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Hübsche rotblonde Locken, ein strahlendes Lächeln und ein blumiger Duft - Michael kommt es vor, als sei er bei seiner Getränkelieferung im Berghotel einem Engel begegnet. Hanna, eine Urlauberin aus Innsbruck, hat es ihm mit ihrer zerstreuten, aber herzlichen Art mehr als angetan. Doch die Schmetterlinge im Bauch nehmen ein jähes Ende, als er erfährt, wer ihr Onkel ist. Die Schatten aus seiner kriminellen Vergangenheit aus Innsbruck holen ihn ein. Dabei hat er sich hier in St. Christoph ein neues Leben aufgebaut und ist ein anderer Mensch geworden. Da er Hanna vor der bitteren Wahrheit schützen möchte, verbietet er sich den Kontakt zu ihr. Dass er damit nur noch mehr Kummer in ihrer beider Herzen bringt, wird ihm erst bei einem lebensgefährlichen Treffen mit ihrem Cousin klar ...
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Seitenzahl: 133
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Im Unrecht
Vorschau
Impressum
Im Unrecht
Hinter der Idylle lauern Abgründe
Von Andreas Kufsteiner
Hübsche rotblonde Locken, ein strahlendes Lächeln und ein blumiger Duft – Michael kommt es vor, als sei er bei seiner Getränkelieferung im Berghotel einem Engel begegnet. Hanna, eine Urlauberin aus Innsbruck, hat es ihm mit ihrer zerstreuten, aber herzlichen Art mehr als angetan. Doch die Schmetterlinge im Bauch nehmen ein jähes Ende, als er erfährt, wer ihr Onkel ist. Die Schatten aus seiner kriminellen Vergangenheit aus Innsbruck holen ihn ein. Dabei hat er sich hier in St. Christoph ein neues Leben aufgebaut und ist ein anderer Mensch geworden. Da er Hanna vor der bitteren Wahrheit schützen möchte, verbietet er sich den Kontakt zu ihr. Dass er damit nur noch mehr Kummer in ihrer beider Herzen bringt, wird ihm erst bei einem lebensgefährlichen Treffen mit ihrem Cousin klar ...
Die ganze Nacht über hatte es geschneit.
Die weiße Decke verlieh dem kleinen Ort St. Christoph im Zillertal an jenem Morgen den Charme eines Postkartenmotivs. Manch ein Wintergast in einer Gebirgspension schaute verzückt aus dem Fenster. Und jene Urlauber, die im Berghotel »Am Sonnenhang« noch in ihren Betten lagen, wähnten sich im Traum bereits auf der Skipiste oder bei einem Winterspaziergang. Ja, womöglich gar auf einer romantischen Schneeschuh-Wanderung in die Donner-Klamm.
Aus dem Schornstein eines Hauses etwas außerhalb des Ortszentrums stieg Rauch empor. Erika Großmann, ein rühriges Frauchen jenseits der Sechzig, war wieder einmal früh auf den Beinen. Sie hatte den Holzofen angeheizt. Der Kaffee gluckerte in der Maschine. Zu seinem Duft gesellte sich der eines deftigen Frühstücks: Semmelknödel vom Vortag, klein geschnitten und mit Zwiebeln, Speck und einem Rest Blutwurst geröstet.
Ein warmer Start in einen kalten Wintertag, dachte Erika zufrieden. Genau das Richtige, um ihre beiden Mannsbilder auf die schwere Arbeit einzustimmen.
Es dauerte nicht lange, bis die Schritte des ersten Mannsbilds auf der Treppe polterten.
»Guten Morgen, Chefin!«, rief der vierundzwanzigjährige Michael fröhlich, während er die Wohnküche betrat.
Er war ein Verwandter: der Großneffe von Erikas Mann. Doch als er vor ein paar Jahren zu ihnen gekommen war, hatte er darauf bestanden, sie als »Chef« und »Chefin« zu bezeichnen. Längst hatte sich die Fremdheit von damals in Vertrautheit gewandelt – ja, Erika betrachtete den Burschen geradezu als ihren Sohn. Trotzdem: Bei der Anrede war es geblieben.
Michael schlenderte zum Herd und beugte sich über die Pfanne.
