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Bei einer Bergtour wetteifern die Brüder Michael und Steffen Schachner darum, wer am schnellsten den Gipfel erreicht. Steffen, der jüngere, setzt alles daran, zu gewinnen. Am Ziel will er Maria, die die Brüder begleitet, einen Heiratsantrag machen. Den Ring trägt er schon bei sich. Doch plötzlich hört er hinter sich einen entsetzlichen Schrei. Maria stürzt in eine Gletscherspalte und stirbt.
Nach dem Unfall gibt Steffen sich allein die Schuld an ihrem Tod. Er verfällt in eine schwere Depression, aus der ihn niemand herauslocken kann. Schließlich reicht es Michael, und er wirft Steffen vom gemeinsamen Hof.
Mit düsteren Gedanken macht dieser sich auf den Weg ins Ungewisse ...
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Seitenzahl: 136
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Heimkehr nach dem Aveläuten
Vorschau
Impressum
Heimkehr nach dem Aveläuten
Dr. Burger und ein Wunder, mit dem niemand mehr gerechnet hat
Von Andreas Kufsteiner
Bei einer Bergtour wetteifern die Brüder Michael und Steffen Schachner darum, wer am schnellsten den Gipfel erreicht. Steffen, der jüngere, setzt alles daran, zu gewinnen. Am Ziel will er Maria, die die Brüder begleitet, einen Heiratsantrag machen. Den Ring trägt er schon bei sich. Doch plötzlich hört er hinter sich einen entsetzlichen Schrei. Maria stürzt in eine Gletscherspalte und stirbt.
Nach dem Unfall gibt Steffen sich allein die Schuld an ihrem Tod. Er verfällt in eine schwere Depression, aus der ihn niemand herauslocken kann. Schließlich reicht es Michael, und er wirft Steffen vom gemeinsamen Hof.
Mit düsteren Gedanken macht dieser sich auf den Weg ins Ungewisse ...
Mächtig und Ehrfurcht gebietend ragte der Feldkopf auf. Er war der höchste der sechs Berge, die den idyllischen Ort St. Christoph im Zillertal umgaben, und ein beliebtes Ausflugsziel. In den Sommermonaten fuhren die Urlauber scharenweise mit der Kabinenbahn hinauf, um oben in der Feldkopfhütte zu speisen oder zu nächtigen. Im Winter drängten sich die Schaulustigen bei der Zieleinfahrt der bekannten Abfahrtsrennen.
Wilder und ursprünglicher ging es hingegen auf der anderen Seite des Feldkopfes zu. An diesem Sonntag im Mai war das Wetter für eine Bergwanderung wie geschaffen. Die Sonne schien. Sie funkelte auf dem Schnee des Feldkopfgletschers. Drei junge Leute befanden sich auf dem Weg zum Gipfel.
Der vorderste Wanderer blieb stehen, um zu warten. Der Schachner-Michael vom Glöcklhof nahe St. Christoph war ein groß gewachsener, langbeiniger Bursche. Nun setzte er seinen Rucksack im Schnee ab, nahm die Thermosflasche heraus und trank ein paar Schlucke Tee. Nach einem kurzen Blick zu den anderen hinter ihm zog er sich mit den Zähnen die Handschuhe aus und kramte ein in Butterpapier gewickeltes Mohnflesserl aus dem Rucksack. Das Gebäck war mit dem guten Topfenkäse-Aufstrich von der Mutter gefüllt. Er hob es an den Mund.
Gerade als er hineinbeißen wollte, traf ihn ein Schneeball an der Schulter. Michael ließ das Mohnflesserl sinken. Zehn Meter unter ihm stand sein jüngerer Bruder, der Schachner-Steffen, mit einem zweiten Schneeball in der Hand.
»So war's net abgemacht!«, rief Steffen herausfordernd. »Gespeist wird erst am Gipfel. Und net schon vorher.«
Michael rief zurück: »Ja, mei, was lasst ihr zwei euch denn auch so lange Zeit? Da verhungert ein Bursche doch, bevor wir oben sind.«
Steffen warf den Schneeball nach ihm. Er zielte gut. Doch Michael hatte den Wurf erwartet und fing das Geschoss, ehe dieses von seiner Schulter abprallen konnte. Herausfordernd grinste er Steffen an und zeigte seine blitzend weißen Zähne in dem gebräunten Gesicht.
