Der Bergdoktor 2185 - Andreas Kufsteiner - E-Book

Der Bergdoktor 2185 E-Book

Andreas Kufsteiner

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Beschreibung

Der einundvierzigjährigen Guggi Reiter werden die Augen feucht, als sie zum ersten Mal seit dreiundzwanzig Jahren das ihr so vertraute St. Christoph erblickt. Als junges Madel hat sie hier einst auf dem Dannerhof als Magd gearbeitet und sich dabei unsterblich in den feschen Hoferben Lois verliebt. Es schien, als könnten sie nie mehr ohne einander sein. Aber dann kam alles anders. Verzweifelt und blind vor Kummer ist Guggi damals bei Nacht und Neben davongelaufen und hat das idyllische Bergdorf hinter sich gelassen. Jetzt, zwei Jahrzehnte später, hat etwas sie hierher zurückgetrieben.
Als sie ihre Blicke schweifen lässt, ist es ihr, als hätten die Jahre nichts verändert, als hätte die Zeit an diesem Fleckerl Erde stillgestanden. Mit klopfendem Herzen sucht sie den Dannerhof auf, um zu sehen, was aus den Bewohnern geworden ist. Aber was sie hier erfährt, lässt ihr den Schreck in die Glieder fahren, und zugleich stürmen die alten Erinnerungen an ihre große Liebe wieder auf sie ein.
Für Guggi und auch einen anderen Menschen in St. Christoph ist es an der Zeit, sich der Vergangenheit zu stellen. Der Liebe und dem Leiden. Und der Hoffnung auf Vergebung ...


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Seitenzahl: 141

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

Cover

Bereit zu vergeben

Vorschau

Impressum

Bereit zu vergeben

Zwei Menschen wollen ihre Fehler wiedergutmachen

Von Andreas Kufsteiner

Der einundvierzigjährigen Guggi Reiter werden die Augen feucht, als sie zum ersten Mal seit dreiundzwanzig Jahren das ihr so vertraute St. Christoph erblickt. Als junges Madel hat sie hier einst auf dem Dannerhof als Magd gearbeitet und sich dabei unsterblich in den feschen Hoferben Lois verliebt. Es schien, als könnten sie nie mehr ohne einander sein. Aber dann kam alles anders. Verzweifelt und blind vor Kummer ist Guggi damals bei Nacht und Nebel davongelaufen und hat das idyllische Bergdorf hinter sich gelassen. Jetzt, zwei Jahrzehnte später, hat etwas sie hierher zurückgetrieben.

Als sie ihre Blicke schweifen lässt, ist es ihr, als hätten die Jahre nichts verändert, als hätte die Zeit an diesem Fleckerl Erde stillgestanden. Mit klopfendem Herzen sucht sie den Dannerhof auf, um zu sehen, was aus den Bewohnern geworden ist. Aber was sie hier erfährt, lässt ihr den Schreck in die Glieder fahren, und zugleich stürmen die alten Erinnerungen an ihre große Liebe wieder auf sie ein.

Für Guggi und auch einen anderen Menschen in St. Christoph ist es an der Zeit, sich der Vergangenheit zu stellen. Der Liebe und dem Leiden. Und der Hoffnung auf Vergebung ...

»Herr Doktor, jetzt verraten Sie mir doch endlich, was mit mir los ist«, bat Guggi Reiter ihren Hausarzt.

Sie befanden sich im Sprechzimmer der Arztpraxis in einem kleinen Ort in Niederösterreich. Durchs Fenster sah man den Brunnen auf dem Marktplatz und dahinter den Eingang zum Friedhof neben der Pfarrkirche. Sowohl dem Arzt als auch seiner Patientin waren diese Anblicke vertraut.

Dr. Loibl kannte Guggi seit mehr als einundzwanzig Jahren und ihre Stiefsöhne sogar noch länger: den David und den Jakob, beides Söhne aus der ersten Ehe ihres Mannes Hermann, Gott hab ihn selig.

Der Hausarzt betrachtete Guggi prüfend durch seine Brille.

