Der Bergdoktor 2203 - Andreas Kufsteiner - E-Book

Der Bergdoktor 2203 E-Book

Andreas Kufsteiner

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Beschreibung

Seit Wochen kommen die Bewohner von St. Christoph nicht zur Ruhe. Unglaubliche Ereignisse erschüttern die Dörfler und stören den Frieden.
Zuerst wurde das Familiengrab der Aubingers vollständig verwüstet, die Pflanzen zertrampelt und das kunstvoll geschmiedete Kreuz umgerissen. Dann gab es eine mitwillige Zerstörung in Pfarrer Roseders Rosengarten. Und eines Nachts stand schließlich der gesamte Aubinger-Hof lichterloh in Flammen.
Gendarm Ludwig Sirch ermittelt auf Hochtouren. Er ist sicher: Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen den Taten!
Auch in der Praxis von Dr. Burger hört man die wildesten Spekulationen aus dem Wartezimmer. Und dabei taucht plötzlich der Name Mila Sarner auf. So hieß die junge Magd, die der Aubinger vor einigen Jahren vom Hof jagte, in klirrender Kälte, ohne Mantel, mitten in der Nacht ...


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Seitenzahl: 134

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

Cover

Nächtliche Schatten

Vorschau

Impressum

Nächtliche Schatten

Dr. Burger und das Unheil vom Aubinger-Hof

Von Andreas Kufsteiner

Seit Wochen kommen die Bewohner von St. Christoph nicht zur Ruhe. Unglaubliche Ereignisse erschüttern die Dörfler und stören den Frieden.

Zuerst wurde das Familiengrab der Aubingers vollständig verwüstet, die Pflanzen zertrampelt und das kunstvoll geschmiedete Kreuz umgerissen. Dann gab es eine mutwillige Zerstörung in Pfarrer Roseders Rosengarten. Und eines Nachts stand schließlich der gesamte Aubinger-Hof lichterloh in Flammen.

Gendarm Ludwig Sirch ermittelt auf Hochtouren. Er ist sicher: Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen den fürchterlichen Taten!

Auch in der Praxis von Dr. Burger hört man die wildesten Spekulationen aus dem Wartezimmer. Und dabei taucht plötzlich der Name Mila Sarner auf. So hieß die junge Magd, die der Aubinger vor einigen Jahren vom Hof jagte, in klirrender Kälte, ohne Mantel, mitten in der Nacht ...

»Endlich bist du daheim!«, rief Tessa aus und stürmte ihrem Vater entgegen, kaum, dass er die Haustür geöffnet hatte.

»Ja, endlich! Wir haben schon angefangen, uns Sorgen zu machen, Liebling«, gestand Sabine und umarmte ihren Mann liebevoll.

»Es war ein harter Tag«, erwiderte Dr. Burger nur knapp.

Er wirkte erschöpft, die Erschütterung grub tiefe Linien in sein sonst so jugendliches Gesicht. Einen Augenblick griff er haltsuchend nach dem Arm seiner Frau, dann betrat er das gemütliche Wohn- und Esszimmer des Doktorhauses.

»Schön, dass ihr mit dem Abendessen auf mich gewartet habt«, sagte er dankbar, und sein Blick flog über den üppig gedeckten Tisch.

»Wir sind schon halb verhungert«, ließ sich Filli vernehmen.

Filli, der eigentlich Philipp hieß, war um einiges jünger als seine achtjährige Schwester. Er freute sich schon auf die Schule, denn er war sehr wissbegierig, aber auch ein wenig altklug, wie es oft bei Kindern seiner Art vorkommt.

Sein Vater wuschelte ihm liebevoll durchs blonde Haar. Schließlich nahmen alle am Esstisch Platz, und Zenzi Bachhuber, der gute Geist des Doktorhauses, kam mit einer großen Suppenterrine, die sie vorsichtig absetzte, aus der Küche. Danach legte sie noch Scheiben von ihrem selbstgebackenen Brot, das köstlich duftete, in den geflochtenen Korb.

Zenzi war eine hagere Frau Anfang sechzig, deren Haar meist zu einem Knoten festgesteckt war, der ordentlich an ihrem Hinterkopf saß. Sie wirkte sehr streng, und sie hatte auch strenge Prinzipien, besonders was Kindererziehung betraf, allerdings wandte Zenzi sie nie an. Sie betrachtete die Burgers als ihre Familie, mit der sie untrennbar verbunden war, denn sie hatte Martin, der mit elf Jahren seine Mutter verloren hatte, aufgezogen.

