Der Bergdoktor 2251 - Andreas Kufsteiner - E-Book

Der Bergdoktor 2251 E-Book

Andreas Kufsteiner

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Beschreibung

In dieser Nacht plagt sie wieder einmal der Traum. Lilo steht auf der Bühne. Allein. Die Logen im Opernhaus sind bis zum letzten Platz gefüllt, auch vom Parterre bis hinauf zu den Rängen gibt es nirgendwo einen freien Sitz. Da und dort erahnt Lilo in der Menge ein bekanntes Gesicht. Eine Theaterkritikerin. Einen Intendanten. Bernd. Alles Menschen, deren berufliche Meinung ihr etwas bedeutet.
Das Orchester beginnt ihre Arie zu spielen. Lilo hört ihren Einsatz. Sie öffnet den Mund - und kein Ton kommt heraus.
Verzweifelt versucht sie es wieder. Doch sie bleibt stumm! Das Publikum fängt an zu tuscheln. Die Theaterkritikerin macht sich eine Notiz. Der Intendant schüttelt betrübt den Kopf. Bernd blickt starr geradeaus.
Doch dieser Albtraum ist mehr als nur ein nächtliches Gespenst. Er ist der Schatten, der Lilos Leben durchzieht, der stumme Schrei ihrer tiefsten Ängste und Unsicherheiten. Wird sie jemals den Mut finden, ihre Stimme wieder zu erheben? Kann sie die Schatten der Vergangenheit überwinden und die Herzen des Publikums erobern?

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Seitenzahl: 131

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Cover

Ein Liebeslied für St. Christoph

Vorschau

Impressum

Ein Liebeslied für St. Christoph

Eine gefeierte Sängerin zieht sich überraschend zurück

Von Andreas Kufsteiner

In dieser Nacht plagt sie wieder einmal der Traum. Lilo steht auf der Bühne. Allein. Die Logen im Opernhaus sind bis zum letzten Platz gefüllt, auch vom Parterre bis hinauf zu den Rängen gibt es nirgendwo einen freien Sitz. Da und dort erahnt Lilo in der Menge ein bekanntes Gesicht. Eine Theaterkritikerin. Einen Intendanten. Bernd. Alles Menschen, deren berufliche Meinung ihr etwas bedeutet.

Das Orchester beginnt ihre Arie zu spielen. Lilo hört ihren Einsatz. Sie öffnet den Mund – und kein Ton kommt heraus.

Verzweifelt versucht sie es wieder. Doch sie bleibt stumm! Das Publikum fängt bereits an zu tuscheln. Die Theaterkritikerin macht sich eine Notiz. Der Intendant schüttelt betrübt den Kopf. Bernd blickt starr geradeaus.

Doch dieser Albtraum ist mehr als nur ein nächtliches Gespenst. Er ist der Schatten, der Lilos Leben durchzieht, der stumme Schrei ihrer tiefsten Ängste und Unsicherheiten. Wird sie jemals den Mut finden, ihre Stimme wieder zu erheben? Kann sie die Schatten der Vergangenheit überwinden und die Herzen des Publikums erobern?

An dieser Stelle ihres Albtraums wachte sie schweißgebadet auf.

Zum Glück! Sie wusste bereits, wie die Schreckensvision weiterging. Das Publikum vertrieb sie mit Buh-Rufen von der Bühne. Und am nächsten Tag erschien in der Zeitung ein Foto von Lilo, wie sie weinend das Opernhaus verließ. Der Intendant zitierte sie daraufhin in sein Büro und drohte ihr mit der sofortigen Auflösung ihres Vertrags. Lilo hatte das alles schon ein Dutzend Mal in ihren Albträumen erlebt.

Mit einem Seufzer rollte sie sich herum – und schloss geblendet die Augen. In letzter Zeit blieben ihre Vorhänge zwar Tag und Nacht zugezogen, aber durch den Spalt dazwischen drang ein Streifen Sonnenlicht.

Lilo blinzelte. Ein rascher Blick auf die Uhr verriet ihr: Es war fast zwölf an einem strahlend hellen Junitag. Ihr Dachkammerl in der Züricher Altstadt lag nur einen Katzensprung vom Sechseläutenplatz entfernt. Wenn sie die Ohren spitzte, konnte sie fast die Kaffeetrinker unter den Sonnenschirmen hören. Und die Kinder, die einander barfuß durch die Wasserfontänen jagten.

