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Eigentlich könnte es riesengroßes Glück sein, wenn sich zwei Menschen nach Jahren voller Trauer und Schmerz begegnen und ineinander verlieben. So freuen sich auch die Bewohner von St. Christoph, als bekannt wird, dass Firmin Wildegger, den der viel zu frühe Tod seiner Frau völlig aus der Bahn geworfen hat, und die Witwe Bianca Lehnorfer eine gemeinsame Zukunft planen.
Doch was nach außen wie eine glückliche Fügung des Schicksals scheint, droht in einem Drama zu enden. Denn sowohl für Firmins fast volljährige Tochter als auch für Biancas pubertierende Zwillingsbuben ist die Vorstellung, bald als Familie unter einem Dach zu leben, unerträglich.
Als der Notruf im Doktorhaus eingeht, schwebt einer der Jungen nach einem Streit in Lebensgefahr ...
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Seitenzahl: 132
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Der gescheiterte Patchwork-Traum
Vorschau
Impressum
Der gescheiterte Patchwork-Traum
Wenn die Kinder dagegen sind
Von Andreas Kufsteiner
Eigentlich könnte es riesengroßes Glück sein, wenn sich zwei Menschen nach Jahren voller Trauer und Schmerz begegnen und ineinander verlieben. So freuen sich auch die Bewohner von St. Christoph, als bekannt wird, dass Firmin Wildegger, den der viel zu frühe Tod seiner Frau völlig aus der Bahn geworfen hat, und die Witwe Bianca Lehnorfer eine gemeinsame Zukunft planen.
Doch was nach außen wie eine glückliche Fügung des Schicksals erscheint, droht in einem Drama zu enden. Denn sowohl für Firmins fast volljährige Tochter als auch für Biancas pubertierende Zwillingsbuben ist die Vorstellung, bald als Familie unter einem Dach zu leben, unerträglich.
Als der Notruf im Doktorhaus eingeht, schwebt einer der Jungen nach einem Streit in Lebensgefahr ...
»Der Wildegger-Firmin ist wieder am Grab seiner Frau«, flüsterte Serafina ihren Freundinnen Hildegund und Walburga zu.
Die drei Witwen, schon seit der Schule miteinander befreundet, trafen sich regelmäßig auf dem Friedhof von St. Christoph, wo sie ihrer verstorbenen Männer gedachten und auch so manches zur Sprache kam, wovon die wenigsten wussten.
Von ihrem Lieblingsplatz, einer ausladenden Bank umgeben von hohem Eibisch, beobachteten sie zudem, was alles vor sich ging, und das war oft ziemlich erstaunlich, jedenfalls für einen Friedhof.
So hatte sich doch die Erlinger-Evi dort mit ihrem Schatz, dem Waldinger-Rudi, heimlich getroffen. Zwischen dichten Büschen waren sie verschwunden, und die Witwen wollten sich gar nicht vorstellen, was dann geschah.
»Der arme Mann«, murmelte Hildegund mitleidig.
Firmin war von dem Familiengrab inzwischen auf die Knie gesunken, seine breiten Schultern zuckten.
Die drei Frauen rückten unwillkürlich weiter nach links, sodass die Bank durch den dichten Bewuchs nicht einsehbar war. Nur Serafina spähte noch durch die Äste zu Wildegger, der inzwischen abgerissene Sätze vor sich hin murmelte, die von seinem unerträglichen Schmerz über den Verlust seiner Liebsten kündeten.
Schließlich richtete sich Firmin Wildegger wieder auf. Bevor er ging, streichelte er zärtlich das eingelassene ovale Porträtbild auf dem Grabkreuz, das eine schöne Frau zeigte. Auch das berichtete Serafina leise ihren Freundinnen.
Wildegger brachte rasch seine Kleidung in Ordnung, dann schritt er gesenkten Hauptes auf den Ausgang zu. Den drei Frauen schenkte er keine Beachtung, er war in seiner eigenen Welt versunken.
»Die Wildegger-Leni ist doch jetzt schon so lang nimmer unter uns, und ihr Mann ist immer noch net darüber hinweggekommen. Ein anderer hätt' sich schon längst wieder eine junge Bäuerin auf den Hof geholt. Aber die beiden haben sich sehr geliebt, und dass seine Leni so früh gestorben ist, war ein großes Unglück für die ganze Familie«, meinte Walburga.