»Es gibt ein Jägerpfandl? Wenn ich das gewusst hätt', wär' ich glatt eine Stunde früher aufgestanden.«
»Und du hättest dir auch gleich mit meiner Portion den Bauch vollgeschlagen, gell?«, grummelte Erikas Mann Willi gutmütig. Seine Empörung war bloß gespielt. Mit einem vergnügten Funkeln in den Augen gesellte er sich zu den beiden in die Wohnküche.
»Was du alleweil von mir denkst, Chef!« Michael zwinkerte Erika zu. Dann trat er zur Kredenz und nahm einen Stapel Teller heraus.
»Ich kenn' euch junge Leute halt«, schoss Willi zurück. »Die fressen einem die Haare vom Kopf.« Wie zum Beweis fuhr er sich durch die schütter werdenden Locken.
Mit einem stillen Lächeln über das Geplänkel wandte sich Erika dem Herd zu. Das Jägerpfandl war fertig; jetzt noch rasch die Spiegeleier ...
Während Michael mit dem Besteck klapperte, trat Willi hinter sie. Liebevoll umfasste er Erikas Hüften und zog sie an sich. Sie lehnte sich an seine breite Brust. Selbst nach vierzig Jahren Ehe und auch wenn er bereits auf die Siebzig zuging, waren Willis Arme stark wie eh und je.
Ein Prasseln in der Pfanne warnte sie rechtzeitig.
»Reich mir die Teller«, bat sie ihren Willi.
Sie häufte Spiegeleier und geröstete Knödel auf jeden. Michael bekam die größte Portion, Burschen wie er mussten schließlich anständig essen. Willi trug zwei der Teller zum Tisch. Sie griff nach dem dritten. Ein lautes Klappern ließ sie herumfahren.
Michaels Gabeln und Messer lagen auf den Küchenfliesen verstreut. Der Bursche hielt nun einen von Willis Tellern in der Hand. Mit der anderen stützte er seinen Großonkel. Dieser klammerte sich an der Tischkante fest und stöhnte vor Schmerzen.
»Jessas!«, entfuhr es Erika. »Was ist passiert?«
»Nix«, versicherte ihr Willi durch zusammengebissene Zähne.
Michael beruhigte sie ebenfalls: »Net viel. Der Chef hat sich bloß angestoßen.«
»An der depperten Kante«, ergänzte Willi düster.
Vorsichtig setzte er den zweiten Teller ab und humpelte zu seinem Stuhl.
Erika zog die Pfanne vom Herd. Sie bückte sich nach dem zu Boden gefallenen Besteck. Doch Michael war schneller. Mit einer Faust voller Gabeln und Messern richtete er sich auf.
»Setz dich, Chefin. Ich spül' sie rasch ab, und ...«
»Schmarren«, entgegnete Erika kurz und bündig. »Wo ich eh neben der Spüle steh'!« Sie nahm ihm das Besteck ab.
Und es dauerte keine Minute, bis sie alle drei bei Tische saßen.
Auf Willi wirkte der Kaffee wie ein Lebenselixier. Nach dem ersten Becher hörte er auf, sich das Schienbein zu reiben und über die depperte Tischbeinkante zu murren. Nach dem zweiten ging er zum Geschäftlichen über. Michael hörte aufmerksam zu, als sein Großonkel mit ihm die Getränkelieferungen des heutigen Tages besprach.
»Die Fahrten zur Feldkopfhütte und zu den Almen übernehm' ich«, verkündete Willi. »Ich hab mit denen von der Kabinenbahn sowieso ein ernstes Wörtchen zu reden. Der neue Tarif pro Kiste – so etwas geht einfach net.«
»Zeig's ihnen, Chef!«, ermunterte ihn Michael. Er aß den letzten Bissen von seinem Jägerpfandl. »Soll ich inzwischen die Inventur machen? Oder zuerst die Fahrten zur Jeggl-Alma und zum Ochsenwirt?«
»Die Inventur«, entschied Willi. »Nein, warte! Fast hätt' ich's vergessen: Der Kastler-Andi vom Berghotel hat gestern Abend angerufen. Irgendwas ist bei ihnen in der Bar passiert, ich weiß net was. Jedenfalls sind ziemlich viele Flaschen Rum und auch ein paar vom Cognac kaputt. Sie brauchen dringend Nachschub. Gleich heut' früh, wenn's geht.«
»Weil: ohne Rum kein Jagatee. Gell?«, erwiderte Michael belustigt. Er spitzte die Lippen und dachte angestrengt nach. »Ich müsst' auf der Liste nachschauen. Aber wenn ich mich net täusche, haben wir ans Berghotel auch zehn Kisten Bier und ein paar Kisten Cola offen. Soll ich die gleich mit in den Wagen laden?«
»Das wär' gut«, erwiderte Willi.