Steffen erwiderte das Grinsen mit einem ebenso wölfischen Gesichtsausdruck. Die Schachner-Söhne kamen beide nach ihrem Vater. Der war ein begeisterter Jäger gewesen, ein Kraxler und ein langjähriges Mitglied der St. Christopher Bergwacht. Die Kameraden hatten immer des Vaters Schneid bewundert. Auch wenn der Leiter, Dominikus Salt, öfter wegen seiner Husarenstückerl geseufzt und ihn einen »leichtfertigen Teufel« genannt hatte.
Mehr als einmal hatte das Leben des Schachners am seidenen Faden gehangen. Und nur sein fester Griff oder ein gutes Seil hatten ihn vor dem Sturz in den Abgrund bewahrt. Es hätte keinen gewundert, wenn er sein Ende in einer Schlucht gefunden hätte. Stattdessen hatte ihn mit vierzig ein Schlaganfall beim abendlichen Stallgehen, kurz vor dem Aveläuten, niedergestreckt. Und die Schachnerin hatte mit zwei halbwüchsigen Buben dagestanden: dem vierzehnjährigen Michael und dem dreizehnjährigen Steffen.
Zwölf Jahre war das nun her. Aus den Buben waren zwei tüchtige Burschen geworden. Gebirgler, wie man sie sich wünschte. Beide mit den pechschwarzen Locken des Vaters. Beide mit langen Beinen und kräftigen Armen. Mit Händen, die das Zupacken nicht scheuten. Und beide nun selbst Kameraden der Bergwacht, die sich damals nach dem Tod des Vaters wie ein Dutzend Onkel um sie gekümmert hatte.
Nun schulterte Michael seinen Rucksack. Er legte den Kopf in den Nacken und kniff die Augen zusammen. Blendend hell strahlte die Sonne auf den Gletscher herab. Sie ließ den Schnee glitzern, dass einem vom Hinschauen schwindelig werden konnte.
»Wer als Letzter oben ist, zahlt nachher in der Hütte das Bier!«, rief Michael zu seinem Bruder hinunter.
Steffen brüllte zurück: »Abgemacht!«
Michael stapfte mit den Steigeisen an seinen Füßen weiter. Der Schnee war hier oben trügerisch: voller Brücken, die einbrechen konnten, und voller verborgener Spalten. Die Schachners aber kannten den Gletscher seit ihren Bubentagen. Sie hatten sich nie die Mühe gemacht, einander mit dem Seil zu sichern. So etwas war für Flachländler, hatte der Vater stets gelästert: »Und wir sind keine, gell?« Seine Söhne hatten darauf grinsend die Köpfe geschüttelt und ihr Bestes getan, ihm über Stock und Stein zu folgen.
Unterhalb von Michael drehte sich Steffen zum Schlusslicht der kleinen Gruppe um.
»Komm«, drängte er. »Wenn ich ihn gewinnen lass, hält er's mir bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag vor.«
Atemlos schloss Maria zu ihm auf. Sie war ein fesches, dralles Madel von dreiundzwanzig Jahren, das dritte von vier Kindern auf dem Rosenhof. Ihr knallrosa Schneeanorak betonte ihre kurvige Figur. Nun hob sie ihren langen Pferdeschwanz und fächelte sich damit im Nacken Luft zu.
»Ich weiß net, ob ich euer Tempo ... bis oben ... durchhalte«, stieß sie hervor.
»Nur mehr ein Stückerl.« Steffen lachte sie an. »Und nachher auf der Hütte kriegst du den größten Cappuccino, den sie haben!«
Maria ließ ihren Pferdeschwanz los. Sie trat dicht an Steffen heran und sah zu ihm auf.
»Mit ein bisserl was Süßem dazu?«, fragte sie hoffnungsvoll. Denn das Madel hatte eine Schwäche für Süßes, ganz egal, ob es Zimtschnecken oder Topfenpalatschinken waren. Die Schachner-Brüder pflegten zu witzeln: Wenn die Maria der Mama beim Kekserlbacken hilft, bleiben für Weihnachten keine übrig.
»Mit allem, was du willst«, versprach Steffen ihr. Er zog Maria in seine Arme und gab ihr ein Busserl. Sie erwiderte es bereitwillig. Aus dem Busserl hätte wohl mehr werden können. Doch Steffen wandte halb den Kopf. Er sah, wie sein Bruder ein Stück weiter oben leichtfüßig über eine Spalte hinwegsetzte.
Unvermittelt gab er Maria frei.