Die drei Witwen seufzten fast gleichzeitig auf und beschlossen, dass es an der Zeit war, zu gehen, denn es wehte schon ein kühler Abendwind durch die Bäume.
»Ich schau' schnell noch bei der Alma vorbei, eh sie den Laden schließt. Dass ich aber auch die Hefe für den Obstkuchen vergessen hab«, sagte Serafina ärgerlich.
»So spät ist es noch net, du brauchst dich net so zu beeilen«, meinte Walburga, und die Freundinnen verabschiedeten sich voneinander.
Serafina legte den Weg durch die Kirchgasse ohne Hast zurück, bis sie zu dem Eckhaus gelangte, in dem die Jeggl-Alma ihren Laden, genannt »Almas Einkaufsparadies«, betrieb. Im hinteren Teil befand sich außerdem ein Friseurgeschäft, und im oberen Stockwerk vermietete Alma Gästezimmer. Oft nahm sie Gestrandete auf und kümmerte sich um sie, bis sie wieder weiterziehen konnten, denn Alma hatte das Herz auf dem rechten Fleck.
Als Serafina die Tür öffnete, kreischte die altmodische Ladenklingel auf. Überhaupt glaubte man sich im Laden in frühere Zeiten zurückversetzt. Hohe Regale bedeckten die Wände, und auf der geschwungenen Theke waren runde Bonbongläser aufgereiht, in denen Gutsel aller Art Kinderaugen aufleuchten ließen.
In großen Körben waren Sonderangebote ausgestellt, und man konnte sagen, dass es in diesem Gemischtwarenladen einfach alles gab, was das Herz begehrte – vom Topflappen bis zum teuren Champagner.
Serafina wurde sofort von allen freundlich begrüßt, was ihr, die ein ziemlich einsames Leben führte, in der Seele wohl tat.
Die Leitnerin ließ von dem Korb mit den Sonderangeboten ab und wandte sich ihr zu, begierig, etwas Neues zu erfahren. Die Altbäuerin von Mühlenhof, die heute ihren kleinen Enkel dabei hatte, ließ ihn aus den Augen, was dieser zu nutzen wusste. Alma unterbrach ihr Schwätzchen mit ihrer Busenfreundin, der Bachhuber-Zenzi, die einen größeren Einkauf für das Doktorhaus getätigt hatte.
»Ich hab die Hefe für den Obstkuchen vergessen«, erklärte Serafina, und Alma überreichte ihr sofort ein Packerl.
»Warst du wieder mit deinen Freundinnen auf dem Friedhof?«, wollte die Leitnerin, die von unheilbarer Neugier geplagt wurde, wissen.
Und da Serafina sehr mitteilsam war, ließ sie sich sofort über den Wildegger-Firmin aus, der über den Tod seiner Frau nicht hinwegkommen konnte.
»Ein anderer hätt' schon längst wieder geheiratet, er ist schließlich ein stattlicher Mann im besten Alter«, schloss Serafina und errötete ein wenig.
»Der tät dir wohl auch noch gefallen«, meinte die Leitnerin, die neben Neugier auch noch über ein gerüttelt Maß an Bosheit verfügte.
Ehe sie noch darauf antworten konnte, stieß die Altbäuerin einen empörten Schrei aus, denn die Finger ihre Enkels Seppi waren heimlich in eines der Gutselgläser gekrochen.
»Nimm sofort die Hände aus dem Glas«, herrschte ihn seine Großmutter an, und Seppi gehorchte, verzog aber weinerlich das Gesicht.
»Sei doch net so streng zu dem Buben«, meinte Alma.
»Der Seppi ist ganz wie sein Großvater. Der hatte seine Hände auch immer dort, wo sie net sein sollten«, erwiderte die Altbäuerin bissig.
Das wollte nun wirklich niemand wissen, und so wandte sich das Gespräch den Imhofers zu, deren zweitältester Sohn bald einheiraten würde.
»Die Sonnthaler-Resel ist ein liebes Madel und der Lukas ein tüchtiger Jungbauer. Die beiden sind für geschaffen füreinander«, meinte die Altbäuerin, deren Hand nun auf dem Nacken ihres Enkels ruhte.
»Net immer trifft sich alles so gut«, erwiderte die Leitnerin und zog ein hellblaues Unterhemd aus dem Korb für Sonderangebote.
»Ja, das tät meinem Mandl gefallen«, rief sie begeistert aus und legte das Hemd auf den Ladentisch.
Sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie das seltene Stück noch herunterhandeln wollte. Alma kam ihr entgegen, denn sie war froh, dieses Hemd endlich loszuwerden. Die Leitnerin versäumte keine Gelegenheit, ihrem Mandl ein Geschenk mitzubringen, auch wenn alle fanden, dass der Leitnerbauer einen seltsamen Geschmack hatte. Letztes Mal hatte sie lila Socken mit Blümchenmuster erstanden, die er angeblich fast jeden Tag trug.
Niemand konnte begreifen, dass sie mit so großer Zuneigung an ihrem Mandl hing, denn der Leitner war ein missmutiger, verstockter Mensch, der niemandem ein Lächeln schenkte. Aber vielleicht hatte er Eigenschaften, von denen niemand etwas ahnen konnte.
»Ich muss jetzt nach Hause. Martin dürfte mit der Sprechstunde auch bald fertig sein«, sagte die Zenzi und ergriff ihre Tasche.
Auch die anderen Frauen brachen nun auf, und Alma kam hinter der Theke hervor, wobei es ihr gelang, dem kleinen Seppi heimlich ein paar bunt eingewickelte Gutseln zuzustecken. Dann verschloss sie hinter den Frauen die Ladentür, nachdem sie sich mit Zenzi zu einem Kaffee am übernächsten Nachmittag verabredet hatte.
Zenzi eilte nun mit ihrer schweren Einkaufstasche die Kirchgasse entlang und erwiderte freundlich den Gruß des Besitzers der »Roswitha-Apotheke«. Sabine, die Frau des Bergdoktors, kam ihr schon entgegen und nahm ihr die Tasche ab.
»Du sollt doch net so schwer tragen, Zenzi«, schimpfte sie in mildem Ton, denn sie und Zenzi, der gute Geist des Doktorhauses, verstanden sich gut.
»Ach, es ist doch nur ein kurzes Stückerl von der Jeggl-Alma bis hierher«, wandte Zenzi sofort ein.
»Das genügt schon, dass du wieder Rückenschmerzen bekommst.«
»Ach was, der Martin übertreibt halt immer ein bisserl.«
Als Sabine die Haustür öffnete, kam ihnen die achtjährige Tessa entgegengestürmt, gefolgt von ihrem Bruder Philipp, der aber Filli genannt werden wollte.
»Da bist ja endlich, wir haben die ganze Zeit auf dich gewartet«, rief Tessa aus, und ihre schwarzbraunen Locken, denen sie den Kosenamen »Schneckerl« verdankte, tanzten um ihr reizendes Gesichtchen mit den dunklen Brombeeraugen.
Ursprünglich war Tessa ein Findelkind, das von den Burgers adoptiert worden war. Doch das war längst vergessen, sie gehörte untrennbar zur Familie. Genau wie Zenzi, die Martin Burger, der durch den frühen Tod seiner Mutter Halbwaise geworden war, aufgezogen hatte.
Zenzi verschwand in der Küche, räumte die Einkäufe ein und machte sich dann an die Zubereitung eines Kaiserschmarrns, zu dem es noch Kompott geben sollte. Das aßen alle gern, lediglich Poldi, der Rauhaardackel, würde diese süße Mahlzeit nicht besonders schätzen.
»Es schaut so aus, als ob Martin heute pünktlich zum Abendessen erscheinen wird«, rief ihr Sabine noch zu, ehe sie auf der Terrasse verschwand, um die Kinder, vor allem aber die zweieinhalbjährige Laura, zu beaufsichtigen.
»Wenn net wieder was dazwischenkommt«, murmelte die Zenzi vor sich hin.
***
Es war ein schöner Frühlingsabend, fast zu warm für diese Jahreszeit, und die Kinder spielten im Garten, der sich an die Terrasse anschloss. Klein-Laura hantierte mit einem Schäufelchen im Sandkasten. Filli war mit seinem Feuerwehrauto beschäftigt, und Tessa versuchte, ein Schloss aus Legosteinen aufzubauen. Ihre Mutter saß in einem Korbsessel und genoss die letzten Sonnenstrahlen.
Wie glücklich sie sein konnte, in diesem schönen Gebirgstal leben zu dürfen! Vor allem aber, dass sie den Mann gefunden hatte, den sie über alles liebte und mit dem sie eine Familie gründen konnte.
