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Dr. Martin Burger wird um fünf Uhr morgens durch einen Anruf des Dorfgendarmen Ludwig Sirch aus dem Schlaf gerissen: An der Landstraße nach St. Christoph ist ein Kleinwagen schwer verunglückt. Als der Bergdoktor den Unfallort erreicht, kann er nur noch den Tod der Fahrerin feststellen. Im Fond des zertrümmerten Autos kauern zwei Kinder: die fünfjährigen Zwillinge Julia und Leon. Dr. Burger nimmt sie mit ins Doktorhaus.
Bald stellt sich heraus, dass sie nun ganz allein auf der Welt sind. Sabine Burger schlägt vor, sie zu den Moosgrubers ins alte Bauernhaus zu geben. Sie sind herzensgute Menschen mit einer großen Kinderschar. Tatsächlich geht es den Sorgenkindern bald besser. Doch dann taucht ein Mann auf, der alte Wunden aufreißt und Julia und Leon in Panik versetzt ...
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Liebe für zwei Sorgenkinder
Vorschau
Impressum
Liebe für zwei Sorgenkinder
Werden im alten Bauernhaus ihre Wunden heilen?
Von Andreas Kufsteiner
Dr. Martin Burger wird um fünf Uhr morgens durch einen Anruf des Dorfgendarmen Ludwig Sirch aus dem Schlaf gerissen: An der Landstraße nach St. Christoph ist ein Kleinwagen schwer verunglückt. Als der Bergdoktor den Unfallort erreicht, kann er nur noch den Tod der Fahrerin feststellen. Im Fond des zertrümmerten Autos kauern zwei Kinder: die fünfjährigen Zwillinge Julia und Leon. Dr. Burger nimmt sie mit ins Doktorhaus.
Bald stellt sich heraus, dass sie nun ganz allein auf der Welt sind. Sabine Burger schlägt vor, sie zu den Moosgrubers ins alte Bauernhaus zu geben. Sie sind herzensgute Menschen mit einer großen Kinderschar. Tatsächlich geht es den Sorgenkindern bald besser. Doch dann taucht ein Mann auf, der alte Wunden aufreißt und Julia und Leon in Panik versetzt ...
»Sag, Schatzerl, ist das net wunderbar? Nur du und ich und der blaue Himmel über uns.« Dr. Martin Burger küsste seine Frau auf die Nasenspitze und lachte, als sie sich halbherzig beschwerte: »Das kitzelt!«
»Soll es ja auch. Ein kleiner Wermutstropfen muss sein.«
Die hübsche Blondine Mitte der Dreißig schmiegte sich an ihren »Bergdoktor«. So wurde Martin Burger nämlich in St. Christoph im malerischen Zillertal allerorten geheißen. Der große, sportliche Landarzt, zu dessen Leidenschaft neben der Medizin und seiner Familie auch das Bergsteigen zählte, war eine echte Institution in diesem schönen Tiroler Landstrich.
Vor langen Jahren hatte er die Praxis in der Kirchgasse von St. Christoph von seinem Vater übernommen. Seither wussten die Menschen, dass sie jederzeit zu ihm kommen konnten. Ging es um ein gesundheitliches Problem oder einen Herzschmerz, niemand musste sich scheuen, bei dem lebenserfahrenen und klugen Mediziner Rat und Hilfe zu suchen.
Dass er die Fünfzig bereits überschritten hatte, sah man ihm nicht an. Ein paar graue Fäden im dichten, dunklen Haar, ein paar sympathische Lachfältchen um die Augen, mehr hatten die Zeichen der Zeit ihm nicht anhaben können. Er wirkte nach wie vor jung und kraftvoll, dynamisch und engagiert, stets bestrebt, seinen Mitmenschen zu helfen.
Woher er all die Energie nahm, die schier unerschöpfliche Kraft?
Nun, das war kein Geheimnis. Dr. Burger war Mediziner mit Leib und Seele, sein Beruf war für ihn Berufung. Die zweite Säule, auf der sein Leben ruhte, war seine Familie. Sie gab ihm Liebe, Halt und Kraft.
