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Wie jedes Jahr im September unternimmt Dr. Martin Burger eine Wanderung in die Berge, um einfach mal vom Alltag abzuschalten und durchzuatmen. Er freut sich auf drei Tage, in denen es nichts anderes gibt als die Natur und den weiten, blauen Himmel - alle Probleme bleiben außen vor. Aber ist das wirklich so?
Seine dreitätige Auszeit in den heimatlichen Bergen endet auf der Feldkopfhütte. Dort trifft er das Ehepaar Gero und Anita Reinecker, die beiden leben seit zwei Jahren in München. Anita hat einige Jahre lang im Berghotel in St. Christoph gearbeitet.
Es ist eine seltsame bedrückende Begegnung. Gero und Anita reden nur wenig, sie vermeiden es, über ihr gemeinsames Leben in München zu sprechen. Doch ein paar Tage später taucht die viel zu blasse, junge Frau überraschend allein in Dr. Burgers Praxis auf und vertraut ihm ein erschütterndes Geheimnis an, das sie bislang streng gehütet hat ...
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Seitenzahl: 111
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Was uns verbindet, was uns trennt
Vorschau
Impressum
Was uns verbindet, was uns trennt
Dr. Burger stellt für ein Paar die Weichen des Schicksals
Von Andreas Kufsteiner
Wie jedes Jahr im September unternimmt Dr. Martin Burger eine Wanderung in die Berge, um einfach mal vom Alltag abzuschalten und durchzuatmen. Er freut sich auf drei Tage, in denen es nichts anderes gibt als die Natur und den weiten, blauen Himmel – alle Probleme bleiben außen vor. Aber ist das wirklich so?
Seine dreitätige Auszeit in den heimatlichen Bergen endet auf der Feldkopfhütte. Dort trifft er das Ehepaar Gero und Anita Reinecker, die beiden leben seit zwei Jahren in München. Anita hat einige Jahre lang im Berghotel in St. Christoph gearbeitet.
Es ist eine seltsame bedrückende Begegnung. Gero und Anita reden nur wenig, sie vermeiden es, über ihr gemeinsames Leben in München zu sprechen. Doch ein paar Tage später taucht die viel zu blasse, junge Frau allein in Dr. Burgers Praxis auf und vertraut ihm ein erschütterndes Geheimnis an, das sie bislang streng gehütet hat ...
Die Tage im goldenen Septemberlicht gehörten zu den schönsten im Jahr. Es war oft noch warm und sommerlich, aber der Herbst schickte bereits seine Vorboten ins Tal.
Nach und nach ging der Almsommer für die Menschen und für die Tiere zu Ende, in zwei Wochen fand der Almabtrieb statt.
Vorher waren die Hütten noch bewirtschaftet, wer gern noch einen echten Kaiserschmarrn oder Millirahmstrudel – von der Sennerin zubereitet – genießen wollte, der sollte recht zügig die Bergschuhe anziehen und keine Zeit verlieren. Denn in den letzten Tagen vor dem Almabtrieb hatten die Leut' auf der Alm damit zu tun, den diesjährigen Abschied vom grünen Bergparadies in die Wege zu leiten.
Alles musste winterfest gemacht werden. Die vierbeinigen »Sommerfrischler« wurden bekränzt und geschmückt, vor allem die Leitkuh mit der größten Glocke ging dann recht stolz mit einem besonders prächtigen Kranz voran, sozusagen als die »Schönste« der jeweiligen Alm. Fürs Backen und Kochen war die Zeit dann zu knapp.
Immerhin bekam man als hungriger Wanderer auf der Alm in jedem Fall noch ein gutes Stück Bergkäse mit Bauernbrot. Wenn man Glück hatte, stellte einem die Sennerin vielleicht noch ein Brotzeitbrett mit Speck und Rauchwurst hin. Aber ansonsten blieb die »Almkuchl« geschlossen!
Im Tal läutete der frühe Herbst den Beginn einer Zeit ein, in der man sich auf eine bunte Vielfalt freuen durfte.
Jeder erntete, was er gesät oder gepflanzt hatte. Äpfel, Nüsse, Obst und vieles mehr waren Geschenke der Natur. Denn ohne die Natur mit Sonne, Regen und Wind – auch der war wichtig! – hätte man von diesen köstlichen, frischen Genüssen nur träumen können.
