihre eigenen Chancen auf das zuckrige Kunstwerk gestiegen waren, hielten das Mädchen nicht davon ab, die Schulfreundin zu bedauern. Pankraz liebte seine Enkeltochter für diesen Beweis ihrer Herzensgüte.
Filli hingegen erkannte die neuen Möglichkeiten, die sich boten.
»Wenn Nicos Oma die Torte nicht gekauft hast, kannst du das ja machen, Opa! Wir freuen uns darüber sicher genauso wie die Strasser-Kinder!«
Pankraz Burger musste schmunzeln. »Nein. Eure Mama hat von Kuchen gesprochen und net von einer kunstvollen Torten-Kutsche aus Zuckerguss. – Wir nehmen den Gugelhupf«, sagte der Altdoktor zur Alma Jeggl.
Unter anderen Umständen – wenn die Kinder braver gewesen wären – hätte er sich schon überreden lassen. Vor allem, wenn er an die Augen seines jüngsten Enkelkindes dachte. Klein-Laura liebte Torten, und sie liebte Prinzessinnen mit allem, was dazugehörte. Und sie liebte ihren Opa. Doch jetzt so ein großes Geschenk zu machen, wäre eindeutig die falsche Botschaft an die streitlustigen Kinder gewesen.
Auf der Straße wiederholte Tessa ihre Frage von vorhin: »Warum haben Lissi und Nico die schöne Torte net haben dürfen, Opa?«
Pankraz Burger überlegte, und er stellte fest, dass die Geschichte, die er zu erzählen hatte, gar nicht so ungelegen kam.