Neben Sabine, seiner bezaubernden Frau, waren da die drei munteren Kinder Tessa, Filli und Laura, der Großvater Pankraz und nicht zuletzt die Hauserin Zenzi Bachhuber, seit mehr als vierzig Jahren die Seele des Haushalts.
Harmonie und Glück dominierten das Privatleben des Bergdoktors und waren für ihn deshalb eine schier unerschöpfliche Quelle der Kraft.
Allerdings fragte Martin Burger sich nun, was wohl das aufdringliche Klingeln des Telefons auf dieser märchenhaften Alm zu suchen hatte. Erinnerte er sich recht, so hatte er den kleinen Quälgeist vor dem Schlafengehen auf den Nachttisch neben dem Bett gelegt. Schlafengehen?
»Martin, das Telefon!«
Das war auch Sabine Burger. Allerdings nicht in seinen Armen auf einer sommerlichen Alm, sondern direkt neben ihm im ehelichen Bett. Sie stupste ihn an und widerholte: »Das Telefon!«
Nun wurde ihm alles klar. Er öffnete die Augen, der schöne Traum verblasste und machte der intensiven Dunkelheit einer Mainacht Platz. Während Sabine sich mit einem Brummeln auf die andere Seite drehte, tastete Martin nach dem Schalter der Nachttischlampe. Als das schmale, gelbliche Lichtband aufflammte, beleuchtete es unbarmherzig den Wecker. Fünf Uhr!
Mit einem Seufzen nahm der Bergdoktor den Anruf entgegen.
Am anderen Ende der Leitung grummelte Ludwig Sirch, seines Zeichens Ordnungshüter von St. Christoph und Dorfgendarm mit einem Polizeiposten am Ortseingang: »Für einen Mann, der an Notfälle gewöhnt ist, haben Sie einen guten Schlaf, Doktor.«
»Ludwig, tut mir leid.« Er rieb sich die Augen. »Es war weniger der Schlaf als der Traum ...«
»So, so.« Der Sirch schnaubte: »Das gehört ja nun net hierher. Ich rufe nämlich dienstlich an. Vor einer halben Stunde hat der Zacherl, der Fahrer von der Genossenschaftsmolkerei in Schwaz, einen Unfall gemeldet. Auf seiner Tour über die Höfe ist ihm nämlich ein Kleinwagen aufgefallen, der komplett zertrümmert am Straßenrand liegt. Ich hab mich gleich auf den Weg gemacht und die Unfallstelle abgesperrt und in Augenschein genommen. Scheint so, als wäre die Fahrerin eingeschlafen, von der Fahrbahn abgekommen und an einer alten Kiefer gelandet. Die Burschen von der Bergwacht sind bereits vor Ort und bemühen sich, die Verletzten aus dem Wrack zu bergen. Die Fahrertür haben sie gerade geöffnet, jetzt sind Sie gefragt, Herr Doktor.«
Während Ludwig Sirchs Schilderung hatte Martin Burger sich routinemäßig angezogen, ohne viele Geräusche zu machen. Er nahm nun das Telefon mit in die Praxis, die in einem Anbau neben dem Doktorhaus zu finden war, griff sich dort seine Notfallausrüstung und sagte: »Bin schon unterwegs.« Dann legte er das Telefon auf seinen Schreibtisch im Sprechzimmer und verließ gleich darauf das Doktorhaus in der Kirchgasse, die in ihrem weiteren Verlauf am Pfarrhaus, der Kirche und dem Gottesacker hinauf zum nahen Krähenwald führte.
Die Dunkelheit und Stille der Nacht lagen noch über dem Zillertal, doch im Osten schimmerte direkt über dem Horizont, ganz schwach, aber bereits wahrnehmbar, ein leichter Hauch von pastelligem Licht, das den neuen Tag ankündigte.
Noch waren die sechs Bergspitzen, die St. Christoph umgaben, nicht zu erkennen. Aber irgendwo, nicht weit weg, vermutlich im nahen Krähenwald, waren bereits die ersten verhaltenen Vogelstimmen zu hören.