»Sie fühlen sich in letzter Zeit also ständig niedergeschlagen und erschöpft, Frau Reiter.« Er warf einen kurzen Blick auf die Notizen am Computerbildschirm. »Mutlos. Schlapp. Melancholisch, könnte man sagen.«

Bang nickte Guggi. Es würde doch, um Gottes willen, nichts Schlimmes sein?

Die Kinder könnten es net ertragen, wenn mir auch noch was passiert, dachte sie.

Dr. Loibl warf einen weiteren Blick auf den Computer, Guggi einen durchs Fenster zum Friedhofseingang. Fast ein halbes Jahr war es nun her, dass sich ihr Hermann eines Abends in seinem Fernsehsessel niedergelassen hatte.

»Was spielen sie denn heut' wieder für einen Schmarren?«, hatte er gegrummelt. Und dann nichts mehr. Sie hatte zuerst gedacht, er wäre bloß eingenickt.

Dr. Loibls Stimme schnitt durch ihre Erinnerung.

»Wenn Sie mich fragen, Frau Reiter, klingt das alles nach einer depressiven Verstimmung.«

Guggi erschrak. »Depressionen? Herr Doktor, das kann net sein!«

»Von Depressionen habe ich nichts gesagt.« Der rundliche Hausarzt bedachte sie mit einem strengen Blick. »Eine depressive Verstimmung geht meistens vorüber – sofern man auf sich achtet. Sie könnte sich freilich auch zu einer Depression auswachsen«, warnte er im selben Atemzug.

Bloß das nicht!

»Dafür hab ich keine Zeit, Herr Doktor«, entfuhr es ihr. Im nächsten Moment senkte sie schuldbewusst den Kopf. »Für Depressionen, mein' ich. Wenn Sie das sagen, glaub ich es natürlich. Aber wie sollt ich denn besser auf mich achten? Mei, es gibt halt so viel zu tun. Die Arbeit. Die Kinder. Und die Enkerl. Ich weiß oft gar nimmer, wo mir der Kopf steht.«

»Ausgefüllte Tage zu haben und gebraucht zu werden, das ist nichts Schlechtes«, versicherte ihr der Arzt. »Es sollte aber auch nicht alles sein. Eine gesunde Ernährung, viel Sport oder wenigstens Spaziergänge an der frischen Luft ...« Er unterbrach sich. Sein Blick wurde mitfühlend. »Seien Sie ehrlich, Frau Reiter: Wann haben Sie das letzte Mal etwas nur für sich getan, nicht für andere?«

Die unverblümte Frage ließ Guggi stocken. Worin bestand denn ihr Alltag? Zuerst einmal natürlich in der Arbeit an der Supermarktkasse. Darin, für den David und die beiden Enkelsöhne zu kochen. Und dem Jakob die Wohnung sauber zu halten, weil er das schleifen ließ, sobald ihm keiner dabei half. Und der Melanie gut zuzureden, wenn sich ihr letzter Schwarm auch wieder nicht als der Richtige erwiesen hatte. Sie blickte in Dr. Loibls Augen und wusste keine Antwort.

Er lächelte und beugte sich vertraulich über seinen Schreibtisch.

»Erfüll dir einen Wunsch, Guggi«, sagte er und nannte sie dabei plötzlich beim Vornamen. »Etwas, von dem du schon lange geträumt hast. Das ist mein ärztlicher Rat.«

Einen Wunsch? Alle von Guggis Wünschen hatten sich stets um die Familie gedreht. Dass Hermanns Firma ihn nicht so wie andere ältere Mitarbeiter auf die Straße setzen würde. Dass sie die Wohnung abbezahlen könnten, um den Kindern bloß keine Schulden zu hinterlassen. Dass Jakob und Melanie ihre Studien erfolgreich abschließen, dass alle drei eine gute Anstellung finden würden. Partner, die ihnen auf Augenhöhe begegneten. Und ein Zuhause, in dem sie sich wohlfühlten. Mehr konnte keiner vom Leben verlangen.

