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"Ich hab Angst", flüstert Selina in die Dunkelheit. Doch diese Angst erfüllt sie nicht, weil sie ganz allein mitten in der Nacht am Seerosenteich sitzt und es überall im Gebüsch raschelt und knistert.
Das Madel hat Angst vor der Diagnose, die Dr. Burger stellen wird! Seit einiger Zeit schon hat Selina Schmerzen in den Gelenken, die einfach nicht verschwinden wollen. Außerdem fühlt sie sich ständig müde und erschöpft, und ihr ist übel.
Selina kennt die Symptome, und wenn es stimmt, was sie vermutet, dann wird dies ihr letzter Sommer sein. Dann kann ihr auch der Bergdoktor nicht mehr helfen...
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Seitenzahl: 111
Veröffentlichungsjahr: 2013
Ein geheimer Ort zum Träumen
Doch ihre Liebe blieb nicht unentdeckt
Von Andreas Kufsteiner
»Ich hab Angst«, flüstert Selina in die Dunkelheit. Doch diese Angst erfüllt sie nicht, weil sie ganz allein mitten in der Nacht am Seerosenteich sitzt und es überall im Gebüsch raschelt und knistert.
Das Madel hat Angst vor der Diagnose, die Dr. Burger stellen wird! Seit einiger Zeit schon hat Selina Schmerzen in den Gelenken, die einfach nicht verschwinden wollen. Außerdem fühlt sie sich ständig müde und erschöpft, und ihr ist übel.
Selina kennt die Symptome, und wenn es stimmt, was sie vermutet, dann wird dies ihr letzter Sommer sein. Dann kann ihr auch der Bergdoktor nicht mehr helfen …
»Sie werden sich bestimmt recht gut einleben, junge Dame«, sagte Alfons Heidecker. »Es hat noch jedem Gast in unserem alten, aber gemütlichen Kornhaus gefallen. So etwas findet man heutzutage net mehr, nur hier in St. Christoph. Und da auch nur bei uns. Ach ja, da wären die Schlüssel. Die geb ich Ihnen gleich, Frau Kreuzer.«
»Bitte, Herr Heidecker, sagen Sie doch einfach Selina und du, wie’s da heroben in den Bergen üblich ist«, bat die junge Frau. »Ich möchte eine Zeitlang dazugehören und mir net vorkommen wie eine Außenseiterin.«
»Das gefällt mir«, meinte der Bauer vom Lambertus-Hof anerkennend. »Dann machen wir Nägel mit Köpfen. Ich bin der Alfons. Die anderen Leut auf unserem Hof lernst du schon noch rechzeitig kennen. Schau mal dort hinauf, Madel.«
»Wohin denn?«
»Na, drüben auf die Anhöhe. Ein Wiesenpfad führt hinauf. Du kannst die prächtigen, uralte Linden erkennen und mittendrin unseren Hof. Es mag an die vierhundert Jahre her sein, dass einer meiner Urahnen das Anwesen zuerst in Pacht von seinem Lehnsherrn übernommen und danach schließlich erworben hat. Nach vielen, arbeitsreichen Jahren ist aus dem früheren Lehen-Hof nach und nach das geworden, was er heute ist – nämlich eine Heimat für die Familie Heidecker und ein Hof, der sich sehen lassen kann. Wir sind sehr, sehr stolz auf unser Zuhause.«
»Und woher kommt der Name Lambertus-Hof?«
Der Bauer lachte. »Es war schon immer so, dass die Mannsleut in unserer Familie an zweiter oder dritter Stelle den Namen Lambert trugen. Das ist bei uns inzwischen ein fester Brauch. Ich heiße Alfons Lambert Ignaz nach meinem Großvater, mein Sohn trägt die Namen Julian Bernhard Lambert. Immer drei Namen, so gehört es sich in der Familie Heidecker.«
»Und die Mädchen?«
»Auch drei Namen, aber eine Lamberta oder Lambertine hat’s noch net gegeben«, scherzte Alfons Heidecker. »Obwohl das gar net so schlecht klingt.« Nach einer Weile setzte er noch hinzu: »Lambertus-Hof hat sich schon immer besser angehört als Lehen-Hof. Die Zeit, in der man erst mit nach unzähligen Bittgängen beim zuständigen Landvogt oder Baron ein Anwesen zur Pacht bekam, ist ja eh längst vorbei – dem Himmel sei Dank. Solche Zeiten müssen auch net wiederkommen. Das Gerede von der guten alten Zeit ist oft nur Schall und Rauch.«
»Das stimmt. Vieles war früher unmöglich, was man heute als Selbstverständlichkeit ansieht«, erwiderte Selina.