So sehr der Bergdoktor die Natur seiner Heimat liebte, so verbunden er hier mit allem war, nun hatte er keinen Sinn für diese ersten Anzeichen des neuen Tages. Er sprang in seinen Geländewagen und machte sich schnellstens auf den Weg zur Unfallstelle, die der Sirch ihm genau beschrieben hatte.
***
Es dauerte nicht lang, dann hatte Dr. Burger sein Ziel erreicht. Die Unfallstelle neben der Landstraße wurde von starken Scheinwerfern aus der Dunkelheit gerissen und wirkte dadurch deplatziert und kulissenhaft inmitten der Stille der ausgehenden Nacht.
Die Burschen der Bergwacht, die hier im Zillertal nicht nur für die Bergrettung zuständig waren, sondern auch Aufgaben übernahmen, für die andernorts die freiwillige Feuerwehr zuständig war, bemühten sich um die Verunglückten in dem völlig zertrümmerten Kleinwagen. Dominikus Salt, der Bergwachtleiter, sprach gerade mit Ludwig Sirch, als der Bergdoktor erschien.
»Gut, dass du kommst, Martin«, meinte der hagere Mann mit dem wettergegerbten Gesicht. Er war einer der wenigen Menschen im Tal von St. Christoph, der Dr. Burger beim Vornamen nannte.
Eine lange Zusammenarbeit zwischen der Bergwacht und Dr. Burger und eine noch längere Bergkameradschaft hatte die beiden unterschiedlichen Männer zusammengeschweißt. Beide wussten zu schätzen, was sie an ihrer Freundschaft hatten, und pflegten sie daher auch sorgsam.
»Die Frau regt sich nimmer«, merkte der beleibte Dorfgendarm an. »Und die Kinder haben sich im hintersten Winkel der Rückbank verkrochen.«
»Kinder?«, echote Dr. Burger.
»Zwei, sind ganz starr vor Schreck.«
Der Bergdoktor kümmerte sich zunächst um die Fahrerin des Kleinwagens. Sie war so fest zwischen Steuer und Sitz eingeklemmt, dass es ratsam schien, sie nicht zu bewegen. Das war auch nicht nötig, denn Martin Burger konnte nur noch den Tod der jungen Frau feststellen.
Bekümmert bat er die Bergwachtler, sie aus dem Wagen zu ziehen, damit er sich um die beiden Kinder kümmern konnte, die, nach Ludwig Sirchs Angaben, auf dem Rücksitz kauerten.
Nachdem die Verunglückte am Straßenrand unter einer Decke verschwunden war, telefonierte der Sirch mit der Gerichtsmedizin in Schwaz und sorgte dafür, dass sie zeitnah abgeholt werden konnte. Nun kam es aber erst einmal darauf an, dass die Kinder sie so nicht sahen.
In der Zwischenzeit war eine halbe Stunde vergangen. Die Dunkelheit der späten Nacht wich allmählich der Dämmerung, und Dr. Burger bat den Salt, die Scheinwerfer auszuschalten.
»Das grelle Licht wird die Kinder nur erschrecken. Ich seh' schon genug, im Auto brennt ja noch die Beleuchtung.«
»Ist schon recht.«
Martin Burger konnte sich nun ins Auto beugen und nach den Kindern schauen.
Der Sirch hatte nicht übertrieben. Sie kauerten tatsächlich ganz in der hintersten Ecke der Rückbank, hielten sich fest umschlungen und starrten den Bergdoktor aus unnatürlich geweiteten Augen an. Es waren ein Bub und ein Madel, Dr. Burger schätzte sie auf fünf oder sechs Jahre. In den schmalen, blassen Gesichtern saß das Grauen wie festgemeißelt.
Der Unfall hatte ihnen einen Schock versetzt. Und auch wenn sie vielleicht noch nicht wussten, dass ihre – vermutliche – Mutter nicht mehr am Leben war, so spürten sie doch mit dem sicheren Instinkt der Kinder, dass etwas Schreckliches geschehen war. Dr. Burger wusste, dass er nun sehr behutsam vorgehen musste. Da kam ihm seine Erfahrung als Vater zugute.