Unter Dr. Loibls erwartungsvoller Musterung schluckte sie heftig.

»Ich war schon länger nimmer im Theater«, erwiderte sie etwas ratlos. »Oder ... oder im Konzert? Der Kirchenchor gibt im August eines. Die Nachbarin hat mich eh schon drei Mal gefragt, ob ich net Karten dafür kaufen möcht.«

Ihr Hausarzt drohte ihr scherzhaft mit dem erhobenen Zeigefinger, doch seine Stimme klang ernst, als er antwortete.

»Nimm dir Zeit für dich selbst, Guggi. Nicht für etwas, zu dem dich deine Nachbarin drängt. Auch nicht nur ein oder zwei Stunden. Eher ein oder zwei Wochen! Fahr weg. Gönn dir Urlaub vom Alltag, von deinen vielen Pflichten.«

Entgeistert starrte ihn Guggi an. Eine Woche oder zwei! Was würde der David sagen? Was die Schwiegertochter?

»Ja, wo sollt ich denn hin?«, rief sie aus.

»Irgendwohin, wo es Möglichkeiten für Spaziergänge und gesundes Essen gibt«, lautete die knappe Antwort. Dr. Loibl entließ sie mit einer Krankschreibung und der neuerlichen Ermahnung, auf sich zu achten. »Sonst reden wir von Medikamenten«, warnte er.

Guggi wurde blass. Sie hatte das Tablettenschlucken schon als Madel verabscheut, und auch mit einundvierzig kostete es sie noch viel Überwindung.

Bedrückt trat sie vor die Tür der Praxis. Ein Blick zur Kirchturmuhr verriet ihr, dass es Viertel nach elf war. In ungefähr einer halben Stunde kämen die Buben aus der Schule. Dann sollte drüben beim David das Mittagsmahl auf dem Tisch stehen. Guggi aß nicht mit der Familie, in der Wohnung war dafür zu wenig Platz. Aber sie kochte, weil die Zwillinge jammerten, wenn es nicht wie bei der Oma schmeckte. Die Schwiegertochter hörte so etwas nicht gern. Verständlich.

Die Fleischlaiberl und Erdäpfel für heute waren schon vorgekocht, sie brauchte nur mehr das Püree zu stampfen. Trotzdem schlug Guggi, statt nach Hause zu eilen, den Weg zum Friedhof ein. Vor dem Eingang blieb sie stehen. Erst gestern hatte sie ihrem Hermann ein frisches Blumenstöckerl ans Grab gebracht. Wenn man sie heute schon wieder dort sähe, würden die anderen Witwen höchstens über sie tratschen.

Ratlos starrte sie zum Kirchturm und der mächtigen Eiche, die sich daneben an der Mauer erhob. Dr. Loibls Worte hallten in ihrem Kopf nach.

»Fahr weg. Gönn dir Urlaub vom Alltag, von deinen vielen Pflichten.«

Allmächtiger! Wo sollt ich denn hin?

Im Schaukasten neben dem Eingang war ein Ausflug angeschlagen. Eine Wallfahrt nach Mariazell, aber erst im September. So lange würde Dr. Loibl mit seinen Tabletten womöglich nicht warten. Die Wallfahrt dauerte auch nur drei Tage.

Eine Woche oder gar zwei! Selbst wenn ihr der Supermarkt so lange freigäbe, wer bitte sollte für die Buben kochen? Wer dafür sorgen, dass Jakob in seiner Wohnung regelmäßig lüftete und den Kühlschrank ausräumte? Wer sich Melanies Liebeskummer anhören?

Sie malte sich aus, was ihr Hermann zu diesem Ansinnen gesagt hätte. Wahrscheinlich so etwas wie »Mach eine Kreuzfahrt« oder »Flieg nach Paris«. Und dann hätte er sie angelacht, weil er wusste, dass sie Angst vorm Fliegen hatte, leicht seekrank wurde und nur ein paar Worte Französisch sprach.