Erika legte ihre Gabel zur Seite und stand auf, um den Tisch abzuräumen. Mit einem Busserl auf die Wange dankte ihr Willi für das Frühstück. Auch Michael zog sie in eine rasche Umarmung und gab ihr eines aufs graue Haar.
Dann verließen die beiden Männer, Großonkel und Großneffe, die Wohnküche. Durchs Fenster sah Erika sie in der erweiterten Garage verschwinden. Darin befand sich das Getränkelager des Großhandels Großmann. Michael eilte voraus. Willi rief ihm etwas nach und hob mit gespielter Strenge den Zeigefinger. Da drehte sich der Bursche um, antwortete ihm und lachte.
Erika schaltete das Radio ein. Zu beschwingter Schlagermusik begann sie mit ihrer täglichen Hausarbeit. Ihre Gedanken schweiften zurück zu jenem Wintertag vor sechs Jahren, an dem Michael nach St. Christoph gekommen war. Wie sehr hatte er sich seitdem verändert!
Bevor er seinen Rucksack und eine alte Sporttasche in ihrer Diele abgesetzt hatte, hatte Erika ihren angeheirateten Großneffen bloß von Fotos her gekannt. Mit einem wehmütigen Lächeln erinnerte sie sich an ihren ersten Eindruck.
»Er schaut aus wie ein Rehbock, den die Hunde müde gehetzt haben«, hatte sie Willi damals anvertraut.
Ihr Mann hatte über diese bildhafte Beschreibung geschmunzelt. Doch er hatte verstanden, was sie gemeint hatte. Michaels viel zu langes, strähniges Haar; seine abgetragene Kapuzenjacke und die löchrigen Jeans. Ohne Bergschuhe, ja, sogar ohne ordentliche Winterstiefel war der Bursche zu ihnen gekommen.
Vor allem aber hatten schlechte Erfahrungen sein Verhalten geprägt. Stets war er bedacht gewesen, alle auf Abstand zu halten. Er wollte ihr und Willi um keinen Preis einen Anlass geben, ihn auf die Straße zu setzen.
Gelacht hatte er in diesen ersten Monaten kaum. Nachts hatte Erika gehört, wie er in seiner Dachkammer unruhig auf und ab getigert war – oder im Schlaf um Vergebung gefleht hatte.
Jetzt aber war aus dem müden, gehetzten Rehbock ein stolzer, junger Hirsch geworden. Ein so tüchtiger, umsichtiger und zuverlässiger Bursche, wie man ihn sich wünschte – wie ihn sich vor allem Willi gewünscht hatte! Denn Erikas Mann wurde nicht jünger. Sein Kreuz machte ihm seit Längerem zu schaffen. Deswegen hatte er sich damals ja bereit erklärt, den Großneffen zu sich zu nehmen.
»Solange er nur Kisten schleppen kann, werde ich ihn schon zu gebrauchen wissen«, hatte er gesagt.
Inzwischen fuhr Michael nicht nur die meisten Bestellungen aus. Auch im Lager, bei der Buchhaltung und bei allem, was sonst anfiel, packte er mit an. Immer öfter redete Willi davon, ihm den Betrieb demnächst zu überlassen.
Durchs Fenster sah Erika, wie er und Michael die beiden weißen Lieferwagen belud. Dann stieg Michael in den einen und startete den Motor. Der sprang nicht gleich an, wie meistens bei dieser Kälte. Aber es dauerte nicht lange, bis Michael ihn zum Laufen brachte. Er hob grüßend die Hand und fuhr hinaus auf die Straße.
Wenig später eilte Willi in die Wohnküche. Seine Wangen waren von der Kälte gerötet. Der weiße Schnauzbart stach umso heller hervor.
Fröstelnd rieb er sich die Hände. »Ich mach' mich auf den Weg. Hast du meinen ...«
Bevor er das Wort »Kaffee« sagen konnte, reichte ihm Erika die Thermoskanne. Er lächelte und zog sie zärtlich an sich.
