Der Bergdoktor 2241 - Andreas Kufsteiner - E-Book

Der Bergdoktor 2241 E-Book

Andreas Kufsteiner

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Beschreibung

Wie jedes Jahr Mitte Juni wird auf dem Feldkopf eine Bergmesse gefeiert, um der Bergtoten zu gedenken. Dann erinnert man sich an die Dramen, die sich in der Vergangenheit ereignet haben. Viele, die in den Bergen einen nahen Angehörigen verloren haben, rücken dann eng zusammen, um sich gegenseitig zu trösten und Halt zu geben. Aber es gibt auch solche, die sich mit dem erlittenen Schicksalsschlag einfach nicht abfinden können und nach einem Schuldigen suchen.
Dass sich an diesem sonnigen Sonntag ein weiteres Drama abspielt, bleibt zunächst unbemerkt. Doch zwei Tage später meldet der Bergführer Konrad Zauner seine einzige Tochter Lena als vermisst, und es stellt sich heraus, dass niemand die junge Frau nach der Bergmesse mehr gesehen hat ...

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Seitenzahl: 130

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Cover

Lenas Sommer in Enzianblau

Vorschau

Impressum

Lenas Sommer in Enzianblau

Die bewegende Geschichte einer besonderen Heilung

Von Andreas Kufsteiner

Wie jedes Jahr Mitte Juni wird auf dem Feldkopf eine Bergmesse gefeiert, um der Bergtoten zu gedenken. Dann erinnert man sich an die Dramen, die sich in der Vergangenheit ereignet haben. Viele, die in den Bergen einen nahen Angehörigen verloren haben, rücken dann eng zusammen, um sich gegenseitig zu trösten und Halt zu geben. Aber es gibt auch solche, die sich mit dem erlittenen Schicksalsschlag einfach nicht abfinden können und nach einem Schuldigen suchen.

Dass sich an diesem sonnigen Sonntag ein weiteres Drama abspielt, bleibt zunächst unbemerkt. Doch zwei Tage später meldet der Bergführer Konrad Zauner seine einzige Tochter Lena als vermisst, und es stellt sich heraus, dass niemand die junge Frau nach der Bergmesse mehr gesehen hat ...

»Martin, warte!«

Auf einem Felsvorsprung blieb Dr. med. Martin Burger stehen und drehte sich um. Lächelnd sah er hinunter auf seine Frau.

Sabine trug Wanderkleidung: eine bequeme dunkelgrüne Hose und eine blau-weiß karierte Bluse, dazu ihren Rucksack. Ihre Wangen waren gerötet. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, doch ein paar Strähnen waren aus ihm entwischt und klebten an ihrer Stirn. Wie reizend sie aussah!

Der Bergdoktor streckte ihr eine Hand entgegen und zog sie zu sich auf den Felsvorsprung. Dankbar lehnte sich Sabine an seine Brust. Gemeinsam blickten sie hinunter ins Tal.

Dort lag St. Christoph, ihr Zuhause. Von hier, nahe dem Gipfel des Feldkopfes, sah man fast den gesamten Ort. Den dunklen Krähenwald. Den Friedhof daneben. Den weißen Zwiebelturm der Kirche mit seinem vergoldeten Wetterhahn. Und zwischen Kirchturm und Friedhof das Doktorhaus, in dem Martin Burger aufgewachsen war und inzwischen wieder lebte. Nach Jahren fern der Heimat war er ins Zillertal zurückgekehrt, um die Praxis seines Vaters zu übernehmen. Später hatte das Schicksal Sabine zu ihm geführt: die Liebe seines Lebens und Mutter seiner drei Kinder.

»Woran denkst du, Martin?«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

»An uns«, erwiderte er leise. »Ich frag' mich gerade wieder einmal, womit ich dich verdient hab, Schatzerl.«

Sabine schüttelte energisch den Kopf.

»Das brauchst du dich net zu fragen. Frag dich lieber, womit ich dich verdient hab, Martin! Du bist ein wunderbarer Ehemann. Ein ausgezeichneter Vater. Ein Arzt, dem das Wohl seiner Patienten über alles geht ...«

»Und ein langsamer Bergsteiger!«, tönte es von oben.

