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Die freiheitsliebende Evie führt ein unkonventionelles Leben: Sie reist als Rucksacktouristin durch die Welt, verdient ihren Lebensunterhalt mit ihrem Reiseblog und Gelegenheitsjobs. Als sie auf dem abgeschiedenen Bergmaier-Hof oberhalb von St. Christoph anheuert, ahnt sie nicht, dass ihre Begegnung mit den Zwillingsbrüdern Daniel und Robert ihr Leben für immer verändern wird. Während Daniel mit seinem offenen Wesen schnell ihr Interesse weckt, bleibt der wortkarge Robert zunächst ein Rätsel. Doch ein rauschendes Fest, eine verhängnisvolle Nacht - und am nächsten Morgen steht Evie fassungslos vor einer Wahrheit, die sie niemals erwartet hätte ...
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Seitenzahl: 130
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Geteilte Schuld
Vorschau
Impressum
Geteilte Schuld
Ein dunkles Geheimnis bedroht den Frieden auf dem Bergmaier-Hof
Von Andreas Kufsteiner
Die freiheitsliebende Evie führt ein unkonventionelles Leben: Sie reist als Rucksacktouristin durch die Welt, verdient ihren Lebensunterhalt mit ihrem Reiseblog und Gelegenheitsjobs. Als sie auf dem abgeschiedenen Bergmaier-Hof oberhalb von St. Christoph anheuert, ahnt sie nicht, dass ihre Begegnung mit den Zwillingsbrüdern Daniel und Robert ihr Leben für immer verändern wird.
Während Daniel mit seinem offenen Wesen schnell ihr Interesse weckt, bleibt der wortkarge Robert zunächst ein Rätsel. Doch ein rauschendes Fest, eine verhängnisvolle Nacht – und am nächsten Morgen steht Evie fassungslos vor einer Wahrheit, die sie niemals erwartet hätte ...
An der Bushaltestelle von Hochbrunn befand sich ein Bankerl. In diesem Januar versank es genauso wie der Rest des Krähenwalds im Schnee. Immerhin hatte eine gute Seele erst kürzlich die weiße Pracht von seiner Sitzfläche und Lehne gekehrt.
Nun hockte dort eine junge Frau im Schneidersitz auf einer Isomatte, die nicht bloß ihr selbst Platz bot: Die linke Hälfte der Bank nahm ihr vollgestopfter Trekking-Rucksack ein. Die Wanderstiefel der Frau standen fein säuberlich nebeneinander im Schnee. Gegen die Winterkälte steckte sie bis zur Brust in einem knallgelben Schlafsack. Nur der Kragen ihres Strickpullis, ihr Hals und der Kopf schauten heraus.
Sie gab ein seltsames Bild ab. Doch niemand war da, um darüber eine Bemerkung zu machen.
Unbekümmert klickte sich die junge Frau am Handy durch die Kommentare zu ihrem Blog. Den letzten Artikel hatte sie erst gestern, am Neujahrstag, eingestellt. Zum Datum passend hatte sie über ihre guten Vorsätze geschrieben. Und über Neuanfänge. Denn nicht genug damit, dass sie gleich heute eine Arbeitsstelle antreten würde – sie würde auch dort wohnen.
»Meine Vorsätze? Erstens: so viel über Obstanbau, Ziegenaufzucht und Schnapsbrennerei lernen, wie ich kann«, hieß es in dem Artikel. »Zweitens: Wintersport wie die Tiroler machen. Und mich drittens nicht schon wieder in einen unerreichbaren Kerl vergucken!«
»Good luck with that last one«, viel Glück mit Letzterem, hatte Grace kommentiert. Sie hatte den Worten sogar ein irisches Glückskleeblatt hinzugefügt.
Der Anblick entlockte Evie ein Lächeln. Grace gehörte zu ihren treuesten Followerinnen. Kein Wunder, denn sie war zugleich Evies Cousine! Aus Irland, genauer gesagt aus County Mayo im Westen der grünen Insel. Dort war Evies verstorbener Vater einst aufgewachsen, ehe es ihn zu ihrer Mutter nach Norddeutschland verschlagen hatte. Der Rest der Verwandtschaft – Evies Onkel und Tante, ihre Cousinen und Cousins – lebte noch immer dort.
