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Hoch oben über St. Christoph, wo sich die letzte Bergstraße gabelt und zu zwei alten Höfen führt, kehrt der Winter mit einer Wahrheit zurück, die über Jahrzehnte verborgen war. Vor dreißig Jahren verband Jochen und Rosi eine Liebe, die abrupt endete - getrennt durch eine Intrige, die Rosis Stiefschwester Cäcilia mit einem einzigen Brief besiegelte. Jochen, vom Verrat tief verletzt, heiratete schließlich Cäcilia, die sein Herz jedoch nie erreichte. Rosi floh in die Stadt, während die Zeit ihr eigenes Schicksal schrieb.
Doch als jetzt eine junge Frau in St. Christoph auftaucht, die eine unheimliche Ähnlichkeit mit seinem "Schneeroserl" von damals hat, erwachen lange verdrängte Erinnerungen. Anfangs wehrt sich Jochen, doch dann erliegt er der Versuchung und wählt eine fast vergessene Nummer. Er spürt, dass die Vergangenheit und sein verlorenes Glück ihm eine letzte Chance schenken könnten ......
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Seitenzahl: 133
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Zeitlose Liebe
Vorschau
Impressum
Zeitlose Liebe
Eine unglaubliche Familiengeschichte, die Sie zu Tränen rührt
Von Andreas Kufsteiner
Hoch oben über St. Christoph, wo sich die letzte Bergstraße gabelt und zu zwei alten Höfen führt, kehrt der Winter mit einer Wahrheit zurück, die über Jahrzehnte verborgen war. Vor dreißig Jahren verband Jochen und Rosi eine Liebe, die abrupt endete – getrennt durch eine Intrige, die Rosis Stiefschwester Cäcilia mit einem einzigen Brief besiegelte. Jochen, vom Verrat tief verletzt, heiratete schließlich Cäcilia, die sein Herz jedoch nie erreichte. Rosi floh in die Stadt, während die Zeit ihr eigenes Schicksal schrieb.
Doch als jetzt eine junge Frau in St. Christoph auftaucht, die eine unheimliche Ähnlichkeit mit seinem »Schneeroserl« von damals hat, erwachen lange verdrängte Erinnerungen. Anfangs wehrt sich Jochen, doch dann erliegt er der Versuchung und wählt eine fast vergessene Nummer. Er spürt, dass die Vergangenheit und sein verlorenes Glück ihm eine letzte Chance schenken könnten ...
Von St. Christoph im Zillertal aus verlief eine einsame Straße. Sie schlängelte sich zunächst durch den Wald und anschließend hinauf in die Berge. Wer ihr folgte, erreichte nach einiger Zeit eine abgeschiedene Anhöhe. Diese Gegend hieß bei den Gebirglern seit jeher »Im Kronedt«. Woher der Name kam, wusste längst niemand mehr.
Am Ende der Bergstraße lagen zwei Höfe: jener der Familie Schwarz mit der Adresse Kronedt 1 und der benachbarte Hof der Reisingers mit der Adresse Kronedt 2.
Bis auf die Bewohner der beiden Höfe lebte im Kronedt kein Mensch. Es gab nur die Gämsen, die sich auf den schroffen Felshängen weiter oben tummelten. Und weit, weit unten im Tal die Häuser und die Pfarrkirche von St. Christoph. Ihren Turm mit dem goldenen Wetterhahn sah man am besten im Herbst oder im Winter, wenn die Bäume ihr Laub verloren.
Der Hoferbe der Familie Schwarz war der einzige Sohn Jochen: ein fescher und groß gewachsener Bursche von zweiundzwanzig Jahren. An diesem Dezembertag begab er sich wie so oft in den Wald. Denn auch wenn der Boden gefroren und mit Schnee bedeckt war, bedeutete das für einen Landwirt nicht, dass er sich vor dem Kamin ausruhen durfte.
Die Bauern im Kronedt heizten nach wie vor mit Holz. Das musste geschlagen und abtransportiert werden. Außerdem hieß es die Brombeerranken vor dem Frühling schneiden, junge Bäume pflanzen und sie zum Schutz vor dem Wild auch gleich einzäunen. Und nach jedem der zahlreichen Winterstürme galt es, das herabgefallene Totholz von der einzigen Straße ins Tal zu entfernen. Nein: Langweilig wurde einem Jungbauern hier im Dezember gewiss nicht.
