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Die Nacht ist kalt und sternenklar. In zwei Tagen läuten die Glocken bereits den ersten Advent ein, und der Christkindlmarkt auf dem Kirchplatz von St. Christoph soll eröffnet werden. Aber feiern, wenn bei der Familie Burger blanke Angst herrscht? Nein, das will niemand im Dorf, auch wenn Dr. Burger verlauten lässt, dass es sicher im Sinne seines Vater sei, die Adventszeit und die Weihnachtstage wie jedes Jahr zu begehen.
Das stimmt. Mit dem Unterschied, dass der Senior nicht reden kann. Pankraz Burger liegt mit einem Schädel-Hirn-Trauma im Intensivzimmer, die Überwachung seiner Körperfunktionen ist lückenlos. Trotzdem ist die Angst riesengroß, dass er es mit seinen siebenundsiebzig Jahren nicht mehr schaffen wird.
Aber ein Leben ohne Pankraz, ohne Vater, Schwiegerpapa, ohne den heißgeliebten Opa? Unvorstellbar!
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Seitenzahl: 107
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Große Angst um Pankraz Burger
Vorschau
Impressum
Große Angst um Pankraz Burger
Der geliebte Altdoktor schwebt in Lebensgefahr
Von Andreas Kufsteiner
Die Nacht ist kalt und sternenklar. In zwei Tagen läuten die Glocken bereits den ersten Advent ein, und der Christkindlmarkt auf dem Kirchplatz von St. Christoph soll eröffnet werden. Aber feiern, wenn bei der Familie Burger blanke Angst herrscht? Nein, das will niemand im Dorf, auch wenn Dr. Burger verlauten lässt, dass es sicher im Sinne seines Vater sei, die Adventszeit und die Weihnachtstage wie jedes Jahr zu begehen.
Das stimmt. Mit dem Unterschied, dass der Senior nicht reden kann. Pankraz Burger liegt mit einem Schädel-Hirn-Trauma im Intensivzimmer, die Überwachung seiner Körperfunktionen ist lückenlos. Trotzdem ist die Angst riesengroß, dass er es mit seinen siebenundsiebzig Jahren nicht mehr schaffen wird.
Aber ein Leben ohne Pankraz, ohne Vater, Schwiegerpapa, ohne den heißgeliebten Opa? Unvorstellbar!
Arno Sendler erreichte St. Christoph erst im Laufe des späten Abends. Er hatte in München noch einige Gespräche geführt und sich dann verabschiedet – und zwar für einige Wochen, wenn nicht gar für zwei, drei Monate.
Ihm stand überhaupt nicht der Sinn danach, früher als nötig nach München zurückzukehren und dort weiterzumachen, wo er aufgehört hatte. Er hatte die Tür hinter sich geschlossen und beglückwünschte sich selbst dazu, dass er den Absprung gewagt hatte.
Es war windig an diesem Abend, noch dazu feucht und kühl, typisch für den Monat November. Dort, wo die Wiesen rund ums Dorf an den Bergwald grenzten, war die Dunkelheit undurchdringlich, nur hier und da sah man ein Licht schimmern, das zu einer Hütte oder einem Einödhof weit droben gehörte.
Der Wind fuhr durch die entlaubten Bäume und riss ein paar dünne Äste mit sich, die das nächste Frühjahr eh nicht mehr erlebt hätten.
Außerdem rüttelte er an allen möglichen Dingen, die nicht ganz niet- und nagelfest waren. Der Herbstwind hatte aber auch sein Gutes, denn er vertrieb die Nebelschwaden, die an den Tagen zuvor – zusätzlich zur abendlichen Dunkelheit – die Sicht behindert hatten.
Auf den Nebel konnte man gut und gerne verzichten. Manchmal allerdings, wenn in der Frühe die weißen Schwaden aus den Wiesen aufstiegen und das Morgenlicht die Nacht vertrieb, konnte man dem Nebel einen ganz bestimmten Zauber nachsagen.
In dieser melancholischen und stillen Zeit, die auf den heiteren, bunten Herbst im September und Oktober folgte, holte man in den Tiroler Alpenhäusern und auf den Berghöfen wieder die alten Sagenbücher hervor.
Am Kaminfeuer wurden die Geschichten von den Feen und Elfen wieder lebendig, die in ihren weißen, federleichten Schleiern zwischen Traum und Tag einen Reigen tanzten und geschwind in ihrem Zauberreich verschwanden, sobald es hell wurde.
