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Dass Ela Fehlinger den Magreiten-Hof erbt, hätte in St. Christoph niemand gedacht. Doch Korbinian Linner, für den Ela der Sonnenschein seines Alters war, wollte ihr mit dem Hof das größte Geschenk ihres Lebens machen.
Bloß - was kann die hübsche junge Frau mit dem Hof anfangen, dessen Verfall kaum noch aufzuhalten ist? Ela will dennoch alles tun, um aus dem Haus ihr eigenes "Traumschloss" zu machen. Magreiten soll ihr Zuhause werden, der Ort, an dem sie glücklich ist und eines Tages mit einer eigenen Familie leben wird.
Voller Elan stürzt sie sich zusammen mit ihrem Verlobten in die Renovierung. Doch nicht nur Ela ist bald völlig überfordert. Als Andi sich bei Arbeiten in dem maroden Haus schwer verletzt, eskaliert die Situation!
Für Dr. Burger steht fest, dass er eingreifen muss - als Arzt und als Nachbar ...
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Seitenzahl: 131
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Weißt du, wie Glück schmeckt?
Vorschau
Impressum
Weißt du, wie Glück schmeckt?
Wie ein Vater sein schwer krankes Kind zum Strahlen bringt
Von Andreas Kufsteiner
Die Diagnose ist niederschmetternd: Die fünfjährige Tereza, die seit einiger Zeit über Brustschmerzen klagt sowie sehr wenig isst, hat einen Ventrikelseptumdefekt! Eine Operation am offenen Herzen ist unumgänglich und wird für Oktober geplant.
Marcel, alleinerziehender Vater der Kleinen, ist vor Schock wie gelähmt. Seine ehrgeizigen Pläne für die Zukunft treten erstmals in den Hintergrund. Wenn das Schlimmste eintreten und Tereza die Operation nicht überleben sollte – welche Rolle spielt dann noch die Absicherung ihrer Zukunft?
Vor diesem Hintergrund will Marcel seiner tierlieben, naturverbundenen Tochter ihren sehnlichsten Wunsch erfüllen: Er ringt seinem Chef vier Wochen Urlaub ab und fährt mit Tereza ins Zillertal.
Dass sie ausgerechnet auf der Alm von Diana Mayreder eine freie Kammer finden, ist sicherlich Schicksal. Denn die junge Frau, die selbst einen großen Schmerz verarbeiten muss, kennt nicht nur die schönsten Plätze in den Bergen, sie weiß auch, wie Glück schmeckt ...
Ein Loch in ihrem Herzen.
Ein Loch im Herzen seiner Tereza. Seines Sonnenscheins, seiner Maus, seiner kleinen Prinzessin.
Die erschütternde Diagnose war alles, woran Marcel denken konnte. Nichts anderes passte mehr in seinen Kopf. Auch nicht die Worte des Arztes, der ihm gegenüber am Tisch saß. Auch nicht der Zettelstapel zwischen ihnen. Ein Kugelschreiber lag daneben, auf jeder Seite war mindestens einmal Marcels Unterschrift erforderlich. Damit alles getan werden konnte, was die Ärzte als nötig empfanden. Für Tereza und das Loch in ihrem Herzen.
Ein leises Quietschen drang an sein Ohr. Er wandte sich um. Tereza saß nahe der Tür auf einem Besucherstuhl, der zu groß für die Fünfjährige war. Ihre Beine reichten nicht bis zum Boden. Das Quietschen kam daher, dass sie mitsamt dem Stuhl hin und her wippte. Die Schiebespange hatte sich aus ihrem hellblonden Haar gelöst und hing nur noch einer Strähne. Tereza hielt ihre geliebte und schon ziemlich plattgedrückte Plüschziege Nanni im Arm. Auf ihrem Schoß lag ein aufgeschlagenes Bilderbuch, doch sie schaute nicht hin. Stattdessen musterte sie Marcel mit großen, ernsten Augen.
Sein Blick wurde abgelenkt. Hin zu Terezas knallrosa Strickjacke und ihrem T-Shirt mit dem Fuchs darauf. Dem Fuchs über Terezas Herzen. Einer Strickjacke, Herrgott noch mal, und das im Juni! Alle Zeitungen schrieben über Rekordtemperaturen und Klimaerwärmung, aber sein Madel weigerte sich, ohne Jacke aus dem Haus zu gehen.