Von seinen Pflichten war Jochen der tägliche Kontrollgang durch den Wald die liebste. Dabei genoss er die klare Bergluft und die Stille. Er begegnete nie einem Menschen außer den Bewohnern des Nachbarhofes. Das waren nicht viele. Der Reisinger und dessen Vater. Die Reisingerin. Ihre neunzehn-, fast zwanzigjährige Tochter Cäcilia, die später einmal alles erben würde. Und dann gab es natürlich noch das andere Madel am Hof: Rosi, die Ziehtochter der Reisingers.
Der Gedanke an sie zauberte ein Lächeln auf Jochens kantige Züge. Verträumt blieb der Bursche stehen. Hier an einer lichten Stelle des Hangs konnte man bis hinunter nach St. Christoph schauen. Doch Jochens Augenmerk galt nicht etwa dem Turm mit seiner Schneehaube und dem goldenen Wetterhahn, der daraus hervorragte. Nein, er sah Rosi vor sich. Sein Roserl.
Sie und ihre Ziehschwester ähnelten einander so wenig wie der Sommer dem Winter. Cäcilia war groß gewachsen – fast so groß wie Jochen – und hatte den dürren, knochigen Körperbau ihres Vaters und Großvaters geerbt.
»Eine hagere Bäuerin ist am besten«, pflegte der alte Reisinger zu witzeln. »Das erspart dem Bauern einen Knecht und hält zugleich die Futterkosten gering.«
Bei solchen derben Scherzen verkniff Cäcilia jedes Mal missbilligend die Lippen. Doch dass sie tüchtig war, sprach ihr niemand ab. Selbst auf dem vereisten Waldboden wendete sie den Traktor mit seinem Anhänger so sicher und gekonnt wie jeder Bursche. Und auch mit der Motorsäge wusste sie umzugehen – sehr zur Freude der männlichen Reisingers.
Rosi war ganz anders: klein und zierlich mit weichen Rundungen, von denen Jochen nachts träumte. Kein halber Bursche in Strümpfen und Dirndl wie Cäcilia! Während diese bei der Waldarbeit mit den Männern wetteiferte, half Rosi der Reisingerin im Haus und im Garten.
Sie war die weltbeste Bäckerin von Kuchen, Torten und Weihnachtskeksen. Und wenn sie am Heiligenabend zum Besuch der Christmette in ihr schönstes Dirndl schlüpfte und sich die blonden Locken zu einer Krone flocht – dann fiel es einem Burschen wahrhaft schwer, an die Geburt des lieben Heilands zu denken.
Im letzten Jahr war Hochwürdens Predigt bei ihm zum einen Ohr hinein und zum anderen gleich wieder hinausgegangen. Die ganze Christmette über hatte Jochen nur die Rosi angeschaut. Wie brav und sittsam sie neben der Reisingerin gehockt hatte! Mit ihrem Liederbuch auf den Knien und einem Engelslächeln auf den Lippen.
Noch jetzt, fast ein Jahr später, wurde Jochen wunderlich zumute, als er daran dachte.
In jener Christmette, das fühlte er, hatte sich sein Schicksal besiegelt. Er hatte sein Herz an Rosi verloren. Seitdem gab es für ihn keinen Zweifel mehr: Das Roserl war seine zukünftige Bäuerin und sein Madel fürs Leben.
Freilich: Bis jetzt hatte er sie nicht gefragt, ob sie die Seine werden wollte. Sie war ja jünger als er und würde erst in zwei Wochen ihren neunzehnten Geburtstag feiern.
Die Eltern wussten auch noch nichts von seinen Plänen. Seit seiner Kindheit redeten sie davon, dass er Cäcilia heiraten sollte, um die beiden Höfe im Kronedt zu vereinen. Aber das kam für Jochen nicht infrage. Er würde die Mama und den Papa umstimmen – oder sie notfalls vor vollendete Tatsachen stellen.
Das Ringerl für Rosi hatte Jochen bereits in Mayrhofen besorgt und es zu Hause in seiner Sockenschublade versteckt. An ihrem Geburtstag würde er es ihr überreichen.
Während er so versonnen im Wald stand, hörte er etwas. Nicht das Rauschen des Windes in den Kronen und nicht das Knarzen der Wipfel unter ihrer Schneelast, sondern eine Madelstimme, die leise vor sich hin summte.
Sein Lächeln wurde breiter. Es gab im Kronedt nur ein Madel, das im Wald sang.