Jedes Jahr machte Pfarrer Roseder gegen Ende des Sommers seine »Schäfchen« (also schon weit vor dem Erntedankfest im Oktober) darauf aufmerksam, dass Wachsen, Gedeihen und Ernten keine Selbstverständlichkeit waren und dass man dankbar dafür sein musste, wenn Küche und Keller rechtzeitig für die kalte Jahreszeit gerüstet waren.
Dabei zitierte er stets die folgenden Worte einer sehr klugen Frau:
»Mit allen Sinnen der Natur zugewandt
lasse ich mir von ihr erzählen,
vom Keimen und Blühen,
vom Wachsen und Reifen,
vom Werden und Vergehen.
Ich staune und freue mich.«
Dr. Martin Burger und seine Frau Sabine, ebenfalls Dr. med., fanden diesen Spruch besonders schön, weil er so klar und schlicht war.
Es musste keineswegs immer eine umständliche wissenschaftliche Dokumentation sein. Seitenlange Abhandlungen wirkten auf viele Menschen verwirrend oder – im schlimmsten Fall – sogar deprimierend. Zu viel Wissenschaft konnte den Blick für das Wesentliche trüben.
Die einfachsten Dinge waren oft die wahren Schätze im Leben, zum Beispiel der alte, von allen geliebte Apfelbaum im Garten der Burgers.
Klein-Laura, zweieinhalb Jahre alt, nannte ihn »das liebe Baumi«, weil er im Frühling so schön geblüht hatte und jetzt reichlich Äpfel trug. Die fröhliche Apfelernte stand kurz bevor.
Der Baum hatte wieder einmal sein Bestes gegeben. Die Familie hoffte, dass es noch viele Jahre so weitergehen würde. Die Äpfel allein waren es übrigens nicht, die den Baum fast zu einem Familienmitglied machten. Unersetzlich war auch der Schatten, den er an heißen Sommertagen spendete.
Man konnte außerdem den Kaffeetisch unter ihm decken und gemütlich beisammen sitzen. Die schönen Stunden unter dem alten Apfelbaum vergaß niemand mehr, der dort einmal gesessen hatte. Und für alle diese Wohltaten verlangte »Baumi« – nichts! Wobei er es ganz bestimmt gern hatte, dass die Kinder oft seinen Stamm umarmten, die knorrige Rinde streichelten und sich die Äpfel schmecken ließen.
Es war außerdem eine Freude für die Familie, wenn die kleinen Finken in den Zweigen ein Liedchen pfiffen. So mancher Vogel hatte sich hier schon ein Nestchen gebaut.
Die Wind raschelte leise (er wollte ja nicht stören!) in den derzeit noch grünen Blättern. Nur hier und da hatten sich einige Blättchen leicht verfärbt. Ganz dezent, ein paar bräunliche Pünktchen nur ... der Herbst ließ grüßen.
Er hatte es nicht eilig. Wie in jedem Jahr, so meldete er sich auch heuer gemächlich an.
Es war kein Wunder, dass man seine guten Gaben schätzte. Viele Sonnentage waren jetzt noch sehr wichtig, damit das Obst reifen konnte, vor allem die Zwetschgen, die nirgendwo fehlen durften – nicht im Zwetschgendatschi, im Strudel, im süßen Mus, im Kompott und schon gar nicht im »Zwetschgengeist«, der am Stammtisch für gute Laune sorgte.
Jeder hoffte, dass die Sonne auch in den nahen Weinbau-Gebieten (im Steirer Weinland und im benachbarten Südtirol) noch lange scheinen würde, denn man legte natürlich Wert auf schöne, reife Trauben. Was wären die Leute ohne einen guten Wein gewesen?
Man sollte es nicht glauben, aber selbst in St. Christoph erntete Bürgermeister Angerer an der sonnigen Südseite seines Hauses jährlich erstaunlich süße, vollmundige Trauben. Sie reichten für ein paar Flaschen Wein.
Die »Angerer Auslese« war guten Freunden, seiner Frau Paula und ihm selbst vorbehalten. Es galt als ganz besonderes Erlebnis, ein Flascherl zu öffnen und den Wein sozusagen auf den Gaumen und sich selbst einwirken zu lassen.
Die »Auslese« kam natürlich nur an einem Feiertag auf den Tisch, der diesen Hochgenuss verdient hatte, zum Beispiel an Weihnachten, Ostern oder auch an einem runden Geburtstag.