Einige Male waren sie zusammen ans Meer gefahren. Hauptsächlich der Kinder wegen. Es war auch ganz nett gewesen. Bis auf die Quallen. Und den vielen Sand, der überall hineingeraten war.

»Eine Almwiese wär dir lieber, gell, Mama?«, hatte Melanie, ihre Jüngste, gescherzt.

Eine Almwiese! Die Erinnerung blieb in Guggi hängen. Wieder schweifte ihr Blick nach oben. Über den Kirchturm hinaus. Dahinter erhob sich weit und breit nirgendwo ein Gipfel. Die höchste Erhebung im Bezirk lag ja auch keine fünfhundert Meter über dem Meeresspiegel, das wusste Guggi. Sie hatte jedes ihrer drei Kinder für die Schule darüber abgeprüft.

Nun kehrten ihre Gedanken zurück nach Tirol. Ins Zillertal. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie die einsame Straße vor sich sehen, die von Mayrhofen hinauf in eines der Seitentäler führte. Dort oben gab es nicht mehr viel – aber genug. In Guggis Erinnerung erschien das Bild einer Pfarrkirche mit einem weißen Zwiebelturm. Ringsum die Berge, sechs an der Zahl. Mit ihren bewaldeten Hängen, auf denen hie und da ein Bauernhof wie ein Edelweiß in der Sonne strahlte.

Die Bilder im Kopf waren alt, doch nicht verblichen. Und während Guggi sich in sie vertiefte, spürte sie zum ersten Mal seit Langem etwas anderes als die trübe, graue Leere in sich. Sie verspürte eine Bestimmung. Fast hätte man sagen können: eine Mission.

»St. Christoph«, sagte sie laut. Allein schon der Klang des Namens erweckte in ihr eine neue Entschlossenheit. »Ich will zurück nach St. Christoph.«

***

»St. Christoph!« Melanie saß auf dem Fahrersitz des Wagens und ließ sich die Silben auf der Zunge zergehen. »Saint Christopher!« Sie sprach den Namen englisch aus. »San Cristoforo!« Nun italienisch. »Szent Kristóf ...«

»Was für eine Sprache ist das?«, erkundigte sich Guggi. Sie hatten Oberösterreich bereits durchquert, waren über das deutsche Eck gefahren und befanden sich nun auf der A12, der Inntal-Autobahn. Vierzig Minuten bis zu ihrem Ziel, verkündete Melanies Handy auf der Mittelkonsole.

»Ungarisch«, erwiderte Guggis Ziehtochter abwesend. Sie blinkte und wechselte die Spur.

»Und woher kannst du ...?« Guggi verstummte, als es ihr einfiel. Eine von Melanies letzten Männerbekanntschaften war Ungar gewesen. Attila, so hatte er geheißen. »Der Hunnenkönig«, hatten David und Jakob geätzt.

David war der Ältere ihrer beiden Stiefsöhne. Ihn und Jakob hatte der Hermann mit in die Ehe gebracht. Und als dann Guggis ledige Arbeitskollegin verunglückt war und so ein armes kleines Würmchen plötzlich ein neues Zuhause gebraucht hatte, da hatte Guggi nicht lange überlegt. Das arme kleine Würmchen von damals war jetzt einundzwanzig Jahre alt und sagte meistens »Mama« zu ihr, auch wenn sie aus Respekt vor ihrer leiblichen Mutter noch deren Nachnamen trug.

»Was glaubst du, Mama: Ob es dort fesche Mannsbilder gibt?«

Wären David oder Jakob hier gewesen, wäre auf diese Frage gleich eine spöttische Bemerkung gefolgt wie »Du meinst, weil fesche Mannsbilder dein liebstes Studienfach sind, Schwesterlein?«.

Melanie studierte Biologie in Salzburg. Und im Gegensatz zum verheirateten David und zu Jakob, der nur seinen Computer brauchte, befand sie sich meistens auf Partnersuche. Die Burschen auf der Uni seien halt alle gleich, hatte sie Guggi nach der letzten Enttäuschung vorgejammert.