Mit dem Instinkt eines Jägers pirschte sich Jochen an. Kein Zweigerl knackste unter seinen Stiefeln. Und bald sah er sein Wild vor sich: Rosi in ihrem Anorak und dem selbstgestrickten Pullover, dessen Saum darunter hervorlugte. Sie hockte am Boden. Mit den Handschuhen bog sie behutsam ein paar dornige Ranken zur Seite.
Jochen räusperte sich. Erschrocken fuhr Rosi herum – doch sie lächelte, als sie ihn erkannte.
»Grüß dich, Jochen!«
»Grüß dich, Roserl.« Neugierig trat er näher und beugte sich zu ihr herab. »Was hast du denn gefunden?«
Sie hielt die Ranken so, dass er es sehen konnte. Eine schneeweiße Christrose blühte dort mitten im Dickicht: die erste in diesem Winter.
»Schön, net wahr?«
»Wunderschön«, bestätigte er.
Doch während Rosi andächtig die Christrose musterte, schweifte sein Blick zu ihrem Gesicht ab. Wie liebreizend sie mit den leuchtenden Augen und ihren geröteten Wangen aussah!
»Ich weiß aber noch etwas Schöneres«, merkte er lächelnd an.
Rosi erhob sich aus der Hocke. Sie war so klein und zierlich, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um zu ihm aufzuschauen.
»Was denn?« Ihre hoffnungsvolle Miene ließ sein Herz dahinschmelzen.
»Dich«, raunte er zurück. »Du bist mein Schneeroserl und die allerschönste Blume im Wald.« Er schlang die Arme um sie und drückte ihr ein Busserl auf die Lippen.
Danach wurde eine Weile nichts mehr geredet. Es gab nur sie beide: Rosis Rundungen, die sich unter der Jacke abzeichneten, und ihre zierlichen Arme, die seinen Hals umschlangen. Jochen überschüttete sie mit Zärtlichkeiten, bis Rosi ihre Lippen von seinen löste und hervorstieß: »Wie spät ist es?«
Er hatte keine Uhr dabei. Und es war ihm auch herzlich egal. Erneut küsste er Rosi mit einer Leidenschaft, die ihnen beiden den Atem raubte.
Doch sie entwand sich ihm. »Wenn ich net rechtzeitig zum Mittagessen daheim bin ...«
»Es ist noch vor zwölf«, beruhigte Jochen sie. »Die Kirchenglocken haben net geschlagen.« Er zog Rosi eng an sich – gerade als unten im Tal die erste Glocke läutete.
Jochen hielt enttäuscht inne. Mit dem größten Bedauern ließ er zu, dass Rosi aus seinen Armen entschlüpfte. Flink wie ein Reh wich sie ein paar Schritte zurück.
»Ich muss gehen.« Sie klang entschuldigend. »Net, dass sie mir wieder die Cäcilia nachschicken! Sie macht mir eh schon alleweil Vorwürfe, dass ich in letzter Zeit zu nix mehr zu gebrauchen bin. Und warum ich ständig im Wald verschwind', würd' sie gern wissen.« Bei den letzten Worten umspielte ein Lächeln ihre Lippen.
»Sie wird's bald erfahren«, versprach ihr Jochen.
Zwei Wochen noch bis zu Rosis Volljährigkeit. Bis er ihr sein Ringerl an den Finger stecken könnte. Danach wäre sie die Seine für alleweil und ewig. Sie dürften einander abbusseln, so oft und so lange sie wollten. Und keiner würde Rosi mehr vorschreiben, wann sie zum Essen zu Hause sein müsste.
Er und sein Madel lächelten einander an: ein stummes Versprechen. Rosi hob die Hand und winkte ihm zum Abschied. Anschließend drehte sie sich auf dem Absatz um und lief leichtfüßig durch den Schnee davon.
Jochen sah ihr nach, bis ihre zierliche Gestalt zwischen den Bäumen verschwand.
***
Ach, hätten die beiden geahnt, dass sie nicht allein waren! Denn wie Rosi befürchtet hatte: Nicht nur Cäcilia, auch ihre Zieheltern wunderten sich über ihr langes und häufiges Ausbleiben. Deshalb hatten sie ihre leibliche Tochter gebeten, nach dem jüngeren Madel zu sehen.