Unwillig vergrub Lilo das Gesicht in ihrem Polster. Ihr Herz hämmerte allzu laut, ihr Atem ging zu schnell. Ihr Nachthemd fühlte sich feucht und verschwitzt an. Ohne hinzusehen, angelte sie nach der Schachtel mit den Tabletten, die auf dem Nachtkästchen bereit lag. Die Betablocker waren eigentlich für Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen gedacht, aber einige von Lilos Kollegen nahmen sie. Gegen Auftrittsängste. Gegen das Lampenfieber.

Die Tabletten senkten Lilos Blutdruck und ihre Pulsfrequenz so weit, dass sie wieder durchatmen konnte. Dass sie wieder singen konnte – ganz gleich wer im Publikum saß.

Leider halfen sie nicht mehr so gut wie am Anfang. Diese Saison hatte Lilo im Geiste bereits abgeschrieben. Drei Aufführungen noch. Dreimal noch die Bronislawa im »Bettelstudent« geben, dann war's das.

So sehr sie die Sommerpause herbeisehnte – gleichzeitig wurde ihr beim Gedanken daran angst und bange. In den vergangenen Jahren hatte sie um diese Zeit bereits mehrere Angebote für die nächste Saison gehabt und sich zwischen ihnen entscheiden können.

In diesem Jahr? Nur eines! Und das wohl eher aus Mitleid: Der Intendant war einer von Bernds alten Weggefährten. Der Einzige, der Lilo damals vor einer Eheschließung mit dem charismatischen, fast doppelt so alten Herrn Grunewald gewarnt hatte. Jetzt hatte er sich dazu erbarmt, ihr die Rolle der Agathe im »Freischütz« zu überlassen.

Auch ein zweites Angebot hatte eine Weile im Raum gestanden – bis zur verpatzten Premiere des »Bettelstudenten«. Danach hatte sich Lilo drei Tage lang in ihrem Dachkammerl eingeschlossen. Sie hatte sich erst wieder herausgewagt, als der Sturm der vernichtenden Kritik vorbeigezogen war. Aber die Sturmschäden blieben.

In der Rolle der Agathe lag nun ihre letzte Chance. Auch wenn das hieß: schon wieder in ein anderes Land umziehen. Sich eine andere Wohnung suchen. Ein anderes Opernhaus. Andere Kollegen. Schon wieder die Neue zu sein, die so viele Witze nicht verstand. Die nicht wusste, warum der Regisseur montags schlechter drauf war – oder mit wem aus der Requisite man reden musste, damit etwas rasch erledigt wurde.

So sehr Lilo das Singen liebte: Das Drumherum war oft schwer zu ertragen.

Ihre Jugend half auch nicht. Ganz im Gegenteil! Mit siebenundzwanzig galt man an der Oper als Küken. Die älteren Diven wollten so ein Madel wie Lilo entweder ständig bemuttern – oder sie hackten gnadenlos mit den Schnäbeln nach ihr. Und die Bässe und Tenöre strichen um sie herum wie Füchse, die ihr zartes Hühnchenfleisch witterten.

Noch dazu würde Bernd in derselben Stadt sein wie sie: Bernd, der größte Fuchs im Hühnerstall von allen. Allein die Vorstellung, ihn am Premierenabend im Publikum zu sehen, verursachte Lilo Herzrasen. Mit fahrigen Fingern drückte sie eine Tablette aus der Blisterverpackung und schluckte sie.

Ihr Handy klingelte. In ihrer Eile stieß Lilo es zuerst vom Nachttisch und musste sich weit aus dem Bett lehnen, um es zu haschen. Verdutzt starrte sie auf die Ziffernanzeige. Warum hatte sie sich für zwölf Uhr fünfzehn einen Wecker gestellt?

Schlagartig fiel es ihr ein: Eugen! Ihr Mentalcoach – ihr geistiger Begleiter. Sie sprang aus dem Bett, schlüpfte hastig aus dem verschwitzten Nachthemd und zog sich eine hübsche Bluse an. Rasch noch das Gesicht waschen und die Haare bürsten. Ein wenig Make-up auftragen, das musste genügen. Die ausgeleierte Jogginghose würde Eugen nicht sehen, die Kamera ihres Laptops zeigte Lilo ja nur bis zur Brust.

Sie trank ein Glas Wasser, trug den Laptop zum Sofa und ließ sich im Schneidersitz mit dem Gerät im Schoß nieder. Gerade rechtzeitig: Schon rief Eugen an.