Keinen Augenblick bereute Sabine es, die pulsierende Metropole Wien verlassen zu haben, wo sie als Anästhesistin in einem Klinikum angestellt war. Hier, bei einem Besuch ihrer Tante, hatte sie Martin Burger getroffen, und es war für sie beide Liebe auf den ersten Blick gewesen.
Sabine lächelte versonnen und schrak erst auf, als sie die Stimme ihres Mannes hörte. Er trat auf die Terrasse und küsste sie zärtlich. Dann fiel sein Blick auf Laura, die hingebungsvoll im Sandkasten spielte.
»Sollte das Mauserl nicht schon längst im Bett sein?«, meinte er.
»Ist es schon so spät? Die Zeit ist vergangen wie im Flug. Ich werde sie gleich füttern«, erwiderte Sabine und stand auf.
»Lass mich das machen. Ich bringe sie auch ins Bett, es ist selten genug, dass ich dafür Zeit habe«, schlug Martin vor.
Tessa und Filli wurden hereingerufen und deckten zusammen mit ihrer Mutter den Tisch. Auch Großvater Pankraz Burger kam aus seinem Kabinettl, das sich ans Wohnzimmer anschloss, und wollte wissen, was es zu essen gab.
»Etwas für Süßschnäbel«, rief die Bachhuber-Zenzi aus der Küche.
»Soll ich die kleine Laura ins Bett bringen? Ich könnte ihr auch was vorlesen«, bot er an.
»Martin will das heute übernehmen«, erklärte Sabine.
»Wenigstens ist er heute früher als sonst nach Hause gekommen«, meinte Pankraz und widerstand der Versuchung, in die Küche zu gehen und zu naschen.
Denn Zenzi, die sehr streng sein konnte, war seine Topfguckerei zuwider, und er wollte es nicht zu einer Auseinandersetzung kommen lassen, vor allem, weil er sowieso meistens den Kürzeren zog.
»Das Mauserl ist direkt eingeschlafen«, verkündete Martin, der die Treppe vom Obergeschoss herunterkam.
»Es gibt Kaiserschmarrn
. Reicht mir grad eure Teller«, beschied ihnen Zenzi.
»Kaiserschmarrn«, rief Martin verzückt aus, »den haben wir aber schon lang nimmer gehabt, Zenzi!«
»Und Pflaumenkompott gibt's dazu.«
»Du bist ein Engerl!«
»Übertreib's net, Martin«, erwiderte Zenzi, konnte aber nicht verhindern, dass ein Lächeln um ihre Lippen zuckte.
Poldi hatte sein Körbchen unter der Treppe verlassen und seinen Platz unter dem Tisch neben seinem Herrchen eingenommen. Denn er konnte sicher sein, dass Pankraz ihm etwas hinunterreichte.
»Ja, Poldi, heute scheint nichts für dich abzufallen. Denn der Kaiserschmarrn ist net nach deinem Geschmack«, meinte Pankraz bedauernd.
»Wer sagt denn, dass ich net an den Poldi gedacht hab? Das arme Viecherl hat schließlich auch Hunger«, empörte sich Zenzi.
»Ach so?«
Zenzi eilte in die Küche und kehrte mit einem Teller zurück, auf dem ein Würstl lag. Das überreichte sie Pankraz beinahe feierlich.
»Du hast ein gutes Herz, Zenzerl.«
»Jetzt reicht's aber mit den Schmeicheleien«, erwiderte Zenzi scheinbar ergrimmt. »Guten Appetit, allerseits.«
Pankraz reichte Poldi das Würstl unter den Tisch, der sich sofort darüber hermachte.
»Mehr gibt es aber nicht, Poldi, sonst bekommen wir wieder Ärger.«
»Ja, und du nimmst dir auch nur einmal von dem Schmarrn«, sagte Sabine zu ihrem Schwiegervater, der melodramatisch aufseufzte.
»Du bist so grausam zu mir.«
An dieses Geplänkel, das beinahe an jedem Tag stattfand, war man gewohnt. Denn Pankraz, ein stattlicher Herr von siebenundsiebzig, neigte zur Leibesfülle, was seiner Vorliebe für gutes Essen geschuldet war. Und Sabine, die ihren Schwiegervater sehr gern hatte, war bestrebt, ihn zu einem gesünderen Lebensstil zu bewegen, indem sie ihm dauernd die Gefahren des Übergewichts vor Augen führte.