Die Burgers spähten hinauf zu Dominikus Salt, dem Leiter der Bergwacht von St. Christoph. Dieser war ein Stück weiter vorne auf dem Pfad stehen geblieben. Belustigt lächelte er auf das Ehepaar herab und schwenkte seine Fahne.

Martin hob grüßend die Hand.

»Lass einem alten Mann ein bisserl Zeit!«, rief er scherzhaft zurück und hörte den Salt lachen.

Der hochgewachsener Leiter der Bergwacht war fünf Jahre älter als er. Und keiner von ihnen brauchte sich vor den jüngeren Kameraden zu schämen, die um sie herum den Hang hinauf schwärmten.

Denn der heutige Anlass war ein besonderer: An diesem Sonntag Mitte Juni traf sich wie jedes Jahr der halbe Ort am Feldkopf. Zugegeben – die meisten St. Christopher bevorzugten die bequemere Anreise mit der Kabinenbahn. Das Wetter jedoch zeigte sich von seiner herrlichsten Seite. Daher hatten Martin Burger und seine Sabine gerne Dominikus' Einladung angenommen, mit ihm und den Kameraden von der Bergwacht hinaufzuwandern.

Sie setzten sich wieder in Bewegung. Dominikus wartete, damit sie zu ihm aufschließen konnten. Nach kurzer Zeit erreichten sie zu dritt den Rand eines Schneefelds. Hier begann der Feldkopf-Gletscher, und es war nicht mehr weit bis zur Bergstation der Kabinenbahn – ihrem Ziel.

Sabine entknotete die Jacke, die sie um ihre Hüften gebunden trug, und schlüpfte fröstelnd hinein. Dominikus steckte seine Fahne für eine kurze Rast neben sich in den Schnee. Martin Burgers Blick folgte der Gondel, die soeben bergwärts fuhr.  

Die Kabine war gerammelt voll. Wenn er gegen die Sonne blinzelte, erahnte er ganz vorne ein paar Kinder, die ihre Nasen an die Scheibe pressten. Ihre Eltern, Großeltern und sonstige Verwandte drängten sich dahinter. Auch Martins Vater Pankraz und die Bachhuber-Zenzi, die gute Seele des Doktorhauses, würden mit den drei Burger-Kindern die Kabinenbahn nehmen.

Er hörte Sabines Lachen und wandte den Kopf. Zwei junge Kameraden der Bergwacht hatten sich ins Schneefeld vorgewagt. Einer bückte sich und formte eine Hand voll des patzigen Schnees zu einem Ball. Er warf sie in die Richtung des anderen Burschen, der weiter oben stand.

Dieser grinste und sprang geschickt aus dem Weg. Dabei vernahm Dr. Burger ein bedrohliches Knacksen!

Ein Schauder durchlief ihn.

»Pass auf!«, schrie er. Zugleich brüllte auch Dominikus eine Warnung zu den Burschen hoch, während der Schnee bereits dort zu bröckeln begann, wo der obere Kamerad stand. Eine verborgene Spalte tat sich auf!

Für einen Herzschlag erstarrte der junge Bergkamerad. Gleich darauf warf er sich zur Seite. Halb schlitterte, halb kugelte er das restliche Feld hinunter. Sein Spezl stand wie angewurzelt mit einem zweiten Schneeball in der Hand.

»Theo! Peter! Seid ihr vollkommen deppert geworden?« Dominikus' erboste Stimme tönte über den Berg. Mit raschen Schritten stapfte er auf die beiden Burschen zu. Dr. Burger und Sabine folgten ihm.

Der Kamerad, der Hals über Kopf das Schneefeld hinabgesaust war, kam soeben wieder auf die Beine. Es war der Lichtenthaler-Theo, sah Martin Burger: Dominikus' neunzehnjähriger Neffe, der Sohn seiner Schwester Gitti.

Der andere Bursche ließ den Schneeball fallen. Der Bergdoktor erkannte auch ihn: Peter Sonnleitner, Theos bester Freund seit Kindertagen.

Theo streckte fordernd einen Arm mit der geballten Faust in seine Richtung aus, und Peter schlug mit seiner eigenen Faust dagegen: eine vertraute Geste unter Burschen, die Dr. Burger ein Schmunzeln entlockte.