Unbemerkt stand die hagere Reisinger-Erbin nun im Schatten einer ebenso dürren Fichte. Sie beobachtete mit unbewegter Miene, wie der Schwarz-Jochen ihre Ziehschwester abbusselte. Doch in ihrem Innersten tobte ein Wintersturm!
Seit sie denken konnte, sehnte sich Cäcilia nach Jochens Zuneigung und Liebe. Keine Arbeit am Hof oder im Wald war ihr zu schmutzig, zu anstrengend und hart. Jeden Tag bewies sie dem feschen Schwarz-Erben von Neuem ihre Tüchtigkeit. Damit er begreifen würde, welch gute Bäuerin sie für ihn wäre.
Alles umsonst! Denn Jochens Herz gehörte der jüngeren Rosi. Dem Kind der Schande. Dem Balg eines Urlaubsgastes und einer Magd, den Cäcilias Eltern zu sich auf den Hof geholt hatten.
Rosi war klein und zierlich. Die Motorsäge konnte sie nicht einmal ordentlich heben, geschweige denn damit Bäume fällen! Stattdessen hatte sie sich aufs Kochen und Backen verlegt. Der ganze Hof lobte sie dafür in den höchsten Tönen.
Und für alles andere genauso, dachte Cäcilia bitter. Jeden Tag bekam sie von ihrer Mama zu hören: »Gell, das Kleid sieht aus wie beim Premminger gekauft. Dabei hat das die Rosi für mich geschneidert!« Oder: »Mei, Cäcilia, wer soll das denn bitt'schön lesen? Hättest du nur eine so saubere und ordentliche Handschrift wie die Rosi!«
Es gab keinen Zweifel daran, wer von den beiden Madeln das Lieblingskind der Reisingerin war. Einzig Cäcilias Papa hielt meistens zu ihr. Aber hauptsächlich, weil er lieber einen Sohn gehabt hätte als eine Tochter.
Auch der Großvater trieb es in letzter Zeit gar zu bunt! Gestern hatte er gescherzt, Cäcilia und Rosi könnten im Fasching doch als »Hänsel und Gretel« gehen: Rosi im Dirndl und Cäcilia in der alten Ledernen ihres Vaters.
Cäcilia ertrug das alles nicht mehr. Zu Weihnachten wünschte sie sich nur eines: dass man sie endlich einmal wie ein Madel behandeln würde. Jochen sollte ihr sein Ringerl an den Finger stecken.
Die Alten vom Schwarz wären gewiss dafür, die Mama und der Papa genauso. Den Bund der Ehe würden sie unten in der Pfarrkirche schließen. Cäcilia würde ein Festtagsdirndl mit einer seidenen Schürze tragen. Der Papa würde sie stolz zum Altar führen, die Mama würde gerührt ein paar Tränen vergießen.
Dann hätte Jochen endlich seine tüchtige Bäuerin und Cäcilia ihren feschen Bauern. Die beiden Höfe im Kronedt wären vereint. Und mit ein bisschen Glück würde Cäcilia ihren Familien auch bald ein paar Enkelkinder schenken.
Alles könnte so wunderbar sein – wenn nur Rosi nicht wäre!
Fernes Läuten und rasche Schritte unterbrachen Cäcilias Gedanken. Ihre Ziehschwester lief durch den Wald auf sie zu, als trieben die Glockenschläge im Tal sie vor sich her. Das jüngere Madel eilte an Cäcilias Versteck vorbei, ohne sie zu bemerken. Sie schaute sich nicht um.
Erst als Rosi zwischen den Bäumen verschwunden war, trat Cäcilia hinter der Fichte hervor. Langsam folgte sie Rosi und brachte immer mehr Abstand zwischen sie beide.
Das andere Madel war fast achtzehn. Wie lange sehnte Cäcilia den Tag ihrer Volljährigkeit schon herbei! Seit Jahren hoffte sie, dass Rosi dann endlich den Hof verlassen würde. Sie konnte sich ja eine Stelle als Magd suchen wie ihre leibliche Mutter. Oder zu ihrem leiblichen Vater in die Stadt gehen.
Aber wenn sie und der Schwarz-Jochen einander gut waren, würde Rosi womöglich seinetwegen im Kronedt bleiben und damit Cäcilias Pläne für die Zukunft zerstören.
Das durfte nicht sein, schwor sich das ältere Madel.