Schon aber klingelte sein Handy. Willi warf einen kurzen Blick auf die Nummer, lehnte den Anruf ab und seufzte.
»Wenn ich mich erst zur Ruhe gesetzt hab, Herzerl«, versprach er Erika. »Dann holen wir manches nach! Dann hocken wir zwei tagein, tagaus auf dem Sofa und schauen dem Michael zu, wie er den Laden wuppt.«
»Du tätest den armen Buben ganz allein schuften lassen?«, entgegnete sie vorwurfsvoll.
»Mei«, erwiderte Willi gleichmütig. »Soll er sich halt wen suchen. So wie ich's mit ihm getan hab. Er braucht bloß einen Gehilfen. Oder noch besser ...« Er zwinkerte Erika zu. »Ein tüchtiges Madel an seiner Seite.«
Bei dem Wort »Madel« und dem Blick, den er ihr zuwarf, errötete Erika. Willi zog sie ein weiteres Mal in seine Arme, ehe er los ließ.
Dann bat er sie: »Wenn der Michael vor mir zurück ist, sag ihm, dass er ruhig ohne mich die Inventur machen kann. Ich glaub' alles, was er aufschreibt. Ich zähl's gewiss net nach.«
Er gab ihr noch ein letztes Busserl und verließ mit der Thermoskanne die Wohnküche. Ein Schwall kalte Luft drang herein. Erika hörte das Knirschen von Schnee, als er durch die Haustür trat.
***
Das Radio im Lieferwagen war alt und der Empfang nicht der beste. Die Stimme des Moderators verschwand fast im Knattern und Rauschen. Michael achtete nicht darauf. Seine Aufmerksamkeit galt der Straße, als er den Wagen durch St. Christoph lenkte.
Das Eis auf dem Asphalt machte jede Kurve zu einer Herausforderung. Erst recht mit einem so großen Fahrzeug und mit mehreren Paletten im Laderaum! Als knapp vor dem Kirchplatz eine Katze über die Straße lief und er scharf bremsen musste, vernahm er hinten ein bedenkliches Klirren.
Wenigstens kann's net der Cognac sein, tröstete er sich. Die teuren Flaschen waren für den Transport in mit Stroh gefüllte Holzkisten gepackt.
Fast im Schritttempo fuhr er an der Bushaltestelle vorbei. Ein paar Schüler stiegen fröstelnd von einem Bein aufs andere.
Die meisten St. Christopher blieben an diesem Jännertag lieber zu Hause. Oder sie verschoben ihre Besorgungen wenigstens auf später – in der Hoffnung, die Sonne würde einen Teil des Eises von den Straßen tauen.
Bald kam der Hügel mit dem Schlössl derer von Brauneck in Sicht. Die Morgensonne glitzerte auf dem Schnee und ließ das gelbe Barockgebäude strahlen. Auf dem Hang gegenüber lag Michaels Ziel: das Berghotel »Am Sonnenhang«, meistens einfach »Berghotel« genannt.
Es war das einzige Hotel in St. Christoph und einer der wichtigsten Kunden des Getränkehandels, den sich sein Großonkel hier aufgebaut hatte. Das Ehepaar Kastler führte den Betrieb das ganze Jahr über. Im Sommer kamen Wanderer, im Winter Skifahrer und Langläufer. Und natürlich die Schaulustigen während der im Februar stattfindenden Feldkopf-Skirennen.
Viele der Stammgäste buchten schon bei der Abreise ihre Zimmer für das nächste Jahr. Das Berghotel war eben ein Ort zum Wohlfühlen. Ob das an der ungezwungenen Herzlichkeit der Kastlers liegen mochte, an der hervorragenden Küche oder an der großen Panoramaterrasse mit einem traumhaften Blick in die Alpen.
Trotz der frühen Stunde herrschte hier reger Betrieb. Der Parkplatz war voll. Als Michael auf den Lieferanteneingang zuhielt, kreuzte eine Gruppe von Langläufern seinen Weg. Die Männer hatten ihre Skier geschultert, unterhielten sich angeregt und achteten kaum auf ihn.
Er fuhr weiter – und verriss in letzter Sekunde das Lenkrad! Gerade vor ihm stand ein Madel in einem dunklen Mantel und hieb auf den Kofferraum eines beigen Kombis ein.