Grace war nur zwei Jahre jünger als Evie. Mit ihrem Blog blieben sie in Kontakt, egal, wie viele tausend Kilometer gerade zwischen ihnen lagen.
Denn Evie hielt es nie lange an einem Ort. Amerika, Afrika, Asien – mit achtundzwanzig Jahren hatte sie schon die halbe Welt bereist. Nicht etwa per Jacht oder in Luxushotels. Nein, Evie besaß nur ihren altgedienten Trekking-Rucksack und ihre schon reichlich abgetretenen Wanderstiefel. Sie konnte in Zugabteilen genauso gut schlafen wie in Wartehallen. Und sie war daran gewöhnt, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten. Meistens auf Bauernhöfen. Ob das nun die Alpaka-Zucht in Peru war, der Zuckerrohr-Anbau in Ecuador oder die indische Teeplantage.
Gerade wollte sie das Handy einstecken, da fiel ihr Blick auf eine neue E-Mail. Sie klickte darauf. Die besten Wünsche fürs neue Jahr von Mutti. Eine Datei war angehängt. Sobald Evie sie öffnete, starrte ihr ein Jobangebot der Verwaltung ihres Heimatstädtchens entgegen. Allgemeine Bürotätigkeiten. Keine Vorkenntnisse nötig. Quereinsteiger willkommen!
Evie schloss den Dateianhang sogleich und überflog Muttis E-Mail noch einmal. Erst jetzt sah sie das Postskript: »Meine Freundinnen sagen, dass in der neuen Siedlung am Stadtrand ein paar Wohnungen leer stehen. Die Miete soll günstig sein, und mit dem Bus ist man schnell im Zentrum. Wäre das nicht etwas für dich?«
Mit einem Seufzer schob Evie das Handy in ihre Tasche. Sie liebte ihre Mutter. Und sie wusste, dass Mutti sie ebenfalls liebte! Bloß funktionierte ihre Beziehung am besten mit genügend räumlicher Entfernung.
Als Evie noch daheim gewohnt hatte, hatte es ständig Krach gegeben. Selbst jetzt konnte Mutti nicht verstehen, dass ihre Tochter sich mehr erträumte als eine Anstellung bei der Stadtverwaltung und eine leistbare Wohnung.
Das neueste Ziel von Evies Reisen lag in Tirol. Genauer gesagt: in St. Christoph. So nahe an zu Hause war sie schon lange nicht mehr gewesen, nur rund tausend Kilometer trennten sie gerade von Mutti. Aber nach fast einem Jahr Südostasien brauchte Evie einfach eine Pause von Tempeln, Reisgerichten und dem Monsunklima. Auf einem idyllischen, verschneiten Bergbauernhof zu überwintern? Das klang doch gut.
Sie hörte, wie sich ein Auto näherte. Gespannt beugte sie sich vor. Ein Geländewagen bog um die Kurve. Der Fahrer hupte zur Begrüßung und fuhr rechts ran. Er kurbelte das Fenster herunter.
»Grüß dich!«, rief er leutselig. »Bist du die Eva, die ich zum Bergmaier-Hof bringen soll?«
»Ich glaube schon. Ich heiße Evie.« Sie sprach es englisch aus: I-vie.
Der Fahrer kratzte sich den Nacken.
»I-vie«, wiederholte er zweifelnd. »Na, schauen wir mal, ob ich mir das merk'. Wenn net, verbesserst du mich einfach wieder, gell? So oft, bis der Name ordentlich sitzt.«
Evie schätzte ihn auf ungefähr Mitte sechzig. Die Lachfältchen in seinem runden Gesicht ließen ihn ebenso sympathisch wirken wie der Tiroler Dialekt.
»Ich bin übrigens der Wastl«, ergänzte er. »Du kannst mich auch Sebastian oder Seppl nennen, wenn's dir lieber ist, aber die meisten sagen Wastl.« Er öffnete die Fahrertür und stapfte durch den Schnee zu ihr. »Ganz schön gemütlich hast du es dir gemacht«, staunte er und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »So könntest du glatt überwintern, hab ich recht?«
Evie lachte mit ihm. »Ich bin eben weit gereist«, erklärte sie, während sie in ihre Stiefel schlüpfte und die Schnürsenkel band.