»Du frierst ja sogar bei dreißig Grad im Schatten«, pflegte Marcel zu witzeln, und jetzt wussten sie beide, warum.
Weil Tereza ein Loch in ihrem Herzen hatte.
Der Arzt ihm gegenüber räusperte sich. Sein ergrautes Haar war schütter, Marcel schätzte ihn auf Ende fünfzig oder Anfang sechzig – doppelt so alt wie er selbst. Ein Mediziner mit viel Erfahrung. Marcel war gewiss nicht der erste verzweifelte Vater, dem eine Diagnose aus dem Mund des Arztes den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Tereza war gewiss nicht das erste kleine Madel mit einem Loch im Herzen.
Marcel fuhr sich mit beiden Händen durch die modisch kurz geschnittenen Haare. Sie standen gewiss nach allen Seiten ab.
»Papa Igel«, pflegte ihn Tereza zu nennen, doch im Moment war ihm sein Aussehen einerlei.
»Die Operation«, stieß er mit belegter Stimme hervor. »Das ist ein Routineeingriff, nicht wahr?«
Er merkte selbst, wie flehentlich er klang. Marcel war kein Kind mehr. Er war neunundzwanzig, alleinerziehender Vater und der beste Vertriebsmann seiner Firma. Und trotzdem wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass ihm der Arzt nun ein tröstliches Märchen erzählen würde.
Dieser antwortete nicht gleich. Er schob den Papierstapel auf dem Tisch näher an Marcel heran.
»Ich schlage vor, Sie lesen sich das in Ruhe durch. Wenn Sie dann noch Fragen haben, Herr Denk, steht ihnen das Klinikpersonal gerne zur Verfügung.« Marcel kam es vor, als wollte er mehr sagen. Doch der Arzt warf einen Blick auf Tereza und verstummte.
Marcels Tochter hatte den Kopf gesenkt und starrte ihr Buch an. So konzentriert, dass er mit absoluter Sicherheit wusste: In Wahrheit lauschte sie. Die aufgeschlagene Seite war noch immer die mit dem Traktor am Feld. Nicht einmal bis zur Molkerei hatte sie weitergeblättert, und erst danach kam der Bauernhof.
»Tereza«, bat er sie. »Schau dir dein Bilderbuch an.«
Sie hob den Kopf. »Tu ich ja«, erwiderte sie mit großen Augen. Die Unschuldsmiene musste sie von ihrer Mama haben, seine eigene wirkte viel glaubwürdiger. Nicht, dass Marcel das seiner Tochter je verraten würde.
»Draußen«, ergänzte er streng.
Sie legte ihre Kinderstirn in Falten. »In der Tiefgarage, wo unser Auto parkt?«
»Nein!«
»Wo dann? Im Lift? Oder auf dem Klo?« Besitzergreifend klappte sie das Bilderbuch zu und presste es an ihre schmächtige Brust, als wollte sie es vor Toilettengestank und Bakterien beschützen.
Das Pochen in Marcels Schläfe kündigte eine beginnende Migräne an.
»Im Flur«, erwiderte er mit bemühter Ruhe. »Bitte, Tereza.«
Ihre Augen weiteten sich noch mehr. Wenn Marcel »Bitte, Tereza« sagte, hieß das im Hause Denk: »Der Spaß ist vorbei, jetzt wird es ernst.«
Tereza sprang vom Stuhl und begann, ihn zur Tür zu schieben. Ein grässliches Schabgeräusch ertönte.
Marcel knetete mit zwei Fingern seine Nasenwurzel. Das half meistens, zumindest für kurze Zeit.
»Was machst du da? Lass den Sessel hier.«
Sie hielt inne. »Und wenn draußen keiner frei ist?«
Marcel schloss die Augen. Er zählte in Gedanken bis drei und atmete tief durch.
»Bitte, Tereza. Geh kurz hinaus. Setz dich auf einen Stuhl. Oder meinetwegen auf den Boden«, fuhr er fort, als seine Tochter den Mund öffnete. »Ich komme in fünf Minuten. Kannst du so lange für mich brav sein?«
Tereza nickte. »Tschüss, Papa!« Sie hob Nanni hoch vor ihr Gesicht. »Meck-meck-meck, Papa!« Mit diesem gemeinsamen Abschiedsgruß marschierte sie zur Tür. Die Leuchtsohlen ihrer neuen Turnschuhe blinkten abwechselnd rosa und blau.