Doch nun ließ man es sich schmecken, lobte die Köchin, was Zenzi erfreut erröten ließ, und Martin gönnte sich sogar drei Portionen, ehe er sich gesättigt zurücklehnte. Dann halfen alle, den Tisch abzudecken, denn es sollte noch ein Spieleabend stattfinden.
»Ich weiß schon, wer gewinnt. Jemand, der beim Monopoly immer gewinnt«, murmelte Pankraz etwas düster.
Dennoch liebten sie dieses Spiel, und am Anfang sah es ganz danach aus, als ob Sabine siegreich hervorgehen könnte, gefolgt von ihrem Mann. Doch am Ende war es einmal wieder Zenzi, die triumphierte.
»Wie machst du das nur?«, rief Martin aus.
»Ja, du bist halt ein Studierter, das ist recht und gut, aber ich bin eben bauernschlau, das zählt manchmal mehr«, gab Zenzi zurück.
Die Hauserin stammte tatsächlich aus einer alteingesessenen Bauernfamilie, was sie immer gern zur Sprache brachte. Martin umarmte sie und küsste sie auf beide Wangen, das war eine Siegerehrung, die sie besonders schätzte.
Die Kinder gähnten schon und rieben sich müde die Augen, sodass sie freiwillig zu Bett gingen, zumal ihr Großvater ihnen versprochen hatte, ihnen noch etwas vorzulesen.
»Aber keine Gruselgeschichte, dass sie dann nachts nicht schlafen können«, ermahnte Sabine ihren Schwiegervater.
Pankraz Burger schrieb nämlich schon seit Langem an einer Chronik des Zillertals. Er sammelte Einträge aus Archiven und Kirchenbücher, die viel Wissenswertes enthielten. Vieles aber erfuhr er mündlich von alten Frauen in abgelegenen Dörfern, und so hatte er schon einen reichen Schatz aus Märchen und Legenden zusammengetragen.
Viele dieser Geschichten waren aber so grausam, dass sie die Kinder in Angst und Schrecken versetzen. So waren Filli und Tessa nachts ins Bett ihrer Eltern geklettert, weil eine der Geschichten, die ihr Großvater ihnen vorgelesen hatte, sie nichts mehr schlafen ließ. Immer wenn sie weggedämmert waren, hatten sie vom »Schwarzen Jager« geträumt, der sie verfolgte.
»Nein, ich lese nur von Elfen und guten Feen vor«, beteuerte Pankraz, »dann schlummern sie schon vor Langeweile ein.«
Wenig später kam der Großvater die Treppe wieder hinunter und verkündete: »Was habe ich euch gesagt? Die beiden schlafen tief und fest.«
Wie üblich saßen die Burgers abends noch zusammen, um bei einem Glaserl Wein alles zu besprechen, was der Tag so mit sich gebracht hatte. Da es mild war, ließen sie sich auf den gemütlichen Korbsesseln auf der Terrasse nieder. Heute gab es einen Blauburgunder, an dem Pankraz sofort Gefallen fand, auch Martin nahm gleich wieder einen tiefen Zug.
Dann setzte er das Weinglas ab und fragte so ganz beiläufig: »Zenzi, du warst heut' sicher wieder bei der Jeggl-Alma?«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Mei, ich hab den Eindruck, dass du uns etwas erzählen willst.«
»Ich kann mir net vorstellen, dass du das hören willst. Schließlich behauptest du ja immer, dass Almas Laden die Brutstätte des Klatsches wär'«, erwiderte sie und gönnte sich einen Schluck von ihrem Blauburgunder.
»Du zierst dich doch bloß, Zenzerl. Du hast uns schon immer gern auf die Folter gespannt«, sagte Martin.
»Nun ja. Die drei Witwen, die Serafina, die ...«
»Ich weiß, wie die drei Witwen heißen«, unterbrach Martin sie ungeduldig.
»Also die drei Witwen haben auf dem Friedhof etwas beobachtet. Die Serafina war danach bei der Jeggl-Alma und hat erzählt, dass der Wildegger-Firmin wieder mal am Grab seiner Frau gewesen ist. Ganz schlecht wär's ihm gegangen, er hätt' geweint und wär' sogar auf die Knie gefallen«, berichtete die Zenzi.
»Ja, das war ein großes Unglück mit seiner Frau. Vielleicht hätt' man sie retten können, wenn sie rechtzeitig in die Klinik gekommen wäre. Aber der Schneefall war so heftig ...«