»Grüezi!«, begrüßte er sie mit übertriebenem Schweizer Akzent. »Wie geht es meiner liebsten Nachtigall heute?« Eugen kam aus Franken, doch er passte sich Lilos Wohnorten an. Zu ihrer Münchner Zeit hatte er sie mit »Griaß di« und zu ihrer Hamburger Zeit mit »Hummel Hummel« begrüßt.

»Gut«, behauptete Lilo.

Eugen legte die gebräunte Stirn in Falten. Er war Mitte dreißig, nicht so viel älter als sie. Ein echter Skilehrer, hätten sie zu Hause gesagt: fesch, braungebrannt und ungebunden. Und er machte seine Arbeit gut. Das bezeugten seine vielen Klienten, hauptsächlich Leistungssportler, die er zu stets neuen Erfolgen und Rekorden anspornte. Dass es mit Lilos Karriere steil bergab ging statt bergauf, musste also heißen: Es lag an ihr.

Eindringlich musterte er sie. »Du hast schon wieder Tabletten genommen?«

»Nur eine. Es war nötig«, verteidigte sich Lilo auf seine stumme Anklage hin. »Ich hatte wieder den Traum.«

Eugen seufzte. »Dein Unterbewusstsein will dir etwas sagen«, ermahnte er sie. »Hör darauf! Versuch es nicht mit Tabletten zum Schweigen zu bringen.«

Diesen Rat hatte Lilo von ihm schon oft gehört. Sie nickte geistesabwesend.

Eugen fuhr fort: »Und wenn du mich fragst: Du brauchst dringend eine Pause.«

»Ich habe den ganzen Sommer vor mir, genügt das nicht?« Freilich musste sie die Rolle der Agathe einstudieren. Aber die kannte sie bereits. Mit der Arie »Leise, leise, fromme Weise« hatte sie einst während ihres Studiums brilliert.

Eugen schüttelte den Kopf. »Eine Pause von allem«, betonte er. »Sogar vom Singen. Besser gesagt: ganz besonders vom Singen.«

»Aber das Singen ist mein Leben!«

»Ist es das?« Er legte den Kopf schief, um sie eingehend zu betrachten.

Tränen stiegen Lilo in die Augen.

»Ja!«, fauchte sie. »Du hast keine Ahnung, wie schwer es für mich war, so weit zu kommen. Was ich alles zurückgelassen habe. Welche Opfer ich gebracht habe.«

Ihre eigenen Worte klangen wie Hohn in ihren Ohren. Neun Jahre voller harter Arbeit, voller Selbstzweifel, Einsamkeit und Herzschmerz – und wohin hatte das alles sie geführt? In ihr Dachkammerl mit den ewig zugezogenen Vorhängen.

Mühsam riss sie sich zusammen.

»Eine Auszeit kommt nicht infrage«, ergänzte sie. »Du sollst mir helfen, an meiner Karriere zu arbeiten. Und nicht, damit aufzuhören. Dafür bezahl' ich dich net!« Zu spät biss sie sich auf die Lippe.

Eugen betrachtete sie mitfühlend.

»Ich verstehe dich«, betonte er. »Du hast für deinen Traum vieles geopfert. Jetzt möchtest du den Lohn deiner Mühen ernten. Trotzdem frage ich dich.« Er beugte sich vor, sein Gesicht näherte sich der Kamera. »Willst du das alles noch immer? Auch wenn eine Opernkarriere einmal dein größter Wunsch war – Menschen verändern sich. Ihre Lebensentwürfe verändern sich mit ihnen. Sich jetzt anders zu entscheiden, als man es vor sieben Jahren getan hätte, ist keine Schande.«

»Vor neun Jahren«, verbesserte ihn Lilo.

Doch seine Worte berührten etwas tief in ihr. Sie versuchte sich das Madel von damals in Erinnerung zu rufen. Die achtzehnjährige Lilo Grunewald – damals noch die Wageneder-Liesl – auf dem Weg vom hintersten Zillertal in die große Stadt. Mit nichts als fester Entschlossenheit und Fredis Glücksbringer in der Tasche. Das Bild vor ihrem inneren Auge entlockte ihr ein wehmütiges Lächeln.

»Da! Siehst du?« Eugens Stimme riss sie aus den Gedanken. »Woran hast du gerade gedacht?«

Sie scheute davor zurück, es ihm zu sagen.