Pfarrer Roseder, einer der besten Weinkenner vor dem Herrn, nahm stets den ersten Schluck, um dann festzustellen: »Großartig! Nicht nur die Engel im Himmel hätten ihre Freude daran!«
Diese und jene Gedanken zum Herbst, der momentan noch in den Kinderschuhen steckte, gingen auch Martin und Sabine Burger durch den Kopf.
»Jetzt ist es also wieder so weit, Martin«, stellte Sabine mit einem Lächeln zu ihrem Mann fest. »Drei Tage lang bist du in den Bergen unterwegs – und wir begleiten dich natürlich in Gedanken. So ganz wirst du uns eben nicht los!« Sie zwinkerte ihm zu und ergänzte: »Wie sollen wir das nur aushalten? Vor allen Dinge ich, deine Frau? Ich werd' sehnsuchtsvoll auf dich warten wie früher die Burgfräulein auf ihren Ritter. Diese wackeren und mutigen Helden waren ja oft unterwegs, entweder auf den Kreuzzügen oder im Nachbarland, um dort alles zu erobern, was nicht niet- und nagelfest war.«
Dr. Burger lachte. »Klar. Wobei es ja in alten Schriften heißt, dass sich die edlen Damen in der Abwesenheit ihres Herrn und Meisters gern mit charmanten Minnesängern die Zeit vertrieben. Auch Adelige aus anderen Provinzen, die wie zufällig vorbeiritten und gegen eine Einladung nichts einzuwenden hatten, wurden gern gesehen. Man tafelte im großen Saal, jemand spielte auf der Laute, Bedienstete servierten Gesottenes und Gebratenes, und der Wein floss in Strömen.«
»Genau. Und wenn überraschend der Burgherr heimkehrte, fiel er aus allen Wolken. Seine edle Gattin als Mittelpunkt eines geselligen Abends, an dem man sich keine Zwänge auferlegte? Das hatte unangenehme Folgen! Aber keine Sorge, Martin, ich werde deine Abwesenheit anders überbrücken«, scherzte Sabine. »Tante Rika nimmt am Sonnabend die Kinder, und ich hab einen entspannten Tag vor mir. Endlich kann ich mich wieder mal im Wellness-Bereich des Berghotels so richtig verwöhnen lassen. Anschließend steht eine Kosmetikbehandlung an. Und abends ...«
»Abends gehst du früh zu Bett und denkst daran, dass ich in den Bergen mit dem Mond und den Sternen allein bin.«
»Natürlich. Ich denke eh immer an dich. Aber ich werde nicht gar so früh zu Bett gehen.« Sabine knabberte vergnügt an ein paar Haselnüssen, die sie vorhin am Strauch im Garten gepflückt hatte. Hübsch, diese Nüsschen, die paarweise aneinander hingen und schon sehr gut schmeckten, obwohl sie noch nicht ganz reif waren.
»Die Baronin hat mich aufs Schlössl eingeladen«, fuhr sie fort. »Es gibt eine kleine Theateraufführung einer Innsbrucker Laienbühne. Sehr nette, begabte, junge Schauspieler, meinte sie. Ihr Mann ist derzeit unterwegs. Sie sagte, dass sie ihn im Herbst nur selten sieht. Markus streift dann durch die Wälder und verbringt viel Zeit auf seinen verschiedenen Jagdhütten.«
»Das stimmt, aber im Gegensatz zu mir ist der Baron von Brauneck fast nie allein«, wusste der Doktor. »Während ich droben in den Bergen den Kopf mal so richtig freikriegen und durchatmen will, trifft sich der Baron meistens mit Freunden. Dabei geht es ausgelassen zu, vor allem, wenn auch noch ein paar Damen eingeladen sind.«
»Burgfräulein? Diejenigen, die gerade keinen Minnesänger zu Gast haben?«
»So ähnlich.« Martin Burger lachte. »Na ja, eigentlich weiß jeder, dass der Baron kein Kind von Traurigkeit ist. Ein bodenständiger Abend auf einer Hütte kann sehr unterhaltsam sein. Und die Musikabende seiner Frau sind eh nicht sein Ding, das kann ich verstehen, denn ich werde auch immer ganz blass, wenn uns die Baronin zu einem Schlosskonzert einlädt. Nicht äußerlich, es ist eigentlich mehr eine inwendige Blässe, die mich dann überfällt. Medizinisch schwer zu erklären.«