Cäcilia hielt inne, drehte sich um die eigene Achse und ließ ihren Blick durch den Wald schweifen. Soweit man schaute, gehörte alles ihrer Familie oder Jochens. Nichts gehörte Rosi, und so würde es auch in Zukunft sein. Wenn das dreiste Luder glaubte, sie könnte Cäcilia den Bräutigam abspenstig machen – dann musste diese eben zu stärkeren Mitteln greifen.
***
Achtundzwanzig Jahre später
An einem kalten Dezembertag fuhr ein Geländewagen über die einsame Bergstraße ins Kronedt. Er gehörte Dr. med. Martin Burger, jenem Landarzt aus St. Christoph, den die Bewohner des Ortes und seiner Umgebung nur den »Bergdoktor« nannten.
Dr. Burger parkte auf dem Vorplatz des Schwarz-Hofes. Beim Aussteigen sann er darüber nach, wie wenig sich hier seit seiner Jugend verändert hatte. Wenigstens was die Gebäude anging!
An den Bewohnern des Kronedts hatte der Lauf der Zeit natürlich seine Spuren hinterlassen. Die Alten vom Schwarz hatte der Herrgott längst zu sich gerufen, ihre Nachbarn vom Reisinger-Hof ebenso. Seit zwei Jahrzehnten war der Schwarz-Jochen, der einstige Hoferbe, nun schon der Bauer.
Und seine Ehefrau, die Reisinger-Tochter Cäcilia, lag im Sterben.
Ein langer Leidensweg war dem vorausgegangen. Morbus Alzheimer gehörte üblicherweise nicht zu den Diagnosen, die man Patientinnen vor dem Pensionsantritt stellte. Und Cäcilia hatte im letzten Februar gerade erst ihren siebenundvierzigsten Geburtstag gefeiert!
Doch in ihrer Familie gab es einen Gendefekt. Dieser wurde von einer Generation an die nächste vererbt und erklärte die Häufung an frühen Alzheimer-Fällen. Autosomal-dominante Vererbung nannten Ärzte das. Jedes Kind lief zu fünfzig Prozent Gefahr, das mutierte Gen und damit die Krankheit geerbt zu haben. Auch Cäcilia hatte jenes bittere Schicksal ereilt.
Dr. Burgers Stiefel sanken im Schnee auf dem Vorplatz ein. Kein Mensch hatte diesen geräumt. Eiszapfen hingen von der Dachrinne des Wohngebäudes – ein weiterer Beweis dafür, dass den Bewohnern für notwendige Arbeiten die Zeit fehlte. Doch der Bergdoktor brauchte nicht zu klopfen oder zu klingeln. Man erwartete ihn bereits.
Es war der Schwarz-Jochen, Cäcilias Ehemann, der ihm die Tür öffnete. Als junger Bursche hatte er zu den feschesten Hoferben von St. Christoph gehört. Auch nun, Anfang fünfzig, gab er noch eine gute Figur ab: groß gewachsen und kräftig mit breiten Schultern und schmalen Hüften. Sein ergrautes Haar war weiterhin füllig. Das eine oder andere Fältchen ließ sein kantiges Gesicht umso sympathischer wirken.
Der Bergdoktor jedoch musterte ihn mit dem geschultem Blick eines Arztes. Und er bemerkte an ihm die Anzeichen großer Erschöpfung: blasse Wangen und dunkle Ringe unter den Augen.
Jochens Begrüßung klang niedergeschlagen: »Vielen Dank, Herr Doktor, dass Sie bei dem Schnee noch einmal die Fahrt zu uns auf sich genommen haben.« Halblaut und wohl nur an sich selbst gewandt, fügte er hinzu: »Womöglich bleibt Ihnen das in Zukunft eh erspart.«
»So schlimm steht's um die Cäcilia?«, erkundigte sich Martin Burger sanft.
Der Bauer öffnete den Mund. Doch er schloss ihn, ohne etwas zu antworten. Rasch wandte er sich ab und ging dem Bergdoktor mit hängenden Schultern zu der Schlafkammer voran, in der seine Frau lag.
Dr. Burger empfand tiefes Mitleid mit ihm. Mehrere Jahre dauerte Cäcilias Leidensweg schon an – und damit zugleich der Leidensweg ihrer Liebsten. Begonnen hatte der schleichende Verlauf ihrer Krankheit mit kleinen Anflügen von Verwirrtheit. Beim Sonntagsessen hatte sie schon nicht mehr gewusst, mit wem sie vorhin auf dem Kirchplatz geredet hatte und worüber.