Sie war fast draußen, da brach der Arzt sein Schweigen: »Sie können das Kind doch nicht ganz allein...«
»Ich habe sonst niemanden für sie«, unterbrach ihn Marcel harsch.
Die Tür fiel hinter Tereza zu. Hatte seine Maus die letzten Worte gehört? Hatte der Arzt recht? Was konnte einem kleinen Madel innerhalb von fünf Minuten im Gang eines Krankenhauses passieren? War Marcel tatsächlich so ein Rabenvater?
Seine Gedanken drohten ihm zu entgleiten.
»Diese Operation«, begann er von Neuem. »Sie sagen, daran führt kein Weg vorbei?«
»Meiner Erfahrung nach – nein.« Der Arzt wandte seinen Blick von der Tür ab und Marcel zu. »Bei einem kleinen Defekt würde ich womöglich anders urteilen. Und bei sehr jungen Patienten kommt es immer wieder vor, dass sich das Loch in der Scheidewand von selbst schließt. Aber bei einer Fünfjährigen und einem Defekt dieser Größe ...« Er verstummte und fuhr dann mit fester Stimme fort: »Aus meiner Sicht ist ein operativer Eingriff unausweichlich.«
Marcel musste kräftig schlucken. Sein Blick fiel auf das oberste Blatt am Stapel.
»Ventrikelseptumdefekt (VSD)« stand darauf. Ein langer, komplizierter Name für das Loch im Herzen seiner Tereza. Er griff zum Kugelschreiber. Seine Hand bebte.
»Und wer führt die Operation durch?«
Der Arzt klang erstaunt: »In der Regel einer meiner jungen Kollegen.«
Marcel ließ den Kugelschreiber fallen und umklammerte die Tischkante, als ihm für einen Moment schwarz vor Augen wurde. Er kannte diese jungen Ärzte: Burschen in seinem Alter – Burschen wie er und seine ehemaligen Studienkollegen. Die, wenn sie keine Kinder hatten, das Wochenende durchfeierten und montags vollkommen verkatert zur Arbeit kamen. Oder wenn sie Kinder hatten, nachts erst recht keinen Schlaf fanden. Und so ein Kerl sollte seine Hände an Terezas Herz legen?
»Auf Ihren Wunsch hin kann ich den Eingriff auch selbst durchführen«, fuhr der Arzt – der Oberarzt – fort. Er tippte etwas in den Computer. »Ich sehe, das Kind ist zusatzversich...«
»Zusatzversichert«, bestätigte Marcel. Er holte tief Luft. »Ja. Bitte führen Sie den Eingriff durch.«
Sein Chef pflegte launig zu behaupten: Marcel mangle es nicht wie vielen seiner Generation am Respekt vor den Älteren. Er habe vielmehr kein Vertrauen in seine eigenen Altersgenossen. Daran musste wohl etwas Wahres sein.
»Dann schlage ich vor, wir tragen gleich einen Termin ein. Allzu lange würde ich nämlich nicht warten.« Der Oberarzt rief seinen Kalender auf. »Die Woche ist voll«, hörte ihn Marcel vor sich hin murmeln. »Da bin ich in Urlaub ...«
In Urlaub! Am liebsten wäre Marcel aufgesprungen, hätte ihn am Kragen gepackt und ihm ins Gesicht gebrüllt, wie er denn unter diesen Umständen an Urlaub denken könne. Er wusste natürlich, dass er dem Oberarzt damit unrecht tat. Ärzte hatten genauso ein Recht auf Urlaub wie andere Leute. Wenn jemand Erholung brauchte, dann sie!
Trotzdem fing seine Hand erneut an zu zittern, während sich sein Gegenüber durch die nächsten Wochen klickte.
Zu guter Letzt sah der Oberarzt auf. »Der früheste Termin, den ich persönlich Ihnen anbieten kann, ist in der zweiten Oktoberwoche.«
»Den nehmen wir.« In Gedanken überlegte Marcel bereits, wie er das seinem Chef beibringen sollte. Oktober war in ihrem Geschäft einer der stressigsten Monate. Noch dazu hatte er Tereza seit Jahren versprochen, dass sie im Herbst für ein Wochenende in die Kindertherme fahren würden. Das müsste er dann wohl wieder auf unbestimmte Zeit verschieben. Es ging nicht anders.