»Ich weiß«, erwiderte Sabine. »Aber wir können nicht absagen, denn Christine von Brauneck schätzt vor allen Dingen dich so sehr, dass sie sogar auf ihre Lieblings-Opernarien verzichten würde, wenn du ihr stattdessen einen Spaziergang im Park verordnen würdest – ganz ohne Rezept.«
»Jetzt übertreibst du aber, Liebes.«
»Vielleicht, aber sie glaubt dir alles, das steht fest«, setzte Sabine hinzu. »Ich soll dich übrigens sehr, sehr herzlich grüßen. Sie wünscht dir drei erholsame Tage und rät dir zu einer tibetanischen Meditation in der Stille der Natur.«
»Ich entspanne mich auf meine Weise, Schatz. Einfach nur das Gedankenkarussell mal abstellen, das reicht schon«, antwortete Martin Burger. »Nicht auf die Uhr schauen. Durchatmen. Und vielleicht Bilanz ziehen. Der Sommer geht zu Ende, es herbstelt, bald denken wir an den Winter. Man möchte es nicht, aber es kann nicht schaden, schon jetzt für das Kaminholz zu sorgen. Und so geht ein Jahr nach dem anderen dahin. Im Alltag will man nicht wahrhaben, dass irgendwann die Zeit endet und die Räder stillstehen. Dann kommt es nur noch darauf an, dass man nicht umsonst gelebt hat. Dass man weiß, alles hatte einen Sinn. Ich gehe jedes Jahr um diese Zeit in die Berge, um zu spüren, wie wertvoll das Leben ist.«
Sabine nickte. »Es ist so wertvoll, dass du als Arzt alles tust, um das Leben zu schützen und zu erhalten.«
»Du auch, mein Schatz. Helfen und nicht aufgeben, das ist für dich und mich das größte Anliegen«, ergänzte der Doktor. »Wir haben beide einen Eid geschworen, den Eid des Hippokrates. Ich glaube aber, dass auch in der Medizin nicht nur die wissenschaftlichen Erkenntnisse einen Platz haben dürfen.«
Sabine nickte. »Genau das denke ich auch, Martin. Es kommt ganz besonders auf das Verständnis für die Menschen an, mit denen wir es zu tun haben, auf die Zuwendung und auf das Zuhören, wenn jemand Probleme hat.«
»Ganz richtig«, ergänzte der Doktor. »Es gibt Kollegen, die hervorragende Fachkenntnisse haben, aber bei der Behandlung ihrer Patienten möglichst alle Gefühle ausklammern. Natürlich muss man sachlich bleiben und das tun, was die Situation erfordert. In der Regel hilft es aber einem Patienten sehr, wenn man seine Hand hält, mit ihm redet und ihn beruhigt. Er soll merken, dass ein Mensch bei ihm ist und kein Medizin-Roboter. Wir können uns über sehr gute Neuentwicklungen freuen, über hervorragende Diagnostik-Möglichkeiten mit Hilfe von technischen und digital gesteuerten Geräten, vor allem auch im Bereich der Chirurgie. Aber kein Gerät der Welt, und sei es noch so intelligent konstruiert, kann menschliche Wärme ersetzen.«
»Wir sind uns einig«, stellte Sabine fest. »Beruflich und auch im Umgang mit den Leuten hier im Dorf – und anderswo – sind wir auf einem Nenner. Na ja, und privat läuft bei uns alles so ab, wie es sicher bei vielen Familie der Fall ist. Mal klappt alles wie am Schnürchen, manchmal hakt es auch ein bisserl – und falls es mal im Kamin raucht, dann ist hernach die Luft auch schnell wieder rein. Wenn mich jemand fragt, dann sage ich ehrlich, dass wir eine sehr glückliche Familie sind.«
»Das stimmt. Insgesamt sind wir zwar bunt gemischt und nicht immer einer Meinung«, scherzte der Doktor. »Und trotzdem bereuen wir es nie, dass wir alle zusammen wohnen. Du und ich, unsere drei Mäuse, Vater mit seinen vielen Ideen und seinem speziellen Humor und die Zenzi, ohne die wir nicht da wären, wo wir heute sind. Wenn sie nach dem Tod meiner Mutter – damals war ich erst elf Jahre alt – nicht als junge Hauswirtschafterin uns gekommen wäre, dann hätten Vater und ich die Zügel bestimmt schleifen lassen. Sie hat auf ihre eigene Art wieder eine Struktur in den Alltag gebracht, eine Ordnung, die wir damals brauchten. Sie hat wirklich sehr viel für uns getan. Deshalb haben wir uns ja auch mit ihren Eigenheiten abgefunden.«