»Hauptsächlich Bauern«, erwiderte Guggi nun. »Tagelöhner. Knechte. Ein oder zwei Gendarmen, so war es damals wenigstens. Vielleicht haben sie inzwischen schon einen richtigen Polizeiposten?«

»Ein Bauer wär' eh gut«, entschied Melanie. »Ein aufrechter, strammer Bursche, der sagt, was er denkt. Und der net hinter dem Rücken eines Madels schon mit der Nächsten anbandelt!«

Ihre Entschlossenheit entlockte Guggi ein schwaches Lächeln. Sie sah aus dem Fenster, während Melanie von der Autobahn auf die Zillertal-Straße abfuhr. Es fühlte sich seltsam an, dass sie unterwegs waren, weil Guggi es wollte. Nicht etwa weil eines der Kinder zum Fußballturnier oder zum Pfadfinderlager gebracht werden musste. Nicht wegen einer von Hermanns geliebten Oldtimer-Shows. Sondern nur ihretwegen.

Die Erkenntnis überwältigte sie fast.

»Eine Woche!«, murmelte sie nervös und warf einen weiteren Blick auf das Navi. Noch dreißig Minuten. Zum Umkehren war es viel zu spät. »Was sollen wir da bloß eine Woche lang tun?«

»Wenn uns gar nix anderes einfällt, brezeln wir uns richtig auf und gehen jeden Abend in die Dorfdisco«, erwiderte Melanie unbekümmert. Sie wandte kurz die Augen von der Straße und lachte Guggi an. »Die Mannsbilder werden sich alle zehn Finger nach uns abschlecken!«

»In St. Christoph gibt's keine Dorfdisco«, widersprach Guggi. Trotzdem wärmte ihr der absurde Vorschlag das Herz. Melanie hatte weiß Gott ihr Rucksackerl im Leben zu tragen. Ihre leibliche Mama war tot und jetzt auch der Hermann. Und ihren leiblichen Papa hatte sie gar nie kennengelernt. Trotzdem war aus ihr so ein Sonnenschein geworden.

»Ich hab mir extra ein neues, kurzes Dirndl gekauft!«, verkündete sie nun empört und überholte schwungvoll einen Traktor. Sie hob eine Hand vom Lenkrad und vollführte eine kreisende Bewegung. »Die Madeln dort tragen schwingende Rockerl und gehen damit net tanzen? Das glaub ich dir nie und nimmer.«

»Beim Ochsenwirt wurde sonntagnachmittags aufgespielt«, erinnerte sich Guggi. »Das ist das einzige Gasthaus. Oder jedenfalls war es das einzige. Dann gibt's noch das Hotel Sonnenhang, aber ich weiß net, ob sie dort auch ... Und das Schlössl!«, fiel ihr ein. Mit jedem Meter, den sie sich St. Christoph näherten, kam die Erinnerung klarer zurück. »Die adeligen Herrschaften dort haben alleweil zu irgendwelchen Bällen und Veranstaltungen eingeladen.«

»Adelige?« Melanie spitzte die Ohren. »Sie haben net zufällig einen feschen Sohn, der noch Single ist? Oder mehrere? Die dürften sich auch gern um mich duellieren.«

»Ich weiß nix von Söhnen«, gestand Guggi. »Ich bin nie dort gewesen.«

Sie spürte Melanies erstaunten Blick und sah verschämt herab auf ihre im Schoß verschränkten Hände.

»Die Ballabende waren für die Großbauern«, erklärte sie leise. »Und für den Herrn Doktor, den Bürgermeister und den Herrn Pfarrer. Diese Leut' eben. Net für solche wie mich.«

Eine jähe Erinnerung stürmte auf sie ein. Lois war zu ihr in die Milchkammer getreten.

»Der Vater ist morgen Abend im Schlössl«, hatte er ihr verraten. »Und wir zwei gehen in die Klamm, gell?« Noch heute schlug ihr Herz schneller, als sie ihn so vor sich sah: groß und schneidig und verwegen.