Nun trat auch Dr. Pankraz Burger, Martins Vater, aus dem angrenzenden Kabinettl, in dem er wohnte.

»Kann es sein, Zenzerl, dass du wieder einen deiner unwiderstehlichen Eintöpfe gekocht hast? Etwa den Linseneintopf mit Würstln?«, rief er aus.

»Er war vorhin in der Küche und hat in den Topf geschaut, als du im Garten warst, Zenzi«, rief Filli.

»He, du kleine Petze«, erwiderte sein Großvater.

Erneut wurde Fillis Haar verwuschelt, aber dieses Mal nicht ganz so zärtlich wie von seinem Vater.

Pankraz Burger war ein stattlicher Mann in den Siebzigern, dessen gewölbte Leibesmitte verriet, dass er leiblichen Genüssen nicht abgeneigt war. Sehr zum Missfallen seiner Schwiegertochter, die um sein Wohl besorgt war und schon mehrmals versucht hatte, ihn zu einer Diät zu überreden, was er jedoch strikt ablehnte.

Dennoch war er seiner Schwiegertochter sehr zugetan, denn sie hatte aus seinem Sohn wieder einen glücklichen Mann gemacht. Martin Burger war nach dem Tod seiner ersten Frau Christl, die bei der Geburt ihres Kindes an einer unerwarteten Komplikation gestorben war, in den Zustand völliger Verzweiflung versunken. Nicht zuletzt, weil auch das Neugeborene seiner Mutter gefolgt war. Er hatte seine Heimat verlassen, wo ihn alles an die geliebte Frau erinnerte, und hatte in München einen Abschluss als Chirurg gemacht. Schließlich aber war er ins Zillertal zurückgekehrt, um seinen Vater zu unterstützen.

Lange hatte die Arbeit im Mittelpunkt seines Lebens gestanden. Er hatte die Praxis inzwischen um einen Anbau erweitert, in dem sich ein kleiner Operationssaal, Röntgen, Labor und zwei Krankenzimmer für Notfälle befanden, sodass die Dörfler die Einrichtung die »Mini-Klinik« nannten.

Und auch Martin hatte einen Beinamen erhalten – er hieß allgemein der Bergdoktor. Und das nicht nur, weil er mit seinem Freund Dominikus Salt, dem Leiter der Bergwacht, schon viele leichtsinnige Touristen aus Bergnot gerettet hatte, sondern weil er sich nicht nur um die Gesundheit seiner Patienten kümmerte, sondern auch um ihre Sorgen und Nöte.

Martin Burger hatte sich lange nicht vorstellen können, wieder zu heiraten. Doch als er der jungen Wiener Anästhesistin Sabine, die zu Besuch in St. Christoph weilte, zum ersten Mal in die braunen Augen gesehen hatte, war es um ihn geschehen gewesen. Sabine hatte seine Gefühle erwidert und ihr bisheriges Leben hinter sich gelassen. Seit mittlerweile acht Jahren führten sie eine ungemein glückliche Ehe, und Sabine beteuerte immer wieder, dass sie es nicht eine einzige Sekunde bereut hatte, Wien für ein abgelegenes Bergdorf getauscht zu haben.

Ihre drei Kinder waren die Krönung ihrer Liebe. Tessa war ein Adoptivkind, aber das war längst vergessen, dann wurden Filli und zuletzt die kleine Laura geboren, die nun zweieinhalb Jahre alt war.

So lebte die Familie harmonisch zusammen unter einem Dach. Hin und wieder gab es natürlich Meinungsverschiedenheiten, doch die wurden rasch beigelegt, denn man respektierte sich gegenseitig.

»Köstlich, köstlich«, rief Pankraz nun aus. Der Linseneintopf schien ihm offensichtlich zu schmecken.

Auch Poldi, der Rauhaardackel der Burgers, hatte die Witterung aufgenommen und unter dem Tisch zu Füßen von Pankraz Platz genommen. Denn er konnte sicher sein, dass sein Herrchen ihm ein Leckerchen hinunterreichen würde.

Auch das sah Sabine nicht gern, denn Poldi hatte an Gewicht zugenommen, weil er von Pankraz so verwöhnt würde. Hin und wieder zog Sabine Vergleiche zwischen Herr und Hund, die nicht sehr schmeichelhaft ausfielen und ihren Schwiegervater anfangs doch ziemlich gekränkt hatten. Doch jetzt stand er darüber.