Keineswegs jedoch war der November immer nur neblig, grau oder bedrückend. Man dachte an die Sommertage zurück, freute sich über alles, was man gesehen und erlebt hatte, saß in der Stube bei Kaffee oder einem Glas Wein beisammen und plante schon ein wenig in den Dezember hinein, denn das Weihnachtsfest war in den Bergen immer noch der Höhepunkt des Jahres.
Es gab im November natürlich von jeher auch die Tage der Trauer und der stillen Erinnerungen an jene, die den Schauplatz dieser Welt bereits verlassen hatten.
Viele Dörfler trafen sich derzeit auf dem Friedhof. Nachbarn, Freunde und Verwandte schmückten die Gräber mit immergrünen Pflanzen, Chrysanthemen, weißen Lilien und Heidekraut. Leise Gespräche, die trösten konnten, wenn Tränen flossen, wirkten wie Balsam für die Seele und endeten meistens mit einem ermunternden Lächeln und einem Händedruck. Die Hoffnung kehrte zurück, wenn man sich gegenseitig unterstützte. Und eins war gewiss: Es würde immer wieder einen neuen Morgen geben.
Das Leben ging weiter, Schritt für Schritt, Stunde um Stunde, Tag für Tag. Und wenn dann die Sonne durch die Wolken schien und das Novembergrau mit Gold und Silber schmückte, dann erinnerte man sich an Pfarrer Roseders Worte aus seiner Predigt vom zurückliegenden Sonntag: »Wir dürfen nie vergessen, dass wir alle gesegnet und behütet sind – was auch geschieht.«
Diese oder ähnliche Gedanken gingen dem Gast in der warmen Steppjacke, deren Kragen er fast bis zum Kinn hochgezogen hatte, allerdings nicht durch den Kopf. Alles, was Arno jetzt brauchte, war ein Abendessen – es musste absolut kein Drei-Gänge-Menü sein. Und außerdem wünschte er sich Ruhe.
Nie hätte er früher daran gedacht, dass es ihm irgendwann so wichtig sein würde, seine vertraute Heimatstadt München kurz entschlossen zu verlassen, um in eine ganz andere Welt einzutauchen.
Was er in der letzten Zeit mitgemacht hatte, privat und beruflich, war ihm an die Substanz gegangen.
Manchmal hatte er sich gefragt, ob er eigentlich noch er selbst war, nämlich Arno Sendler, Innenarchitekt und Einrichtungsexperte mit einem besonders guten Gespür für die Wünsche seiner Kunden. Er hätte derzeit nichts dagegen gehabt, jemand anders zu sein, zum Beispiel ein Wanderer zwischen Berg und Tal, frei und offen für alle Wunder des Lebens. Jeder Mensch, der durchatmen konnte und nicht von Problemen verfolgt wurde, war zu beneiden. Andererseits gab es wohl kaum jemanden, der jeden Tag sorglos dahinleben konnte.
Arno war jedoch an einem Punkt angekommen, der Stresspegel hatte schon seit Wochen unzumutbare Höhen erreicht. Nun war es endgültig genug, und er fühlte sich »reif für die Insel«. Gut, dass er sich entschieden hatte, endlich an sich selbst zu denken und die Notbremse zu ziehen. Und das ohne Rücksicht auf die Einwände anderer »blitzgescheiter« Leute, die ihm ermunternd auf die Schulter geklopft hatten:
»Du packst das schon, Arno, denk an deine Karriere! Nur nicht nachlassen! Wenn du dich jetzt ausklinkst, verlierst du am Ende noch den Anschluss. Du kannst doch nicht so einfach in irgendeinem Bergdorf unterkriechen und den Waldschrat spielen! Und das alles wegen Karin, dieser gewissenlosen Person! Sie ist es doch gar nicht wert, dass du hier in München erst mal deine ganze Zukunft auf Eis legst. Beruflich läuft es doch glänzend bei dir!«
Vielleicht hatten sie es wirklich gut gemeint, seine Freunde und auch seine Eltern, die sehr stolz darauf waren, dass ihr Sohn sich als Innenarchitekt in München schon einen Namen gemacht hatte.
Natürlich freute sich Arno über seinen Erfolg. Aber für nichts auf der Welt hätte er sich von seinem Vorhaben abbringen lassen, sich eine Weile zurückzuziehen. Inzwischen war er davon überzeugt, dass seine dumpfen, immer wieder auftretenden Kopfschmerzen ein Hinweis darauf waren, dass seine Gesundheit bereits gelitten hatte. Und das mit gerade mal dreiunddreißig Jahren!