Der Oberarzt versuchte es noch einmal: »Wir haben erst Juni. Wenn Sie einverstanden wären, dass einer meiner jungen Kollegen den Eingriff durchführt, könnten wir einen früheren Termin finden.«
Marcel wehrte ab: »Nein, danke. Wir bleiben bei Oktober.«
Die Gewissheit, dass nicht irgendein dahergelaufener Medizinstudent Terezas Brustkorb aufschneiden würde, wog für ihn die Wartezeit mehr als auf. Fünf Jahre lang hatte niemand das Loch im Herzen seiner Maus bemerkt; auf ein paar Wochen konnte es da nicht ankommen, oder?
Der Oberarzt trug den Termin ein. Er verschrieb Tereza Tabletten, die sie bis zum Operationstermin nehmen sollte, und überreichte Marcel zum Abschied den Zettelstapel.
Marcel sah darauf herab. »Das Risiko ...«, versuchte er es noch einmal.
»Ist bei dem Eingriff gering, aber vorhanden«, antwortete der Oberarzt, statt zu sagen, was Marcel von ihm hören wollte. Mit fahrigen Fingern schüttelte Marcel seine Hand. Er raffte Terezas vergessenes Umhängetäschchen an sich und eilte in den Flur.
Seine Tochter saß auf einem Stuhl zwischen zwei Frauen. Die eine trug ein Kopftuch, hatte zwei Kinder neben sich und ein drittes auf dem Schoß sitzen und hielt Tereza einladend eine geöffnete Chipstüte hin.
Die andere, im Designerkostüm mit rot gefärbten Haaren, rümpfte bei Marcels Anblick die Nase. »Ist das Ihr Kind?«
Tereza drehte sich um. »Papa!«
»Sagen Ihnen die Worte ›elterliche Aufsichtspflicht‹ etwas?«, fuhr die Rothaarige fort.
Die mit dem Kopftuch mischte sich ein: »Ich frage, ob Mädchen will Chips. Sagt: muss Papa fragen.« Sie streckte den Arm aus und wedelte mit der Tüte vor Marcels Gesicht. »Sagt Papa Ja?« Das Kind auf ihrem Schoß haschte mit seinen fettig glänzenden Fingern nach Terezas Plüschziege.
»Nein, danke«, erwiderte Marcel rasch. Er klemmte sich die Zettel unter den Arm und hob Tereza einhändig vom Stuhl auf.
»Aber Papa ...« Enttäuscht deutete sie auf die Chipstüte.
»Wir kaufen dir unten im Café ein Stück Torte«, versprach er notgedrungen.
Damit war Tereza besänftigt. Sie schlang die Arme um seinen Hals, während er überlegte, ob ihn sein Chef für diese weitere Verzögerung ermorden würde.
Unten im Café der Klinik stach Tereza winzige Bissen von ihrer Nusstorte mit Schokoladenglasur ab, während Marcel ihr dabei zusah.
Nach zwei Minuten rief sein Chef an. »Denk! Bist du noch immer im Spital?«
»Ja.«
Tereza sah auf. Sie legte die Gabel weg, formte mit den Lippen das Wort »Blödmann?« und sah ihn dabei fragend an.
Tatsächlich hieß Marcels Chef mit Nachnamen Bledmann, doch Tereza bestand auf ihrem Spitznamen für ihn. Marcel hoffte inständig, sie würde ihn nie in Heiner Bledmanns Gegenwart erwähnen.
Er nickte und legte zugleich mahnend einen Finger an die Lippen.
»Komm zurück, so schnell du kannst!«, tönte es aus der Leitung. »Bei uns ist die Hölle los. Ich war nahe dran, dem Leutgeb auf der Stelle zu kündigen ...« Erregt berichtete Marcels Chef ihm, mit welchem Kunden es sich der streitbare Techniker diesmal verscherzt hatte. Marcel klemmte das Handy zwischen Schulter und Ohr, warf hin und wieder »Ich verstehe« ein und mimte in Terezas Richtung, sie solle fertig essen. Statt zur Gabel zu greifen, kicherte sie über seine bühnenreife Vorstellung.
»In einer dreiviertel Stunde bin ich da«, versprach Marcel, sobald sein Chef Atem schöpfte. »Nachdem ich das Madel zurück in den Kindergarten gebracht ...« Er unterbrach sich, als sein Blick auf die Uhr fiel. Der Kindergarten würde bald schließen.
»In einer halben Stunde bin ich da«, verbesserte er sich. Tereza musste eben mitkommen. Die Damen von der Assistenz würden hoffentlich irgendeine Beschäftigung für sie finden.