»Was gibt es in St. Christoph sonst noch?« Melanies Stimme brachte sie zurück ins Hier und Jetzt.

»Eine Gemischtwarenhandlung. Die Pfarrkirche zum heiligen Christoph natürlich. Und eine Arztpraxis. Das war damals der Herr Dr. Burger. Der muss noch immer da sein, weil nämlich der Dr. Loibl erst vorgestern zu mir gesagt hat: ›Grüßen Sie den Kollegen Burger recht herzlich von mir. Ich kenne ihn noch aus München.‹«

Ihr Hausarzt Dr. Loibl war gebürtiger Bayer.

»Was, bitt'schön, tät ein Tiroler Landarzt denn in München?«, überlegte Melanie laut.

Ratlos zuckte Guggi mit den Schultern.

»Vielleicht haben sie sich einmal bei einer Konferenz getroffen?«

»Oder beim Oktoberfest«, sann ihre Ziehtochter fröhlich nach. »Dort haben sie mit ein paar Maß Weißbier Brüderschaft getrunken. Und der Dr. Loibl erinnert sich noch dran, aber der Dr. Burger nimmer.«

Guggi warf ihr einen strengen Blick zu, doch Melanie sah nach vorne und bemerkte es nicht. Alle in St. Christoph hatten damals einen Heidenrespekt vor Dr. Pankraz Burger gehabt. Für Melanie jedoch war er bloß ein Name aus den Jugenderinnerungen ihrer Ziehmutter.

Wenig später kamen sie durch Mayrhofen. Mit jeder Kurve, jeder Ampel, jeder Straßenecke wuchs Guggis Unbehagen. Wie sehr sich in den letzten dreiundzwanzig Jahren alles verändert hatte! Sie erkannte den Ort kaum wieder.

Bestimmt würde es in St. Christoph genauso sein. Und Guggi wäre eine Woche lang dort gefangen. Zwischen Cafés, Bars und Boutiquen. Allein mit ihren Erinnerungen an eine ländliche Idylle, die es nicht mehr gab.

Dann aber verließen sie den Wald. Melanie trat auf die Bremse, und Guggi sog scharf die Luft ein.

»Hübsch schaut das hier aus«, stellte ihre Ziehtochter ein wenig überrascht fest. »Man könnt es glatt auf eine Postkarte drucken.« Sie nahm beide Hände vom Lenkrad, formte aus ihren Daumen und Zeigefingern einen rechteckigen Rahmen und hob ihn vors Gesicht.

»Kinderl!« Trotz des langsamen Fahrtempos stockte Guggi der Atem.

»Tut mir leid, tut mir leid.« Hastig ergriff Melanie wieder das Lenkrad. Sie schenkte Guggi ein Lächeln. »Sag schon: Was hat sich in dreiundzwanzig Jahren hier verändert?«

Durch die Windschutzscheibe blickte Guggi auf die Idylle des kleinen Seitentals. Von einem Hang leuchtete das gelbe Schlössl mit seinen Türmchen, von einem anderen das Sporthotel. Und dazwischen ...

»Gar nix hat sich verändert«, flüsterte sie und kniff sich in den Schenkel, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte. Das Bild vor ihr blieb. Es bestand nicht nur in der Erinnerung. St Christoph lag vor ihr genau wie damals, ein Ort unberührt vom Lauf der Zeit.

***

»Wohin jetzt?«, fragte Melanie, als sie durch den Ort zuckelten. »Magst du gleich schauen, ob es deinen alten Dienstherrn noch gibt?«

»Mei, nur das net!«, wehrte Guggi erschrocken ab. Sie blickte an sich herunter. Ihre Bluse und der Rock waren von der langen Autofahrt ganz verknittert. »Ich kann doch net so dort aufkreuzen.«

Wieder stürmte die Erinnerung auf sie ein: Lois und sie in der Milchkammer. In seiner Leidenschaft hatte er sie an die Wand gedrängt, bis Guggi gefangen gewesen war – die kalte Mauer hinter und seinen warmen Körper vor sich.