Dann erreichte Dominikus die beiden Missetäter. Ertappt ließ Peter den Arm sinken. Theo dagegen erwartete seinen Onkel mit lässiger Haltung und einem breiten Grinsen. Seine schwarzen Locken hingen wirr durcheinander, seine Hose und Jacke waren mit Schnee bedeckt.

»Kreuz Sakra!«, machte Dominikus seinem Unmut Luft. »Wie oft muss ich's euch noch sagen? Die Berge sind kein Kinderspielplatz! Und die Gletscher erst recht net!«

Peter senkte zerknirscht den Kopf, er wagte den Blick seines Kommandanten nicht zu erwidern.

Theo hingegen rollte die Augen.

»Es war doch bloß ein Spaß, Onkel Nik«, warf er ein, sobald Dominikus Atem schöpfte. Mit Blick auf die finstere Miene seines Onkels und Kommandanten ergänzte er: »Wir tun's auch net wieder. Versprochen!«

»Spaß nennst du das, Bub?«, mischte sich ein anderer Bergkamerad ein: der Lichtenthaler-Clemens, Dominikus' Schwager und Theos Vater. »Und was glaubst du, wie viel Spaß du am Grund einer Gletscherspalte hättest?«

»Gar net so wenig!«, entgegnete Theo genervt. Seine Wangen röteten sich vor Ärger, als er sich seinem Vater zuwandte. »In wie viele Spalten hast du dich denn im letzten Jahr abgeseilt? Und in wie viele ich?«

»Darum geht's net!«, herrschte ihn der ältere Lichtenthaler an. Mit einem Ruck seines Kinns wies er auf die Fahne in Dominikus' Hand. Hier war es fast windstill, sodass der schwere, dunkelblaue Stoff in Falten hing und das gestickte Bild verbarg. Doch jedes Mitglied der Bergwacht wusste, wer darauf zu sehen war. »Wenn du schon dem Berg keinen Respekt zollst, dann wenigstens unserem Schutzpatron. Und unseren Bergtoten.«

Bei dem letzten Wort fing Clemens' Stimme fast unmerklich an zu zittern.

Theos Miene verdüsterte sich weiter. Er schob bockig das Kinn vor. Dr. Burger schien es, als läge ihm eine scharfe Erwiderung auf der Zunge. Doch der Bursche schluckte sie hinunter und schwieg.

»So was wie das vorhin will ich nimmer sehen!«, verwarnte Dominikus ihn und Peter. Er musterte die Burschen mit seinen hellen Augen, einen nach dem anderen, bis beide nickten. Erst danach wandte er sich ab und beschritt zielstrebig den Pfad, der am Rande des Schneefelds entlang und weiter bis zur Bergstation verlaufen würde.

Martin und Sabine Burger waren dicht genug hinter ihm, um sein verärgertes Murmeln zu hören.

»Seid froh, dass euer Filli erst fünf ist«, brummte er. »Wenn die Buben erst in die Pubertät kommen, dann halten sie sich meist für unbesiegbar.«

Dr. Burgers Blick schweifte an Sabine vorbei zu dem Grüppchen hinter ihnen. Clemens hatte Theo an der Schulter gepackt, redete unentwegt auf ihn ein und vollführte dabei mit der freien Hand zornige Gesten. Die verstockte Miene des Burschen ließ keinen Zweifel daran, worum es ging. Nach kurzer Zeit riss er sich los und marschierte mit raschen Schritten den Pfad entlang. Peter eilte ihm nach und klopfte ihm auf den Arm, damit er langsamer würde.

»Der Theo ist jetzt neunzehn, gell?«, brach Martin Burger das Schweigen. Freundlich, aber bestimmt erinnerte er Dominikus: »Wir waren alle einmal neunzehn.«

Und wir haben uns alle für unbesiegbar gehalten, ergänzte er im Stillen. Freilich: Als Arztsohn hatte Martin früh gelernt, dass mit den Gefahren am Berg nicht zu spaßen war. So ein sorgloser Draufgänger wie Theo war aus ihm daher nie geworden. Auch er aber hatte der Zukunft einst voller Zuversicht und Selbstvertrauen ins Auge geblickt: Er würde Arzt werden wie sein Vater, seine Jugendliebe Christl heiraten und mit ihr im Doktorhaus eine Familie gründen. Nie hatte er damit gerechnet, dass ein Schicksalsschlag Christl und mit ihr das gemeinsame Kind aus dem Leben reißen und ihn in den Abgrund der tiefsten Verzweiflung stürzen würde.