»An nichts«, behauptete sie rasch. Doch ihre Neugier siegte. »Warum ist das wichtig?«

»Weil du gelächelt hast.« Wieder beugte er sich vor. »Ist dir eigentlich klar, wie selten du privat lächelst? Also, noch einmal.« Sein Ton verriet ihr, dass er das Thema nicht fallen lassen würde. »Woran hast du gedacht?«

»An daheim.« Nach kurzem Zögern ergänzte sie: »Und an meinen kleinen Bruder.«

Eugen nickte. »Dann rate ich dir: Kehr dorthin zurück.«

»In die Vergangenheit?«

»Nein, nach Hause.« Er schnaufte belustigt. »Sieh mich nicht so verstört an! Du hast den ganzen Sommer vor dir. Zwei oder drei Wochen Urlaub kannst du dir leisten.«

Einen Moment lang dachte Lilo ernsthaft darüber nach, zurück ins Zillertal zu fahren. Die Berge wiederzusehen. Die Gipfel vor der Haustür. Die Kühe auf den Almen. Und Fredi, ihren Bruder, der stets zu ihr gehalten hatte.

Schon aber wich das verklärte Bild den nüchternen Tatsachen. Fredi war nicht mehr der siebenjährige Bub, der seine große Schwester vergöttert hatte. Die Erkenntnis fühlte sich an wie ein Stich durch Lilos Herz.

»Ich kann nicht«, erwiderte sie leise, mehr an sich selbst als an Eugen gewandt. »St. Christoph ist nicht mehr mein Zuhause.«

»Bist du dir sicher? Fahr hin«, riet er ihr von Neuem. »Nimm dir Urlaub! Besuch deine Familie. Mach dir eine schöne Zeit! Und wenn dich dort nichts mehr hält«, fuhr er fort, ehe Lilo ihre Einwände in Worte fassen konnte, »dann weißt du es wenigstens. Ich glaube nämlich ...« Er senkte die Stimme, als verriete er ihr ein Geheimnis. »Ein Teil von dem, was dich zurückhält, ist, dass du lieber dort wärst als hier.«

Ein ungläubiges Lachen war ihre Reaktion. Lieber dort als hier? Lieber Mist in Schubkarren schaufeln, als zu singen? Lieber um fünf Uhr morgens in den Stall gehen, als auf der Bühne gefeiert zu werden – als von Männern Blumen überreicht zu bekommen und Frauen zu Tränen zu rühren?

Doch das Lachen blieb ihr im Hals stecken, als sie an die verpatzte Premiere und all die Verrisse in den Zeitungen dachte.

»Ich überleg's mir«, erwiderte sie unverbindlich. Sie wollte nicht zurück nach St. Christoph. Freilich – mit achtzehn hatte sie von ihrer siegreichen Heimkehr geträumt. Sie würde in einer Limousine vorfahren. Der halbe Ort würde auf dem Kirchplatz Spalier stehen. Bürgermeister Angerer würde einen roten Teppich für sie ausrollen. Lilo würde selbstverständlich ein Bühnenkleid tragen: Spitze, Brokat und Diamanten vom Kragen bis zum Saum.

Ein absurdes Bild! Heute konnte sie nur darüber lachen. Wenn auch mit etwas Bitterkeit – denn warum sollte jemand einen roten Teppich für sie ausrollen, wo ihre Karriere doch fast am Ende war?

Sie beendete das Gespräch so bald wie möglich, klappte den Laptop zu und starrte an die Wand. Das Ölgemälde eines Hirschkopfs starrte zurück. Es gehörte der Vermieterin. Lilo hatte am Dekor nichts geändert, sie wohnte ja auch nicht lange hier. Nur für die Saison.

Ihr Vater hätte wahrscheinlich gewitzelt: »Wenn du Saisonarbeiterin sein wolltest, Madel – das hättest du einfacher haben können! Die Almhütten im Ötztal suchen alleweil Servierkräfte.«

Lilo schniefte, als das Heimweh sie zu überwältigen drohte. Nach dem Papa und der Mama. Nach dem Hof. Und nach Fredi, ihrem geliebten Brüderlein.

Hatte Eugen recht? Sollte sie wirklich heimfahren, statt den ganzen Sommer über allein und trübsinnig hier zu hocken?

***

Melchior stieg auf die Bremse. Vor ihm bog der Postbus in die Haltestelle. Der junge Bauer trommelte mit zwei Fingern auf dem Lenkrad und warf einen Blick nach vorne. Aber die Straße durch den Krähenwald war an dieser Stelle schmal und kurvig, die Sicht entsprechend schlecht. Zu überholen – noch dazu mit dem Anhänger hinten am Wagen? Purer Leichtsinn. Ein Unfall wäre der denkbar schlechteste Start in sein neues Leben.