»Komm jetzt«, mahnte er sie. »Ich will mir vom Michael net vorhalten lassen, wir würden trödeln.«
Maria seufzte. »Schlimmer als zwei Schulbuben seid ihr«, murmelte sie. Doch sie folgte Steffen, als er rasch den verschneiten Hang hinaufstieg. Alle paar Meter sah er sich um und vergewisserte sich, dass sie ihm dicht auf dicht folgte.
Sie war im Kraxeln nicht so geübt wie er und Michael. Der Rosenbauer hatte drei Töchter und nur einen Sohn. Und er selbst war ein behäbiger Kerl, der es gern gemütlich hatte – ebenso wie die Bäuerin. Wenn Marias Familie sonntags in die Berge ging, hieß das: Man fuhr mit dem Kleinbus auf eine Alm und hockte dann auf der Hütte, bis es Zeit zum Abschiednehmen war.
Doch Steffen zuliebe sprang Maria über ihren Schatten. Fünf der St. Christopher Berge hatten sie schon gemeinsam bestiegen. Der Feldkopf war der Einzige, der ihnen noch fehlte. Und oben am Gipfel ... Steffen blieb stehen. Er sah sich nach Maria um und klopfte verstohlen auf seinen Rucksack. Ein Verlobungsring steckte in einer Innentasche. Ein ganz besonderes Ringerl für ein ganz besonderes Madel.
Der Klang seines Namens ließ ihn aufsehen. Michael stand am Rand einer Gletscherspalte ein Stück oberhalb von ihnen. Er legte beide Hände an den Mund und rief zu Steffen herunter: »Hast du genug Geld für das Bier eingesteckt, kleiner Bruder?«
Steffen blickte in sein grinsendes Gesicht. Das Blut wallte in seinen Adern. Alleweil kehrte Michael ihm gegenüber den Älteren heraus! Den Größeren. Den mit den längeren Beinen. Das war schon zu ihren Bubenzeiten so gewesen.
Kaum stolperte Maria heran, griff Steffen nach ihrem Arm und zog sie mit sich. Weg von Michaels Fußspuren, die den sicheren Pfad hinauf markierten.
»Wo ... willst ... du hin?«, stieß sie atemlos hervor.
Steffen sah sich nicht um. »Wir nehmen eine Abkürzung.« Er warf einen raschen Blick zu Michael. Und konzentrierte sich dann ganz darauf, seine Füße in den Steigeisen zu setzen. Dieser Teil des Gletschers war mit seinen zahlreichen Spalten tückisch. Die abergläubischen Kameraden von der Bergwacht nannten ihn den »Teufelsspielplatz«.
Steffen überzeugte sich, dass Maria dicht hinter ihm war, und hielt erneut Ausschau nach seinem Bruder. Michael lag noch immer ein Stück vor ihnen. Aber sie holten auf.
Steffen richtete seinen Blick wieder auf den Schnee. Der Schachner hatte seinen Söhnen früh beigebracht, verborgene Gletscherspalten zu erkennen. Kleine Mulden oder eine leichte Abweichung im Farbton Weiß waren alles, was Steffens Augen benötigten.
Hinter ihm verklang das Knirschen von Marias Stiefeln.
»Steffen!«, hörte er sie keuchen. »Ich kann nimmer.«
»Nur noch ein Stückerl. Wir sind gleich da«, erwiderte er abwesend. Dort vorn war eine Spalte. Und dort auch, wenn er sich nicht täuschte.
Er vernahm ein Gluckern. Als er den Kopf wandte, hatte Maria ihren Rucksack abgesetzt und die Thermosflasche mit Tee hervorgeholt. Sie schenkte ihm ein schwaches Lächeln.
»Ist es denn wirklich so wichtig, dass wir den Michael schlagen?«
Unwillig nickte Steffen. Maria verstand nicht. Und wie sollte sie auch verstehen? Das Ringerl in seiner Tasche war eine Überraschung für sie. Wie konnte er ihr da erklären, dass dieser Tag perfekt sein sollte – ja, perfekt sein musste? Kein Schatten einer Niederlage durfte über ihnen beiden hängen.
Er wies nach vorn.
»Schau«, sagte er. »Da oben, siehst du? Direkt neben der Gletscherspalte – neben der kleinen Rille im Schnee. Da ist ein Pfad. Den kenn ich. Wenn wir da hinaufgehen, holen wir den Michael im Nu ein.«
Er drehte sich nach Maria um und streckte bittend seine Hand aus. Würde sie begreifen, wie wichtig ihm das war? Nur einmal, nur heute, unter den Brüdern der Erste zu sein?