Der Lieferwagen schlingerte. Die Getränke in den Kisten wurden ordentlich durchgeschüttelt, ehe Michael den Motor abstellte.
Er schnallte sich ab und sprang aus der Kabine. Das Madel hatte aufgehört zu hämmern und starrte ihn mit großen Augen an. Zu ihrem schwarzen Mantel mit Kunstpelz-Kragen trug sie eine schwarz-golden gestreifte Mütze. Ein paar Locken lugten darunter hervor und leuchteten in einem wunderhübschen Rötlichblond.
»Ich hab im Weg gestanden, stimmt's?«, platzte sie heraus. Sie schenkte Michael ein verlegenes Lächeln, bei dem jeder Vorwurf auf seinen Lippen erstarb. Erst recht, als sie hinzufügte: »Wie du gerade eben um mich herumgekurvt bist, das hat ziemlich schneidig ausgeschaut. Ganz nach einem Rennprofi in der Formel 1.«
»In der Lieferwagenklasse, meinst du?«, erwiderte er belustigt.
Damit entlockte er ihr ein weiteres bezauberndes Lächeln. Und ertappte sich bei dem Gedanken: Ich wünscht', ich könnt' es mir einrahmen.
Schon aber sah sie weg. »Tut mir leid«, versicherte sie ihm. Sie schlang fröstelnd die Arme um sich und trat von einem Bein aufs andere, um sich warm zu halten. Zu guter Letzt gab sie sich einen offenbaren Ruck. »Du hast net zufällig ein Handy dabei und könntest für mich einen Schlüsseldienst rufen?«
»Wieso denn einen Schlüsseldienst?«, entgegnete er verwundert. »Wohnst du net im Hotel?«
»Doch. Einen fürs Auto.« Sie wies auf den beigen Kombi. »Ich hab vor dem Wegfahren die Heizung eingeschaltet. Dann bin ich noch einmal ausgestiegen und hab meine Handtasche in den Kofferraum getan. Dabei hab ich net nachgedacht und die Tür verriegelt. Und der Schlüssel ...«
»... steckt drinnen?«, riet Michael.
Sie nickte beschämt. »Ich hab sogar einen zweiten. In der Handtasche. Aber die liegt im Kofferraum, und der geht ohne Schlüssel auch net auf.« Um die Worte zu unterstreichen, rüttelte sie am Deckel.
Ein paar Herzschläge lang kämpfte Michael mit sich. Doch die Entscheidung fiel ihm leicht. Die Lippen des Madels waren von der Kälte schon blau angelaufen. Es musste jämmerlich frieren und schaute ihn so hoffnungsvoll an.
»Das ist doch dein Auto, oder?«, fragte er streng.
»Freilich!« Sie kaute auf ihrer Lippe und verbesserte sich: »Eigentlich gehört es meinem Onkel. Wenn ich meine Handtasche hätt', könnt' ich es dir beweisen.« Ein jäher Gedanke schien ihr zu kommen. »Warum fragst du?«
»Damit ich dir auch sicher net helf', ein fremdes Fahrzeug zu öffnen.« Er sah den Funken Hoffnung in ihren großen rehbraunen Augen. Nur mit Mühe konnte er sich von dem Anblick losreißen. Doch er tat es und musterte den Kombi. Ein älteres Modell, Gott sei Dank. »Hast du ein Stück Faden?«
»Du meinst eine Schnur?«
»Ja, aber dünner.« Er kramte in seinen Taschen. Nichts. Vielleicht im Handschuhfach des Lieferwagens?
»Oh!«, rief das Madel plötzlich.
Mit der Rechten schob sie den linken Ärmel ihres Mantels zurück. Ein dünner, schwarzer Faden hing aus dem Futter. Sie zog daran, wickelte ihn um ihre Hand und riss ihn zu guter Letzt mit einem kräftigen Ruck ab.
»Das hat mich eh schon so lange genervt«, vertraute sie Michael an. »Alleweil nehm' ich mir vor, es aufzutrennen und das Futter ordentlich zu vernähen.« Sie hielt ihm ihre Hand mit dem aufgewickelten Faden entgegen. »Würd' der passen?«
Behutsam löste Michael ihn ab. Die Finger des Madels waren eiskalt. Ohne zu überlegen, umfasste er sie, um sie zu wärmen. Erst als das Madel die Augen noch weiter aufriss, wurde ihm klar, was er tat.