Sie fand, dass der zweiundsechzigjährige Bauer vom Lambertus-Hof das Herz auf dem rechten Fleck hatte.
Sein Alter hatte er ihr gleich verraten, als er sie vorhin durch das Ferienhaus geführt hatte. Er sah jünger aus, obwohl Wind, Wetter und die Gebirgssonne Spuren in seinem Gesicht hinterlassen hatten. Wahrscheinlich war er auch so einer, der es nie im Leben eingesehen hatte, dass ein bisschen Sonnencreme Wunder wirken konnte.
Vor einer Dreiviertelstunde war Selina von Wien aus im Zillertal angekommen. Sie hatte die Fahrt auf zwei Tage verteilt, da sie seit einiger Zeit schnell erschöpft war und dann erst einmal eine Pause brauchte, bevor sie weiterfahren konnte.
Die Nacht hatte sie in einem behaglichen Dorf nahe der oberbayrischen Stadt Rosenheim im Gasthof »Alte Post« verbracht, richtig ländlich im quietschsauber bezogenen und aufgeschüttelten Daunenbett. Morgens war sie von einem üppigen Frühstück überrascht worden, das sogar den stärksten Mann vor Probleme gestellt hätte.
Zu viel war nun mal zu viel!
Zwei verschiedene Sorten Brot, Semmeln und Brez’n, Eier von den fröhlich herumspazierenden Hühnern, Schinken, gebratene Speckscheiben, Butterkäse und mehrere Sorten Marmelade, obendrein rahmiger Topfen, Zwetschgenmus, Blaubeeren mit Zucker, Hefezopf voller süßer Rosinen, heißer Kaffee, frische Milch … eine ganze Bergsteigertruppe hätte vor diesen Mengen kapituliert! Erst recht Selina, deren Appetit eh nicht der größte war.
Es hatte sie sehr viel Mühe gekostet, von allem wenigstens ein Häppchen zu probieren, um die Postwirtin nicht zu enttäuschen.
Die brave Wirtsfrau war eh ein bisserl betrübt gewesen, dass ihr derzeit einziger Übernachtungsgast nicht noch ein bisserl länger geblieben war. Aber Selina hatte versprochen, recht bald wieder in der »Alten Post« vorbeizuschauen, dann natürlich für länger.
Alfons Heidecker verabschiedete sich erst einmal. Es ging auf vier Uhr nachmittags.
»Ich hab noch recht viel zu tun. Eins möchte ich aber noch wissen, Madel«, sagte er. »Wie bist du denn drauf gekommen, bei uns in St. Christoph Ferien zu machen? Unser Dorf liegt zwar net hinterm Mond, aber wir sind auch net grad der Nabel der Welt. Und ohne Begleitung bist du auch da … so ein fesches, junges Ding. Na ja. Ich will net neugierig sein. Es geht mich nix an, und außerdem schickt es sich net, dumme Fragen zu stellen.«
Selina lächelte. »Es ist wunderbar hier, das hab ich gleich bemerkt, als ich von Mayrhofen heraufgekommen bin«, antwortete sie. »Ein herrliches Bergpanorama und gute Luft, die frisch nach Wald und Wiesen duftet. Genau das hab ich mir gewünscht. In Wien gibt’s das logischerweise nicht. Ich hatte in den vergangenen Jahren eine Wohnung mitten in der Stadt, das war zwar einerseits praktisch, andererseits aber auch recht laut. Es hat mich manchmal sehr genervt, wenn ich abends meine Ruhe wollte.«
»Ja, du liebe Zeit, das versteh ich! Für mich wär das nix. Zwischen all den Häusern eingeklemmt leben, das könnte ich net!«
Allein bei dem Gedanken an die lebhafte Wiener Innenstadt wurde es dem Alfons mulmig zumute.
Nichts gegen die schöne Donaumetropole mit all den prachtvollen Bauten, den berühmten Hotels und der köstlichen Sachertorte! Aber dort wohnen? Net einmal für Geld und gute Worte!