Sie schüttelte belustigt den Kopf. Dann schulterte sie ihren Rucksack, stapfte los und ergriff seine Hand.
»Dafür schuldest du mir nachher mehr als nur ein Kekserl zum Cappuccino«, warnte sie ihn scherzhaft.
Er lachte.
Auf Steffens Pfad kamen sie rasch voran. Steffen beschleunigte seine Schritte noch und zog Maria an der Hand hinter sich her. Die Gletscherspalte lag unter dem Weiß verborgen. Nur eine kleine Rille war sichtbar, eine lang gestreckte Mulde dort, wo sich der Schnee durch die Wärme der Sonne ein wenig gesenkt hatte. Steffen hielt den Blick darauf gerichtet, während er seine Füße setzte. Marias keuchender Atem tönte dicht hinter ihm.
Plötzlich fiel ein Schatten über sie beide. Steffen hob den Kopf. Soeben schob sich eine Wolke vor die Sonne – und Michael war weiter oben stehen geblieben. Mit großen Augen starrte er auf sie herab. Dann legte er beide Hände an den Mund und schrie hinunter: »Ja, seid ihr denn verrückt geworden?«
Steffen grinste wölfisch und zeigte ihm den hochgereckten Daumen. Noch immer grinsend drehte er sich nach Maria um.
»Der Michael fragt, ob wir verrückt ...«
Ein Knirschen und Knacksen übertönte seine Worte. Der Schnee, auf dem Maria stand, begann zu bröckeln. Für einen Herzschlag erstarrte sie. Dann stieß sie einen schrillen Angstschrei aus und warf sich in ihrer Panik seitwärts. – Auf die Gletscherspalte zu.
Steffen beobachtete sie. Wie in Zeitlupe sah er Maria nach links taumeln. Ohne nachzudenken, griff er zu. Seine Finger streiften den glatten Stoff des rosa Anoraks. Doch es war zu spät: Mitsamt einer kleinen Schneelawine stürzte Maria in die Gletscherspalte. Ihr Kreischen hallte über den Berg.
N-e-i-n!
Neben dem Abgrund warf Steffen sich zu Boden. Er sah ein wenig Rosa in all dem Weiß und streckte sich danach. Vergeblich – er war zu weit weg, um einen Zipfel von Marias Anorak zu erhaschen. Und auch unter ihm bröckelte der Schnee. Er achtete nicht auf die Gefahr, bis jemand seine beiden Beine umfasste und ihn nach hinten riss.
Mit einem zornigen Schrei rollte Steffen sich herum und schlug nach Michael. Sein Bruder stand breitbeinig über ihm. Er packte Steffen am Kragen und zerrte ihn hoch. Im selben Moment versuchte Steffen sich auf ihn zu werfen.
Sie taumelten Hals über Kopf, weg von der Spalte. Michael war der Stärkere von ihnen, er war alleweil größer und stärker gewesen. Keuchend kam Steffen im Schnee unter ihm zu liegen.
Michael rief etwas. Steffen hörte seine Worte nicht. Sein Atem ging heftig, und seine Lungen brannten. Als hätte der Leibhaftige seine Brust mit höllischen Klauen umfasst.
Aus der Gletscherspalte drang kein Laut mehr. Alles war still.
***
Der Gemischtwarenladen der Jeggl-Alma war ebenso ein Wahrzeichen von St. Christoph wie der Turm der Pfarrkirche. Was immer die Bewohner des Ortes benötigten, hier fanden sie es. Ob Unterwäsche, Strümpfe oder ein Piratenkostüm fürs Faschingsfest. Ob Mausefalle, Schneeschaufel oder Spaten. Ob Südtiroler Wein oder französischer Champagner. Ob Waschpulver, Katzenfutter oder Pralinen – die Jeggl-Alma kannte ihre St. Christopher. Und jeder, der zu ihr kam, wurde gut versorgt.
Umsonst gab es für die Kinder meistens ein Zuckerl zum Einkauf dazu. Und für die Älteren den neuesten Klatsch und Tratsch. Nicht umsonst bezeichnete Dr. Martin Burger den Laden scherzhaft als den »Dorfbrunnen«. Denn hier sprudelten die Neuigkeiten nur so. Wer die Tür öffnete, vernahm gleich als Erstes die Worte: »Hast du gehört, dass ...?« Oder: »Wisst ihr schon ...?«
Genauso war es heute. Kaum aber erkannten die versammelten Bäuerinnen, wer kurz vor Ladenschluss noch hereinkam, verstummte ihr Gespräch. Die Altbäuerin vom Mühlhof schob hastig eine graue Strähne, die sich gelockert hatte, zurück in ihren Haarknoten. Auch die anderen, ob jung oder alt, strichen ihre Dirndl-Schürzen glatt oder zupften an den Fransen ihrer Umschlagtücher. Alle bemühten sich, möglichst fesch auszusehen. Es passierte schließlich nicht oft, dass der hochgeschätzte Herr Doktor selbst den Laden betrat!