»Freilich, das hört man. Von wo kommst du – aus Hamburg? Du klingst wie eine Norddeutsche.«
»Ursprünglich aus Schleswig-Holstein. Aber auf Umwegen! Vor drei Tagen war ich noch in Delhi. In Indien«, erklärte sie auf seine verständnislose Miene hin. Mit ein paar geübten Handgriffen rollte sie ihren gelben Schlafsack und die Isomatte zusammen und schnallte beides außen an den Rucksack.
Bevor sie ihn sich auf den Rücken hieven konnte, griff Wastl danach.
»Ich nehm' ihn schon, Madel. Net, dass mich der Bauer ausschimpft, weil sich seine Magd gleich bei ihrer Ankunft das Kreuz ruiniert.« Er hob den Rucksack. »Ja, bist du denn net gescheit!«, entfuhr es ihm. »Dass so ein zierliches Madel so viel schleppen kann!« Ächzend wuchtete er ihn auf seine Schultern und stapfte damit um den Wagen. »Steig ruhig ein«, hörte ihn Evie hinter dem Kofferraumdeckel rufen. »Die Tür ist net abgeschlossen, sie klemmt nur.«
Er hatte recht. Im Auto war es herrlich warm: Die Heizung lief. Aus dem Radio tönten Zither-Klänge. Wastl knallte den Kofferraumdeckel zu. Dann sank er schwerfällig auf den Fahrersitz und rieb sich die Hände, die von der Kälte bereits rot angelaufen waren. Anschließend lenkte er den Wagen zurück auf die Straße.
Sie waren kaum hundert Meter gefahren, als er das Schweigen brach: »Du bist also unsere neue Magd. Weißt du denn auch, worauf du dich einlässt?«
Was konnte er meinen?
»Im Zillertal war ich noch nie«, gestand Evie. »Schon gar nicht im Januar. Aber vor zwei Jahren habe ich in Italien auf einem Bio-Bauernhof überwintert. Alle glauben, dort wäre es warm! Dabei mussten wir jeden Morgen Schnee schaufeln, nur damit wir in den Stall gehen konnten. Von daher denke ich, dass ich einiges gewöhnt bin.«
War das die richtige Antwort gewesen? Sie warf einen Seitenblick auf Wastl, doch er gab nur ein unverbindliches Brummen von sich.
»Du solltest zumindest wissen, mit wem du's zu tun hast«, begann er nach kurzer Zeit von Neuem. »Mich kennst du ja schon. Dann lebt am Hof noch mein Weiberl, die Mitzi. Sie ist die Hauserin, und eine bravere gibt's auf der ganzen Welt net! Sie kocht, sie putzt. Ohne sie wär' die Speisekammer leer, und die Mauserl würden im Keller Hochzeit halten. Nur muss ich alleweil die gefangenen Mauserl für sie hinters Haus tragen, weil ihr dabei das Herz wehtut.« Ein zärtlicher Ausdruck schlich sich auf seine verwitterten Züge.
»Und sonst?«, erkundigte sich Evie, als er nicht weitersprach. »Ich hab mit einem gewissen Daniel telefoniert ...«
Wastl nickte. Er schüttelte sich ein wenig, als müsste er sich aus den Tagträumen von seiner Mitzi reißen. »Genau. Das ist unser Bauer. Und dann gibt's noch seinen Bruder, den Robert.«
Daniel hatte nichts von einem Bruder erwähnt.
»Ist er älter oder jünger?«, erkundigte sich Evie neugierig.
Wastl war damit beschäftigt, den Wagen um eine Kurve zu lenken. Neben der Straße türmten sich Schneewehen, und die Wipfel der Bäume bogen sich unter ihrer Last.
Erst hinter der Kurve kam die Antwort: »Wenn man's ganz genau nimmt, ist der Robert der Ältere.« Im selben Atemzug ergänzte Wastl: »Aber davon würd' ich net zu reden anfangen, wenn ich du wär'. Das ist ein heikles Thema, verstehst du?«
Nein, das tat Evie nicht. »Warum denn?«
»Weil für gewöhnlich der erstgeborene Sohn den Hof übernimmt«, erklärte ihr Wastl. »So ist es bei uns Brauch. Die Alten wollten es in diesem Fall halt anders.« Halblaut ergänzte er: »Und wer kann's ihnen verdenken?« Der Nachsatz klang, als spräche er mit sich selbst. Evie war sich nicht sicher, ob sie ihn hätte hören sollen.