Er verabschiedete sich und legte auf.
»Iss!«, drängte er seine Tochter. »Wir fahren gleich los.«
»Ich bin schon satt.« Die Schokoglasur der Torte fehlte, aber fast der ganze Nussteig war übrig. Marcel bereute nun, dass er Tereza vorhin die Chips verboten hatte. Oder dass er nicht wenigstens die – zweifellos ungesunde – Schokoladentorte aus der Vitrine für sie ausgewählt hatte.
Tereza aß zu wenig, sie sah mit fünf noch immer wie eine Drei- oder höchstens Vierjährige aus. Aber er konnte sie doch nicht mit Chips und Schokolade vollstopfen, nur damit sie zunahm. Oder? Die Nusstorte war ihm als guter Kompromiss erschienen.
Seufzend schnappte er sich den Teller, würgte rasch ein paar Bissen Nussteig hinunter und hob seine Tochter auf.
»Komm. Du darfst Papa heute Nachmittag wieder bei der Arbeit helfen.«
Er trug Tereza in die Tiefgarage, bezahlte das Parkticket und schnallte sein Madel in den Kindersitz. Beim Schließen des Gurtes ertappte er sich dabei, wie sein Blick an ihrer schmalen Brust hängen blieb.
Tereza war sein Ein und Alles. Schon vor ihrer Geburt hatte er um ihr Leben gekämpft. Ihre Mutter, eine tschechische Austauschstudentin, hatte das ungewollte Kind zunächst gar nicht austragen wollen. Sie und Marcel hatten einander an der Uni kennengelernt, besonders ernst war es mit ihnen beiden nie gewesen. Ganz sicher nicht ernst genug für eine dauerhafte Beziehung. Oder gar eine Familie.
Sie wolle die Schwangerschaft abbrechen, hatte sie ihm sofort erklärt. Marcel hatte sie angefleht, er hatte gebettelt und sie bekniet, bis sie auf seinen Kompromissvorschlag eingegangen war. Sie würde das Kind zur Welt bringen, es ihm überlassen, und er dürfe sie danach nie mehr kontaktieren.
Um ehrlich zu sein: Marcel hatte nicht geglaubt, dass sie ihren Plan knallhart durchziehen würde. Er hatte sich bei Terezas erstem Ultraschallbild, beim ersten Klang ihrer Herztöne in seine Tochter verliebt. Als er sie dann im Krankenhaus in seinen Armen gehalten hatte, war es vollends um ihn geschehen gewesen.
Wie konnte Terezas Mutter dieses wunderbare Wesen neun Monate lang in ihrem Bauch getragen haben und es danach in einem fremden Land zurücklassen?
Er war sich sicher gewesen, sie würde sich besinnen. Deshalb hatte er die tschechische Version von Terezas Namen in die Geburtsurkunde eintragen lassen. Und hatte Fotos nach Prag geschickt. Videos von Tereza, wie sie am Daumen nuckelte, aus dem Fläschchen trank und mit ihren Zehen spielte. Bis ihn ein aufgebrachter Tscheche am Telefon angebrüllt hatte: Seine Tochter habe Marcels Nummer blockiert, und wenn er nicht aufhörte, sie zu belästigen, würde er es bereuen.
Im Nachhinein dachte Marcel: Damals war er auf einen Schlag erwachsen geworden. Erst in dem Moment hatte er begriffen, worauf er sich eingelassen hatte. Er, der Studienabbrecher ohne familiären Rückhalt – ein alleinerziehender Vater!
Doch irgendwie hatten sie es geschafft. Tereza und er. Fünf Jahre später konnte er sich sein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Der Gedanke raubte ihm den Atem, dass seine Zeit mit ihr womöglich begrenzt war. Dass, wenn das Schlimmste einträfe, er nur mehr ein paar Wochen mit ihr hätte.
»Weißt du was?«, fragte er bemüht fröhlich, als sie auf der Fahrt zur Firma wieder einmal im Stau standen. »Bis zu deiner Operation machen wir uns einen wunderbaren Sommer.«
Juli, August, September – drei volle Monate blieben ihnen. Er konnte sich Urlaub nehmen. Nein, verbesserte er sich in Gedanken: Er musste sich sogar Urlaub nehmen. Sein Chef würde gewiss Verständnis haben, immerhin handelte es sich um einen unvorhergesehenen Notfall.