»Dass du dem Poldi nur ein Würstl gibst«, ermahnte ihn Sabine sofort.

Pankraz verdrehte die Augen.

»Und du hältst dich auch zurück«, fuhr sie fort.

»Wie kannst du nur mit einer solch strengen Frau zusammenleben, Martin!«, rief Pankraz melodramatisch aus.

»Sehr gut, denn ich bin ganz ihrer Meinung«, gab Martin schmunzelnd zurück.

Pankraz seufzte tief auf und ließ dann blitzschnell ein Würstl unter dem Tisch verschwinden, als Sabine von Filli abgelenkt wurde. Ansonsten verlief das Abendessen friedlich, auch wenn Martin ziemlich wortkarg war und Sabine dem Essverhalten ihres Schwiegervaters mehr Aufmerksamkeit schenkte, als Pankraz lieb war.

Die Kinder wären zwar gerne noch länger aufgeblieben, um Monopoly zu spielen, doch beide waren bereits übermüdet.

»Wir holen den Spieleabend ein andermal nach«, versprach ihnen ihr Vater.

»Ich lese euch auch etwas vor«, stellte ihr Großvater in Aussicht.

Widerspruchslos gingen die Kleinen zu Bett, wenig später gefolgt von ihrem Großvater. Sabine und Martin ließen sich auf dem gemütlichen Sofa im Wohnzimmer nieder, um noch ein Glaserl Wein zu trinken und sich zu unterhalten, bevor sie zu Bett gingen. Auch Zenzi setzte sich zu ihnen, nachdem sie noch kurz in der Küche herumgewirtschaftet hatte.

Früher als gedacht kam Pankraz wieder die Treppe hinunter, die zu den Kinderzimmern im Obergeschoss führte.

»Die Mäuse waren so übermüdet, dass ich noch nicht einmal die Hälfte des Märchens vorgelesen habe«, erklärte er und ließ sich dann aufseufzend in den bequemen Sessel gegenüber sinken.

»Hoffentlich war es nichts Gruseliges«, sagte Sabine besorgt. »Manche Märchen sind nämlich ziemlich grausam.«

»Das Märchen von Rapunzel ist nun wirklich ziemlich harmlos«, verteidigte sich Pankraz sofort und nahm einen Schluck aus seinem Weinglas.

Pankraz Burger schrieb nämlich schon lange an einer Chronik des Zillertals und sammelte daher alte Sagen, Märchen und Legenden. Und manche von ihnen, die er seinen Enkeln vorgelesen hatte, waren wirklich unheimlich, sodass die Kinder vor Angst nachts nicht schlafen konnten.

Sie plauderten ein wenig, und Zenzi ließ sich ausführlich über den neuesten Klatsch aus, der ihr im Gemischtwarenladen der Jeggl-Alma, ihrer langjährigen Busenfreundin, zu Ohren gekommen war.

»Die Aubingers wollen ihre Tochter unbedingt mit dem Steininger-Jakob verkuppeln. Er hat halt einen großen Hof. Doch die Aubinger-Fina sträubt sich, angeblich hat sie schon einen Schatz ...«

»Dass es halt immer nur ums Geld gehen muss«, fiel ihr Sabine ins Wort und schüttelte missbilligend den Kopf.

»Aber manchmal siegt halt doch die Liebe«, wandte Zenzi ein, »auch wenn es lange dauern kann.«

»Hoffentlich«, meinte Sabine.

Pankraz steuerte noch eine Anekdote bei, die beweisen sollte, wie ein störrischer Vater von einem jungen Paar überlistet worden war, damit er endlich in die Heirat einwilligte. Das hob die Stimmung, und auch Martin musste lächeln.

Doch dann ließ sie ein gellender Schrei auffahren.

»Das war Filli«, rief Sabine erschrocken aus.

Sabine und Martin eilten die Stufen hoch, Pankraz und Zenzi kamen langsamer hinterher.

Filli stand am Fenster und starrte nach draußen. Er zitterte am ganzen Körper, und als er sich zu seinen Eltern umdrehte, war sein Gesicht blass vor Angst.

»Was ist denn los, Spatzl?«, wollte Sabine sofort wissen.

Filli begann zu weinen und konnte nicht sprechen.

Seine Mutter nahm ihn in den Arm und wiegte ihn, bis er sich beruhigt hatte. Auch Tessa war aufgewacht und schmiegte sich an ihren Vater.

»Was hast du gesehen da draußen?«, fragte Sabine und spürte, wie ein Schauer durch den Körper ihres kleinen Sohnes ging.