***
Ein heftiger Windstoß erinnerte ihn daran, dass er vor dem Wirtshaus »Zum Ochsen« stand – ein echter Tiroler Gasthof mitten im Dorf, hell erleuchtet und so einladend, dass man einfach nicht vorbeigehen konnte.
Arno trat ein. Im geräumigen Flur empfing ihn eine Inschrift am Gewölbebogen im Stil einer Lüftl-Malerei: »Dem Gast das Beste« Das war kurz und bündig und sagte doch alles aus, was man von einem guten Wirtshaus erwartete.
Der weiß getünchte Flur mit den schönen Deckenbögen führte geradewegs in die Gaststube, in der eine gemütliche, heimelige Atmosphäre herrschte. Es ging inzwischen auf 21 Uhr und exakt 30 Minuten, wie man es auf dem Zifferblatt der alten Standuhr deutlich erkennen konnte. Vermutlich war diese sehenswerte Uhr ein Erbstück, denn wo fand man so ein Prachtstück heute noch?
Im Gastraum war eine rege Unterhaltung im Gange. An den Tischen ließ man den Abend bei einem Glas Wein oder einem frisch gezapften Bier ausklingen, wobei es auch ruhig ein bisschen später werden konnte.
Joschi Althöfer, der Wirt, hatte die Wünsche seiner Stammgäste genau im Kopf. Zum Beispiel wusste er, dass Bürgermeister Toni Angerer abends nur Südtiroler Lagrein Kretzer trank, und zwar aus einem Original Weinrömer, der eigens für ihn reserviert war.
Förster Reckwitz hingegen bevorzugte den milden St. Magdalener, den er jedes Mal kurz ins Licht hielt, um zu überprüfen, ob der Wein die richtige Temperatur hatte. Samtig-rot, weich, ein Schimmer wie bei Kerzenlicht, dann waren Wein und Temperatur perfekt.
Die Herren am Stammtisch hatten eh besondere Eigenheiten. Sie zählten sozusagen zum »harten Kern« im Dorf, ohne sie ging (fast) gar nichts.
Man sah heute Apotheker Steghofer, Tierarzt Dr. Steiger, selbstverständlich Pfarrer Roseder (der einen neuen Roséwein probierte), Bergwachtleiter Dominikus Salt und Dr. Martin Burger, der zwar nicht regelmäßig erschien, aber dem man immer einen Platz reservierte. Jetzt war der Doktor gerade dabei, sich zu verabschieden.
»Schade, Martin«, meinte der Bergwachtleiter bedauernd. »Wir wollten doch noch über ein paar Aktivitäten reden, die uns vor dem Winter ins Haus stehen.«
Dominikus Salt und der Doktor waren seit Jahren miteinander befreundet und setzten sich beide für die Sicherheit in den Bergen ein. An erster Stelle stand die Rettung und Versorgung von Menschen, die in Bergnot geraten waren oder sogar in Lebensgefahr schwebten.
»Wir besprechen das alles ein andermal, Nick«, erwiderte Dr. Burger. »Ich hab morgen früh einen wichtigen Termin in der Praxis. Nachher will ich mir noch ein paar Unterlagen ansehen. Das muss sein. Meine Patienten gehen vor. Komm doch einfach mal vorbei, vielleicht am Wochenende, dann können wir uns ein bisschen mehr Zeit nehmen. Wir freuen uns doch eh immer, wenn du bei uns hereinschaust.«
»Gut. Einverstanden, Martin. Und viele Grüße an die Familie daheim. Vor allem an deine Frau.«
»Danke, Nick. Von mir das Gleiche. Also, dann gute Nacht, alle miteinander!« Bei diesen Worten nickte Dr. Burger auch Arno zu, der sich an einen Ecktisch in der Nähe des Herrgottswinkels gesetzt hatte.
Der Doktor verschwand in der Dunkelheit des Novemberabends und überlegte, während er die Kirchgasse entlangging, was den unbekannten jungen Mann an diesem Abend wohl nach St. Christoph geführt hatte. Ein Urlaubsgast in dieser Jahreszeit? Eher nicht. Vielleicht war es jemand, der geschäftlich hier zu tun hatte.
Geschäftsreisende stiegen meistens im Berghotel ab, wenn sie nicht sofort wieder weiterfahren wollten. Übernachtungen dieser Art kamen nicht mehr so oft vor. Die meisten Geschäfte erledigte man heute im Internet, persönliche Verkaufsgespräche wurden immer seltener.