Womöglich erriet Dominikus seine Gedanken. Seine hageren Gesichtszüge glätteten sich.

»Ich weiß«, gab er widerstrebend zu. Sein Blick ruhte weiter auf Theo, der nun Seite an Seite mit seinem Kumpel Peter wanderte. Die beiden Burschen steckten die Köpfe zusammen, als schmiedeten sie schon Pläne für ihr nächstes Husarenstück. »Und er ist auch tüchtig. Ein ausgezeichneter Kletterer, topfit, da gibt's gar nix. Einer meiner besten Kameraden, wenn ich ehrlich bin. Bei den Hochgebirgsjägern nehmen sie ja auch net jeden.«

Diese abschließende Bemerkung half Martin Burgers Gedächtnis auf die Sprünge: Theo hatte kürzlich seinen Militärdienst beendet. Darauf also hatte er mit seiner Erwähnung des häufigen Abseilens in Gletscherspalten angespielt.

Sabine und die Burschen waren fast heran. Dominikus hob die Stimme: »Bloß wünsch' ich mir halt öfters, der Herrgott hätt' unserem Theo ein bisserl mehr Verstand in den Kopf gesetzt!«, schloss er laut.

»Amen!«, schrie einer der Kameraden weiter hinten. Ein anderer ergänzte launig: »Darum beten wir nachher bei der Bergmesse!«

Theo wandte sich zu den beiden um und machte eine obszöne Geste in ihre Richtung. Doch er lachte schon wieder. Was immer er und Peter miteinander geflüstert hatten – es schien, als wäre der Ärger über die Zurechtweisung von ihm abgefallen.

Martin Burger spähte von ihm zu Clemens weiter hinten. Die Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn ließ sich nicht leugnen, auch wenn Theo die hellen Augen eindeutig von der Salt- statt von der Lichtenthaler-Sippschaft hatte.

Clemens' Miene aber wirkte düster. Sogar die Kameraden von der Bergwacht machten einen Bogen um ihn. Das sonnige Juniwetter hob seine Laune offenbar ebenso wenig wie die herrliche Wanderung entlang des glitzernden Schneefelds. Unwillkürlich musste Dr. Burger daran denken, wie der Lichtenthaler seinen Sohn zu mehr Respekt gegenüber dem Berg, vor allem aber gegenüber den Bergtoten aufgefordert hatte.

Eine halb vergessene Erinnerung drängte sich in seinen Kopf. Ein Name, den er schon lange nicht mehr gehört oder gar ausgesprochen hatte: Laurenz Lichtenthaler.

***

So viele Menschen hier oben! Das war ungewohnt. Lena hörte sie schon von Weitem. Allein der Klang unzähliger Stimmen verriet ihr: Halb St. Christoph hatte sich zwischen der Bergstation und der Feldkopfhütte versammelt.

Sie und ihr Vater waren natürlich nicht mit der Kabinenbahn gekommen. Sie hatten auch nicht den bekannten Wanderweg vom Ort her gewählt, sondern einen schwierigeren und daher selten begangenen Klettersteig über die Rückseite des Feldkopfs. Selbst wenn das bedeutet hatte, ihre Wecker auf vier Uhr zu stellen.

Das frühe Aufstehen hatte Lena nicht gestört. Die Schweiß treibende Kraxelei hatte ihr sogar Spaß gemacht. Nun aber verließ sie fast der Mut, als vor ihnen die Bergstation in Sicht kam.

Die Wiese dahinter war mit Menschen fast wie mit Enzian übersät. An ihrem Rand erhob sich ein Biertisch, wahrscheinlich von der Feldkopfhütte, mit einem hellen Tuch darüber. Hochwürden Andreas Roseder in seiner Stola stand, umringt von seinen Ministranten, daneben. Einer stellte soeben ein goldenes Kreuz auf den behelfsmäßigen Altar. Die Edelsteine daran funkelten in der Sonne.

Lena blieb stehen. Unschlüssig biss sie auf ihre Unterlippe, als sich ihr Vater, der Bergführer Konrad Zauner, umdrehte.