»Ich hab Durst gehabt und wollt' etwas trinken. Ich hab aus dem Fenster geschaut, weil Vollmond ist, und dann ...« Filli stockte erneut.

»Was war da draußen?«

»Ein Mann ...«

»Bei Vollmond sind schon so einige unterwegs, das sind nämlich ganz besondere Nächte«, warf Pankraz ein.

»Vielleicht hast du auch nur einen Albtraum gehabt«, sagte Zenzi nüchtern.

»Nein, nein, ich hab net geträumt«, widersprach Filli heftig und war erneut den Tränen nah, sodass Sabine ihn liebevoll streichelte.

»Und was war denn eigentlich so Besonderes an dem Mann, dass du dich so vor ihm erschreckt hast?«, fragte sein Vater.

Fillis Körper versteifte sich. »Er hatte ... kein Gesicht!«

Stockend kamen diese Worte aus seinem Mund, dann brach er wieder in hemmungsloses Weinen aus.

»Ich koche dir einen Beruhigungstee, Tschapperl«, verkündete Zenzi und verließ eilends das Kinderzimmer.

Nachdem ihm seine Eltern gut zugeredet hatten, beruhigte Filli sich endlich etwas.

»Was meinst du damit, dass er kein Gesicht gehabt hat?«, drang sein Vater in ihn.

»Da war nur ein schwarzer Fleck«, gab Filli leise zurück.

Martin wandte sich nun Tessa zu. »Und du? Hast du auch etwas gesehen?«

Tessa schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre schwarzbraunen Locken, denen sie den Kosenamen »Schneckerl« verdankte, nur so um ihr reizendes Gesicht mit den dunklen Brombeeraugen tanzten.

»Nein, ich hab fest geschlafen. Erst nachdem Filli so geschrien hat, bin ich aufgestanden«, gab sie Auskunft.

Sabine und Martin blieben bei den Kindern, bis sie Zenzis bewährten Beruhigungstee, den sie ausnahmsweise mit Honig verfeinert hatte, schluckweise getrunken hatten und bald danach endlich eingeschlafen waren. Dann gingen auch die Erwachsenen zu Bett.

Pankraz Burger zog sich wieder in sein Kabinettl zurück, wo er gerade über einer Familiengeschichte brütete, die er von einer alten Frau, die auf einem abgelegenen Gehöft hauste, erfahren hatte. Was sie ihm erzählt hatte, war an Grausamkeit kaum noch zu überbieten. Dennoch entschloss er sich, sie niederzuschreiben, denn auch das gehörte zur Vergangenheit des schönen Zillertals.

Zenzi schleuderte die Schuhe, die sie wieder einmal den ganzen Tag gedrückt hatten, von den Füßen. Dann hüllte sie sich in ihr altmodisches Spitzennachthemd und legte sich in ihr Bett, das unter der Dachschräge ihrer gemütlichen Kammer stand. Sie hatte sich ebenfalls eine Tasse des Beruhigungstees mit nach oben genommen und gleich drei Löffel Honig hineingetan. Denn auch wenn sie sich nichts anmerken ließ, so ging es ihr doch sehr nahe, wenn es einem Mitglied »ihrer« Familie nicht gutging.

Wie Filli geweint hatte, der arme Kleine!

Als die Tasse geleert war, schloss sie die Augen und sprach ihr Abendgebet, das auch die Familie mit einschloss. Dann endlich versank sie in einen tiefen Schlaf.

***

Sabine und Martin hatten inzwischen ihr blaues Schlafzimmer betreten. Wie der Name schon besagte, war in diesem Raum die Farbe Blau vorherrschend. Gardinen und Vorhänge waren in blauen Farbabstufungen gehalten, und auch der Hintergrund des Tiroler Schranks, der kunstvoll mit weißen Rosen und roten Herzen bemalt war, wies ein intensives Tiefblau auf.

Der Mittelpunkt des Raums war ein großes Himmelbett, das die romantische Atmosphäre noch verdichtete. Das blaue Schlafzimmer war das Refugium der Burgers, hier vertrauten sie einander ihre geheimsten Gedanken an und erneuerten den Bund ihrer Liebe.

Martin Burger konnte trotz seiner Erschöpfung nicht einschlafen und rückte im Bett näher an seine Frau heran.

»Ich mache mir große Sorgen um unseren Filli. Er ist sehr empfindsam und hat eine lebhafte Phantasie. Es wäre furchtbar, wenn er sich Dinge einbildet, die es überhaupt nicht gibt«, meinte Martin.