»Wohnen die Eltern auch am Hof?«
Wastl verneinte. Seine Schultern versteiften sich. Es schien Evie, als umklammerten seine schwieligen Hände das Lenkrad plötzlich fester.
»Die liegen beide schon unter der Erde«, erwiderte er knapp. Vor ihnen lichtete sich der Wald. Die Straße wand sich in engen Serpentinen den Berg hinauf. Wastl bremste und wandte flüchtig den Blick nach Evie. »Vor zehn Jahren hat sie der liebe Herrgott zu sich geholt«, vertraute er ihr an. »Den Bauern zuerst und bald darauf die Bäuerin. Keine sechs Wochen hat sie ihn überlebt.«
Verstört starrte ihn Evie an. Sie wusste nicht, wie alt Daniel war, doch am Telefon hatte er recht jung geklungen. Ende zwanzig – so wie sie.
»Die armen Söhne!« Sie wusste selbst, was es hieß, einen Elternteil zu verlieren. Aber gleich beide und das so kurz hintereinander?
»Es hat den Bauern und seinen Bruder ziemlich hart getroffen«, bestätigte Wastl. Er schenkte ihr ein schwaches Lächeln. »Deswegen brauchen wir alleweil ein zusätzliches Paar Hände. Ich tu, was ich kann, aber mei. Das Bücken fällt mir halt auch mit jedem Jahr schwerer.« Er stieg wieder aufs Gas. »Wenigstens kannst du dich in Ruhe eingewöhnen«, versprach er ihr. »Im Winter gibt's oben net ganz so viel zu tun. Die Ziegen müssen natürlich versorgt werden. Der Bauer nutzt die kalte Zeit meistens für seine Fortbildungen. Und der Robert verkriecht sich in seinem Schnapskeller wie ein Igel im Laubhaufen.«
Evie musste bei diesem Vergleich lachen.
Wastl schmunzelte selbst, ehe er fortfuhr: »Wenn der Schnee dann taut, heißt's wieder die Apfel-, Birn- und Zwetschgenbäume stutzen. Dabei kannst du helfen. Und beim Pflanzen. Beim Ausdünnen und Bewässern. Bei den Hagelnetzen und bei der Schädlingsbekämpfung. Du wirst sehen: Langweilig wird's net.«
»Ganz sicher nicht«, stimmte Evie zu. Während sie den Berg hinauffuhren, machte sich ein kribbeliges Gefühl der Vorfreude in ihr breit. Ein neues Jahr. Ein neuer Anfang. Was würde sie die nächsten Monate über in den Zillertaler Alpen erwarten?
***
Daniel hielt beim Schneeschaufeln im Ziegengehege inne und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Da hörte er den Geländewagen. Wastl kam wieder – hoffentlich mit der neuen Magd im Schlepptau!
Rasch verließ er das Gehege und schloss das Tor im Maschendrahtzaun hinter sich. Draußen lehnte er seine Schneeschaufel an die Bretter des Unterstands.
Rasch sah er an sich herab. Sein Anorak war von der Arbeit verschwitzt, und er roch nach Ziegen, aber wenn er jetzt ins Haus ging, um zu duschen, müsste Evie draußen lange auf ihn warten. Besser, er begrüßte sie gleich. An den Ziegengeruch würde sie sich ohnehin bald gewöhnen.
Beim Vorplatz angekommen, hörte er Wastl sagen: »Da ist er ja, unser Bauer.« Der alte Knecht hielt dem Madel die Beifahrertür auf, und Evie stieg aus.
Neugierig ließ Daniel seinen Blick über sie schweifen. Bisher kannte er von Evie nur ihre Stimme am Telefon. Frisch und natürlich sah sie aus! Kleiner und zierlicher als erwartet, aber sie hatte ihm versichert, dass sie anpacken konnte.
Verspätet wurde ihm klar, dass ihn Evie genauso musterte wie er sie. Offen und neugierig, nicht etwa heimlich oder verschämt. Das gefiel ihm.