Die Zeit der sogenannten »Reisenden«, die durch die Lande fuhren und Kunden besuchten, war eh vorbei. Wie lang war es her, dass die heute oft belächelten Staubsaugervertreter an der Tür geklingelt hatten, um der Hausfrau die neuesten technischen Geräte schmackhaft zu machen?
Unterdessen gab Arno bei Nelli, dem freundlichen Serviermadel, seine Bestellung auf. Sie fand ihn sehr nett, diesen späten Gast, der auf keinen Fall ein Wanderer war.
Auf den ersten Blick hatte sie gesehen, dass seine Sportschuhe makellos sauber waren. Kein Erdkümelchen, kein feuchtes Blatt am Boden, stattdessen diese sehr feschen Schuhe, die bestimmt nicht billig gewesen waren. Seine Jacke hatte er abgelegt, darunter trug er einen blauen Rollkragenpulli, der ihm ausgezeichnet stand. Nelli fragte sich, ob es vielleicht sogar ein teurer Kaschmirpullover war.
Der Gast gehörte nämlich mit Sicherheit einer gehobenen Einkommensschicht an. Für so etwas hatte die Nelli ein untrügliches Gespür. Was ihn besonders sympathisch machte, war seine höfliche, natürliche Art. Eingebildet war er jedenfalls nicht. Und zu all diesen Vorzügen sah er auch noch so gut aus, dass man als Madel sogar ein bisserl ins Träumen geriet!
Fast ein Traumprinz, dachte die Nelli und seufzte still in sich hinein. Aber dann besann sie sich darauf, dass ihr Verlobter, der Basti, auch kein Waldschrat war, sondern ein recht ansehnlicher und treuer Bursch.
»Mir würde ein Omelett genügen«, sagte der Fast-Traumprinz, »ein paar Scheiben Brot dazu, bitte. Ich bin spät dran, auf keinen Fall will ich jetzt noch für Unordnung in der Küche sorgen.«
»Wir haben bis zweiundzwanzig Uhr warme Gerichte, manchmal macht die Frau Althöfer auch eine Ausnahme. Das heißt, man kann auch danach noch etwas nach Wunsch bekommen«, säuselte die Nelli. »Auf jeden Fall eine heiße Suppe. Wir hätten heute die Original Tiroler Brotsuppe anzubieten. Die Chefin ist für ihre speziellen Suppen bekannt, zum Beispiel wäre da auch noch die Frittatensuppe ...«
»Ich nehme sehr gern die Brotsuppe.«
»Und das Omelett? Mit abgebräunten Schinkenwürfeln? Oder soll es ein Kräuteromelett sein?«
»Bitte die Schinkenwürfel. Aber nur, wenn es keine Extra-Arbeit macht.«
»Dazu ein kühles Bier?« Nelli überschlug sich fast vor Freundlichkeit. »Ich kann Ihnen aber auch eine Karaffe Weinschorle bringen. Unsere Gäste trinken gern etwas Leichtes zum Essen.«
»Das ist mir recht. Also Weinschorle.«
Arno lächelte. Wirklich nett, wie sie sich um ihn bemühte. Nichts gegen die Münchner Gastronomie, aber in manchen Lokalen benahmen sich die Serviererinnen ausgesprochen zickig.
Hier strahlte alles eine wohltuende Wärme aus, die gemütliche Gaststube mit dem grünen Kachelofen, die Bedienung, die Wirtsleute und auch die Gäste, von denen einige hin und wieder auf die Uhr schauten und wahrscheinlich an den Heimweg dachten. Für manche wurde es Zeit zu gehen, denn nach einem arbeitsreichen Tag tat es gut, entspannt in die Kissen zu sinken und sich einen erholsamen Schlaf zu gönnen.
Arno war der Einzige, der sich kurz nach zweiundzwanzig Uhr noch ein warmes Essen schmecken ließ. Wirt Joschi Althöfer fragte, ob alles recht sei und setzte hinzu: »Für morgen hat meine Frau einen Schnitzeltag geplant. Sie bringt immer ein bisserl Abwechslung in unsere Speisekarte. Wenn's Ihnen auskommt: ab Punkt zwölf am Mittag gibt's Wiener Schnitzel, Rahmschnitzel mit Schwammerln oder Münchner Schnitzelfetzen. Das hört sich ein bisserl komisch an, aber ...«