»Du sollst als Kind genauso gewesen sein«, erwiderte Sabine.

»So? Wer hat dir das denn verraten?«

»Es gibt nicht nur einen Verdächtigen. Es kommt nicht selten vor, dass gerade Menschen, die als Kind sehr sensibel waren, später sehr lebenstüchtig und belastbar werden. Also, mach dir keine Sorgen, Liebling.«

Martin schwieg und genoss es, dass Sabine zärtlich seine Schulter streichelte.

»Und wenn er wirklich jemanden gesehen hat, dessen Gesicht nicht erkennbar war?«, fuhr er gleich darauf fort.

Sabine dachte einen Augenblick nach.

»Vielleicht war es jemand, der eine Sturmhaube getragen hat. In der Dunkelheit kann es dann den Eindruck erwecken, als ob derjenige gesichtslos wäre«, meinte sie.

»Da könntest du recht haben. Sehr beruhigend ist die Vorstellung nicht, dass da draußen jemand mit einer Sturmhaube herumläuft. So, als wollte er nicht erkannt werden, weil er etwas Übles im Sinn hat«, gab Martin zurück.

»Vielleicht gibt es auch eine harmlose Erklärung«, sagte Sabine, obwohl sie selbst nicht davon überzeugt war.

»Ach, heute war überhaupt ein furchtbarer Tag. Manchmal kommt eben alles zusammen«, brach es unvermittelt aus Martin hervor.

»Hat es etwas mit der Thaler-Resi zu tun? Sie steht doch kurz vor ihrer Niederkunft, wenn ich mich net irre.«

»Ja. Ihr Mann hat mich angerufen, weil mit seiner Resi etwas nicht stimmen würde. Ich bin sofort zu ihnen auf den Hof gefahren und traf die junge Bäuerin in einem furchtbaren Zustand an. Ich konnte ihr Leben retten, aber das kleine Büberl, auf das sie sich so gefreut haben, kam still zu Welt. Sie hat geschrien vor Schmerz und Verzweiflung, und ihr Mann hat laut geweint. So ein Unglück! Dabei sind die beiden doch so freundliche, liebenswerte Menschen ...« Die Stimme versagte ihm, und es dauerte eine Weile, bis er weitersprechen konnte. »Resi ist ins Klinikum in Mayrhofen gebracht worden, dort wird man alles für sie tun«, schloss er.

Sabine ahnte, warum gerade dieses Ereignis Martin so erschüttert und aufgewühlt hatte. Brachte es doch die Erinnerung an sein eigenes Kind zurück, das nach dem Tod seiner ersten Frau ebenfalls gestorben war.

Sie schmiegte sich an ihn, und in liebevoller Umarmung schliefen sie endlich ein.

***

Filli war am nächsten Tag immer noch verstört und weigerte sich sogar, das Haus zu verlassen, als ob draußen eine unbekannte Gefahr lauerte. Der Fünfjährige mochte sein Lieblingsmüsli nicht essen, das ihm Zenzi noch liebevoll angereichert hatte, und streichelte auch nicht Poldi, der seine feuchte Nase in seiner Kniekehle rieb. Gekränkt zog sich der Rauhaardackel in sein Körbchen unter dem Treppenaufgang zurück.

Seinem Großvater gelang es jedoch, ihn dazu zu überreden, in die Kita zu gehen. Dass Pankraz ihn dorthin begleitete und an der Hand hielt, schien ihn zu beruhigen. Und allmählich, als er mit seinen Freunden herumtollte, wichen seine Ängste von ihm.

Auch Zenzi machte sich einmal mehr ihre Gedanken. Zum Glück gab es einen Ort, wo man alles erfuhr, was in St. Christoph vor sich ging, und das war der Gemischtwarenladen der Jeggl-Alma. Martin Burger bezeichnete das »Einkaufsparadies« als die Brutstätte des Klatsches, doch Zenzi fand, dass es manchmal ganz gut war, über gewisse Dinge Bescheid zu wissen.

Als sie mit der Hausarbeit fertig war, brach sie zu dem Laden auf, der sich unweit des Doktorhauses ebenfalls in der Kirchgasse befand. In dem stattlichen Eckhaus ging ebenfalls ein Friseur seinem Handwerk nach, und im Oberschoss bot Alma Gästezimmer an. Hin und wieder nahm sie auch jemanden auf, der sich in einer Notsituation befand, denn die Jeggl-Alma hatte das Herz auf dem rechten Fleck.