»Das wird net leicht«, meinte der Sirch.
»Der Martin findet schon den rechten Ton. Hab's fei noch nie erlebt, dass einer kein Zutrauen zu ihm gefasst hätte...«
Und Dominikus Salt sollte recht behalten. Nach einer Weile kletterten die Kleinen aus dem Wagen. Sie waren nur leicht verletzt worden bei dem Unfall. Das Madel hatte eine schmale Platzwunde auf der Stirn, der Bub humpelte.
»Wie haben Sie das gemacht?«, wunderte der Sirch sich.
»Die Kinder stehen unter Schock. Ich würde sie gern ins Doktorhaus mitnehmen, zur Beobachtung.«
»Hab nix dagegen«, brummte der Dorfgendarm. »Ich klär' das mit dem Jugendamt und stelle fest, um wen es sich handelt. Sie kamen offenbar aus Innsbruck.« Er deutete auf das Nummernschild. »Tragische Geschichte. Hoffen wir, dass die Kinder noch Verwandte haben und net im Heim landen.«
Der Wagen der Rechtsmedizin aus Schwaz näherte sich. Martin Burger setzte die Kinder rasch in seinen Geländewagen und fuhr dann zurück zum Doktorhaus.
Als er in die Kirchgasse einbog, läutete es eben sechs Uhr. Die Dämmerung hob sich allmählich, über dem Krähenwald schimmerte bereits ein Band goldenen Lichts.
Eine Stunde nur, dachte Dr. Burger und warf einen Blick in den Rückspiegel. Die Kinder schliefen, fest aneinander geschmiegt.
Eine Stunde nur, die vermutlich das Leben dieser beiden Kleinen für immer verändern würde ...
***
Trotz der frühen Stunde wurde Martin Burger daheim bereits erwartet. Sabine war es gewöhnt, bei einem Notfall parat zu stehen, um ihrem Mann zu helfen. Die hübsche Wienerin war selbst Ärztin, sodass die beiden sich meist ohne viele Worte verstanden.
Pankraz saß bei Zenzi in der Küche und trank einen Kaffee. Der alte Landarzt ging auf die Achtzig zu und hatte einen leichten Schlaf. Und die Hauserin wurde des Öfteren durch ihre hartnäckigen Rückenschmerzen von einem erholsamen Schlaf jenseits von Mitternacht abgehalten. Zenzi war dann froh, wenn sie aufstehen und sich strecken konnte.
Sie werkelte ein wenig herum, um sich die Zeit zu vertreiben, bis das Frühstück anstand. Im Doktorhaus legte man großen Wert auf die gemeinsamen Mahlzeiten. Die Familie saß dann beisammen, und man schwatzte über alles, was einem wichtig war oder gerade in den Sinn kam.
Poldi, der Familiendackel, schlief allerdings noch friedlich in seinem Körbchen. Er wurde erst munter, wenn das Trockenfutter in seine Schüssel geschüttet wurde. Das weckte ihn dann aber auch aus dem tiefsten Traum ...
»Der Martin ist eben gekommen«, ließ Zenzi Pankraz nun wissen. »Er bringt jemanden mit, schaut mir nach zwei Kindern aus.«
»Auweh«, machte der alte Bergdoktor. »Keine Erwachsenen?«
»Die armen Würmerln.« Die Hauserin mit dem Haarknoten schüttelte leicht den Kopf. »Da werd' ich rasch zwei Teller mehr auf den Frühstückstisch stellen.«
»Ist schon recht.« Ein wenig schwerfällig erhob Pankraz sich und verließ die Küche.
Er und Zenzi, das war eine lange Geschichte. Damals, als sein Martin eben erst elf Jahre alt gewesen war, da war Zenzi ins Doktorhaus gekommen. Pankraz hatte seine Frau vor der Zeit hergeben müssen und sehr darunter gelitten. So war die resolute Hauserin ihm über Jahre zur seelischen Stütze und seinem Buben zur Ersatzmutter geworden. Sie standen sich nah, gingen manchmal ein wenig herb miteinander um, wussten aber genau, was sie aneinander hatten.