»Grüß dich.« Er trat zu ihr und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin der Daniel, wir haben ja telefoniert. Hat bei der Anreise alles geklappt? Ich hoff', du hast net zu lange an der Bushaltestelle warten müssen.«
»Gar nicht lange«, versicherte ihm Evie. Ihren norddeutschen Akzent kannte er bereits vom Telefon. Trotzdem erstaunte ihn dieser jetzt. Ohne ihn hätte man sie auf den ersten Blick für ein Tiroler Madel halten können!
Wastl ergänzte grinsend: »Sie hat es sich auch recht gemütlich gemacht. Hat sich auf dem Bankerl so eingeigelt, dass der Robert seine Freud' dran hätt'.«
Daniel kräuselte die Stirn. Es stimmte zwar: Sein Bruder hielt sich nicht gerne unter Leuten auf. Er zog die Einsamkeit seines Schnapskellers jeder Gesellschaft vor.
Davon hielt Wastl wenig – Menschen, die andere Menschen mieden, waren dem Knecht suspekt. Gerne verglich er Robert mit einem Igel, der im Laubhaufen seinen Winterschlaf hielt. Und der die Stacheln aufstellte, wenn ihn jemand daraus hervorlocken wollte.
Da mochte etwas Wahres dran sein. Trotzdem hatte Daniel stets das Gefühl, seinen Bruder verteidigen zu müssen.
Rasch wechselte er das Thema: »Hast du viel Gepäck? Ich helf' dir gern, es ins Haus zu tragen. Dann lernst du auch gleich unsere Mitzi kennen, und sie zeigt dir deine Kammer.«
Er ging ums Auto herum und öffnete den Kofferraum. Zu seiner Verwunderung lag nur ein einziger praller Rucksack darin.
»Ist das alles?«, wandte er sich an Evie, die ihm gefolgt war. »Ich hätt' net gedacht, dass ein Madel mit so wenig auskommt.«
»Wieso nicht?«, hielt Evie forsch dagegen. »Was dachtest du denn, was ein ›Madel‹ alles braucht?« Sie sprach das Wort offenbar bewusst genauso aus wie er, mit einem leicht schelmischen Unterton.
Daniel musste lachen. »Schminkzeug halt. Und solche Sachen.«
Mit einer Hand schulterte er den Rucksack, mit der anderen vollführte er eine vage Geste. Robert und er hatten weder Schwestern noch sonstige weibliche Verwandte in der näheren Umgebung. Und die selige Mama hatte ihr Schminkzeug sowie ihre anderen »solchen Sachen« stets gut vor ihren halbwüchsigen Söhnen versteckt.
»Schminkzeug ist drin«, verriet ihm Evie. »Nicht viel, nur das Nötigste. Wenn ich meinem Passfoto nicht mehr ähnlich sehe, erkennt mich ja keiner.«
Das klang für Daniel nach einer vernünftigen Einstellung. Er nickte Evie beifällig zu, ehe er sich abwandte und für sie den Rucksack ins Haus trug. Sein Eindruck am Telefon hatte ihn nicht getrogen: Dieses Madel stand mit beiden Beinen fest am Boden.
So eine Magd brauchte er. Eine, die sich nicht an Ziegengeruch störte oder erwartete, dass es auf einem Berghof alleweil zuging wie in den Heimatfilmen. Beim Fernsehen wunderte sich Daniel manches Mal, wer auf solchen Höfen denn die Arbeit verrichtete. Ihm jedenfalls blieb auch im Winter keine Zeit für romantische Kutschfahrten oder Fackelwanderungen! Und dabei hatte er Robert, Wastl und Mitzi, die ihm halfen.
Nachdem er die Hauserin und Evie einander vorgestellt hatte, ging er wieder hinaus, um nach den Ziegen zu sehen. Wastl blieb in der warmen Stube hocken.
»Nur bis meine alten Hände wieder warm sind, Bauer«, versprach er.
Wer's glaubte! Mindestens eine Stunde würde daraus werden. Oder zwei, denn Mitzi hatte heißen Tee auf dem Herd stehen. Doch mit der Trägheit des Älteren hatte sich Daniel längst abgefunden. Einem ansonsten tüchtigen und treuen Knecht konnte man so etwas verzeihen. Vor allem, wenn man bedachte, welche Stütze ihm die beiden, Wastl und seine Mitzi, damals bei der Hofübernahme gewesen waren.