»Was ist denn, Madel?«, fragte er verwundert. »Kommst du net?«

Lena schwieg. So sehr sie ihren Papa liebte: Oft wünschte sie sich, er wäre mehr wie sie. Oder sie wäre mehr wie er! Sodass sie einander besser verstünden.

Das Bergsteigen und Klettern als ihre gemeinsame Leidenschaft verband sie zwar, aber das reichte nicht. Der Papa ging ungern allein auf den Berg. Er brauchte alleweil jemanden zum Reden, selbst auf den steilen Pfaden, die zum Gipfel führten. Deswegen sei er Bergführer geworden, scherzte er gern: Da könnten einem die Begleiter wenigstens nicht davonlaufen.

Wenn er zurück ins Tal kam, verbrachte er seine meiste Zeit beim Ochsenwirt oder an der Theke des Berghotels »Am Sonnenhang«. Bei jedem Volksfest, jedem Faschingsfest oder Jägerball blieb er als einer der Letzten. Meistens klingelte dann mitten in der Nacht Lenas Handy und irgendwer befahl ihr, den Papa endlich zu holen. Oder ein Veranstalter läutete um drei Uhr morgens bei ihr Sturm, während zwei seiner Spezln mit vereinten Kräften den Papa aufrecht hielten.

Lena war ein vollkommen anderer Mensch. Zurückgezogen. Scheu. Ganz die Mama, pflegten jene paar der Dörfler zu sagen, die sich noch an die selige Burgstallerin erinnerten. Allein zu sein, hatte ihr nie etwas ausgemacht. Schon gar nicht am Berg! Wie konnte man sich dort einsam fühlen? Mit dem prächtigen Blick ins Tal, mit den Hängen im Sommer blau von Enzian und mit den jungen Gämsen, die sich hinter den Felsen hervorwagten, wenn man nur lange genug mucksmäuschenstill da hockte?

Heute aber hatte sich ihr Berg in einen lärmenden Kirmesplatz verwandelt, und mit jedem Schritt wurde ihr unwohler zumute. Wer alles da sein würde! Ihre ehemaligen Mitschüler zum Beispiel. Der Schulabschluss, die Matura, war kein Jahr her. Nicht lange genug, damit Lena vergessen hätte, wie ein paar der eitleren Gänse stets die Nasen über sie gerümpft hatten. Beim Klettern wurde man nun einmal verschwitzt und zerzaust, das ließ sich kaum vermeiden. Lange, lackierte Nägel waren am Berg auch nicht praktisch.

Mit den Burschen war sie meistens besser ausgekommen als mit den Madeln. Bis diese mit fünfzehn plötzlich angefangen hatten, sie zum Jägerball oder zum Ochsenwirt einzuladen. Oder sie gar abzubusseln!

Von da an war Lena umso öfter auf den Berg zu ihren Hängen voller blauem Enzian geflohen. Sie wusste einfach nichts mit Burschen zu reden! Und sie wollte auch keinen küssen, dem nicht ihr Herz gehörte.

Nun näherte sie sich mit Bangen der Bergwiese, auf der die Messe stattfinden würde. Sie und der Papa kamen von oben nahe dem Gipfel, das verschaffte ihnen einen guten Blick über die Gemeinde.

Der Papa blieb stehen, und sie schloss zu ihm auf. Der Bergdoktor und seine Familie waren da, sah sie. Der alte Herr Doktor trug die zweijährige Laura auf seinen Schultern und redete mit Hochwürden. Wahrscheinlich wollte er für seine Chronik des Zillertals wissen, wie viele Bergmessen es schon am Feldkopf gegeben hatte.

Neben dem Altar zog eine Fahne Lenas Blick auf sich. Sie zeigte den Schutzpatron der Bergwacht, den heiligen Bernhard von Menthon, in der Mitte. Dazu Edelweiß und glockenförmigen Enzian in allen vier Ecken.

Ein Kamerad bewachte die Fahne. Es war der Lichtenthaler-Clemens. Sobald Lena ihn erkannte, warf sie einen besorgten Blick zu ihrem Vater. Dessen Miene verdüsterte sich. Lena hoffte inständig, dass es wenigstens an diesem feierlichen Anlass keinen Streit geben würde. Aber ihre Hoffnung war schon oft enttäuscht worden.