Er schüttelte über sich selbst den Kopf. Sein neues Leben – wie das klang! Als wäre jemand gestorben. Als hätten sie ihn begraben: den alten Steininger-Melchior, Annas Bräutigam, der mit ihr seine Zukunft geplant hatte.

Bei dieser Erinnerung verdüsterte sich seine Laune. Das mit ihm und Anna hätte für die Ewigkeit sein sollen. Jede Bitte hatte er ihr erfüllt, jeden Wunsch hatte er ihr von den Augen abgelesen. Anna hatte seinen Antrag und den Ring seiner verstorbenen Großmutter angenommen. Wie bezaubernd sie gelächelt hatte! Als könnte sie kein Wässerchen trüben.

Ihre ganze Verwandtschaft hatte mit ihnen beiden die Hochzeit geplant. Annas Bruder wäre der Ringträger gewesen, ihre Schwestern die Zubräute. Beide – denn Anna hatte behauptet, sie könne sich nicht zwischen ihnen entscheiden. Obwohl Melchior doch gewusst hatte, dass sie die jüngere Schwester viel lieber mochte als die ältere. Auch das hatte ihn verzaubert: wie viel Rücksicht sie auf die Gefühle der Älteren genommen hatte.

Stundenlang hatten sie in der Stube gehockt – Annas hellblonder Kopf zwischen den dunkelblonden ihrer Schwestern – und von Blumenkränzen fürs Haar und zusammenpassenden Dirndlschürzen geschwärmt. Melchior hatte sich einen Hochzeitsanzug schneidern lassen. Ganz nach Annas Vorgaben. Der Westenstoff war für seinen Geschmack zu glänzend gewesen. Aber Anna hatte befunden, er sähe damit fesch aus.

Einige Wochen vor der Hochzeit hatte ihn dann Annas ältere Schwester zur Seite genommen und vorsichtig gefragt, ob er den Plan der Eheschließung wirklich durchziehen wollte. Denn Anna wäre nicht immer so fürsorglich und lieb. Sie könne auch ganz schön verletzend sein. Neidisches Luder, hatte Melchior gedacht.

Drei Tage später war er mit dem fertigen Hochzeitsanzug nach Hause gekommen: voll der Vorfreude auf eine private Anprobe, auf eine kleine Modenschau in seiner Zweizimmerwohnung. Den Mietvertrag hatte er bereits gekündigt – denn gleich nach der Hochzeit würde er zu Anna auf ihren Hof ziehen.

Anna hatte ihn beim Küchentisch erwartet. Melchior hatte sofort gewusst, dass etwas nicht stimmte.

»Wir müssen reden«, hatte sie bloß gesagt.

Und dann hatte sie ihm einiges gestanden. Denn ihre ältere Schwester hatte ihr gedroht: »Entweder sagst du es ihm, oder ich tu's.«

Daraufhin hatte Anna sich entschieden, reinen Tisch zu machen. Sie hatte Melchior ihre Seitensprünge gebeichtet. Die heimliche Liebelei mit einem Knecht ihres Vaters, die fast ein Jahr gedauert und von der alle gewusst hatten: ihre Eltern, der Bruder und die Schwestern. Nur Melchior nicht.

Darüber hinaus hatte es noch ein paar Kleinigkeiten gegeben – für Anna kaum der Rede wert. Ein betrunkenes Gspusi mit einem ehemaligen Mitschüler beim Klassentreffen. Ein anderes mit dem Bruder der Braut beim Polterabend einer guten Freundin. Melchior hatte sich noch gewundert, warum sie ihm am Tag danach so kleinlaut aus dem Weg gegangen war!

»Ich bin so froh, dass jetzt alles heraußen ist«, hatte sie am Schluss gesagt und ihn liebreizend angelächelt. »Und ich versprech' dir: Sobald du mir vor dem Pfarrer dein Ringerl ansteckst, gibt's für mich keinen anderen mehr. Das schwör' ich!«

Melchior hatte sich umgedreht und seine Wohnung verlassen. Anna hatte ihm nachgerufen – doch er war in sein Auto gestiegen und davongebraust, als hetze der Teufel hinter ihm her. Zwei Nächte hatte er bei einem Freund geschlafen. Als er es schließlich über sich gebracht hatte, in die Wohnung zurückzukehren, war Anna fort gewesen. Und Melchiors Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft mit ihr.

Vor ihm setzte sich der Postbus wieder in Bewegung. Ein Ehepaar mit Rucksäcken war ausgestiegen. Der Mann zog eine Wanderkarte hervor und entfaltete sie.