Die Jeggl-Alma hinter der Theke begrüßte den Arzt und fragte: »Herr Doktor, womit kann ich Ihnen helfen?« Ihre blaugrauen Augen funkelten vergnügt. Ihr war nicht entgangen, dass sich ihre Kundschaft gerade wie eine Schar eitler Gänse für den Gänserich herausputzte.
»Grüß dich, Alma«, erwiderte der Bergdoktor freundlich. Er warf einen Blick auf die Liste in seiner Hand. »Ich brauche bitte fürs Frühstück morgen ein Glaserl Erdbeer- und ein Glaserl Marillenmarmelade. Und hast du noch ein oder zwei Flaschen von dem Hollersaft, den die Kinder so gern trinken?«
»Freilich, Herr Doktor.« Die rundliche Krämerin eilte davon, um aus den Tiefen ihres Ladens das Gewünschte zu besorgen.
Hinter Martin Burger räusperte sich die junge Englederin vom Rösslhof.
»Normalerweise geht alleweil die Zenzi für Sie einkaufen, Herr Doktor. Sie ist doch net etwa krank?«
»Nein, nein«, versicherte ihr der Bergdoktor. »Nur hat sie heute Abend Chorprobe. Und ein kleiner Spaziergang nach der Arbeit tut mir gut. Net wahr, Poldi?« Lächelnd sah er auf den Rauhaardackel der Familie Burger herab. Dieser bellte zustimmend.
Schon kam Alma wieder. Sie stellte die Marmeladen und die Saftflaschen auf die Theke. »Bitte sehr, Herr Doktor.« Ihr Blick schweifte nach unten. »Und womit kann ich dir helfen, Poldi? Soll ich schnell schauen, ob ich ein Knackwürstl für dich hab?«
»Das ist net nötig«, wehrte Martin Burger ab. Doch Alma eilte bereits davon.
Die Englederin, die nach Zenzi gefragt hatte, ließ nicht locker: »Ich hab geglaubt, der Chor hätt erst gestern geprobt!«
»Die Probe heute ist für die Gedenkmesse«, warf die Santner-Geli ein. Sie war eine muntere, plumpe Mittsechzigerin aus Hohenluft und eine alte Schulfreundin der Bachhuber-Zenzi.
Die meisten Kundinnen im Laden senkten betrübt die Köpfe. Aber die Englederin lebte mit ihrem Mann noch nicht lange in St. Christoph. Unbefangen erkundigte sie sich: »Mei, was für eine Gedenkmesse? Für wen denn?«
»Für die Maria vom Rosenhof«, erklärte Geli knapp. Die Altbäuerin vom Mühlhof bekreuzigte sich. Sie war mit der Familie vom Rosenhof verschwägert, erinnerte sich der Bergdoktor.
Die Englederin schaute verwirrt drein. Sie spürte die Trauer der anderen, verstand aber den Grund dafür nicht. Martin Burger hatte Mitleid und ergriff das Wort.
»Die Maria war ein Madel aus St. Christoph«, erklärte er der jungen Bäuerin. »Dreiundzwanzig Jahr' alt ist sie bloß geworden. Sie ist im letzten Mai auf dem Feldkopf in eine Gletscherspalte gestürzt.«
Erschrocken schlug die Englederin eine Hand vor den Mund. Als sie sich wieder gefasst hatte, begann sie unsicher: »Und sie war ...?«
Mit einem Nicken bestätigte Martin Burger ihre traurige Ahnung.
»Sie war sofort tot. Zwei Burschen sind mit ihr wandern gewesen, ein Brüderpaar aus St. Christoph. Beides tüchtige Kraxler und beide bei der Bergwacht. Es ist so schnell gegangen, dass sie ihr net helfen konnten. Die Spalte war mehr als zwanzig Meter tief, hat mir der Dominikus Salt nachher erzählt. Die Maria ist ganz unten gelegen. Wahrscheinlich hat sie sich schon beim Absturz das Genick gebrochen.«