»Wir haben im Dorf durchs Jahr recht viele Gäste aus Wien«, fuhr Alfons Heidecker fort. »Sie sind alle ganz begeistert. Die Frau Doktor Burger – also, sie hat unseren Bergdoktor geheiratet und selbst ist sie auch Ärztin – stammt aus Wien. Eine hübsche und blitzgescheite Person, das muss man schon sagen. Sie hat hier Wurzeln geschlagen. Ganz leicht ist ihr das sicher net gefallen. Von der Weltstadt Wien in unser Bergdorf … wer macht denn so was? Aber es war halt die Liebe! Da muss man die Waffen strecken. Wenn’s um die Liebe geht, hilft gar nix mehr außer Zusammensein, egal, ob’s in einem Schloss oder in einem windschiefen Berghüttl ist. Hauptsache, man kann sich in die Augen schauen. Na ja, oder auch mehr. Der Herrgott selbst hat’s so eingerichtet. Unser Doktor ist aber auch ein fescher Mann, kein Wunder, dass die Frau Doktor sich in ihn verliebt hat.«
Der Bauer vom Lambertus-Hof verhedderte sich zusehends und setzte ein wenig ratlos hinzu: »Tja, wo waren wir denn stehen geblieben? Jetzt bin ich doch tatsächlich auf den Doktor und seine Frau gekommen, dabei wollte ich doch eigentlich etwas ganz anderes sagen. Manchmal rede ich schneller, als ich denke.«
»Das macht doch nichts.« Selina musste lachen. »Es ging darum, weshalb ich mir St. Christoph als Ferienort ausgesucht hab. Erstens, weil meine Mutter früher hier gewesen ist und mir erzählt hat, dass die Landschaft so herrlich ist. Ich hab mir vorgenommen, dass ich unbedingt einmal herkommen muss. Und jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt, weil ich mir einen ruhigen und idyllischen Ferienort gewünscht hab. Bloß nichts Lautes, wo sofort nach Sonnenuntergang der Bär steppt. Das ist eh nix für mich.«
»Recht so«, nickte der Alfons anerkennend. »Aber … ich meine …«
»Ach ja, ich muss noch erklären, warum ich allein gekommen bin. Ganz einfach: Ich war nicht verlobt, nur kurz davor. Aber wie das manchmal so ist im Leben, es hat nicht mehr geklappt zwischen mir und meinem Fast-Verlobten. Dass wir uns getrennt haben, war die einzig vernünftige Lösung, auch wenn’s trotz allem sehr weh tat.«
»So ist das eben mit der Liebe«, murmelte der Bauer. »Es kann der Himmel sein, aber hin und wieder wird das Gegenteil daraus. Zum Glück kann ich mich net beklagen. Bei meiner Frau und mir gab’s nie den leisesten Zweifel. Es hat sofort gepasst zwischen uns. Viele haben Probleme mit dem Heiraten wie mein jüngerer Bruder, der Paul. Dem war keine recht, obwohl er die besten Chancen hatte. Aber lassen wir das. Ich fasele mal wieder zu viel umeinander. Richte dich nur in aller Ruhe ein, Madel, und wenn irgendetwas net in Ordnung ist, dann weißt du ja, wo du uns findest.«
Nun hatte es der Heidecker-Alfons sehr eilig, sich heim auf den Hof zu begeben. In seinem olivgrünen Jeep, der schon seit Jahren jedem Schlagloch und jeder Witterung trotzte, bretterte er von dannen.
Man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass der Alfons und sein Gefährt so fest zusammengehörten wie ein Reiter zu seinem treuen Pferd.
Natürlich hätte er sich einen nagelneuen Geländewagen leisten können. Aber wozu, wenn der »alte Grüne« immer noch in die Gänge kam?
***
Das »Kornhäusl« stand seit inzwischen achtzig Jahren im Besitz der Familie Heidecker, es war ursprünglich als Austragshäusl gebaut worden.
Seitdem in St. Christoph die Zahl der Urlaubsgäste zugenommen hatte, wurde es jedoch vermietet. Entweder für einige Wochen als Ferienhaus oder auch länger, wenn jemand mehr Zeit im Dorf verbringen wollte.
Auf dem Hof selbst vermieteten die Heideckers keine Zimmer, obwohl es in dem großen, stattlichen Tiroler Bauernhaus viel Platz und sogar einige unbenutzte Räume gab, alle tadellos geweißelt und ansprechend eingerichtet. Diese Räume galten als »stille« Reserve, falls sich die Familie einmal in unvorhergesehenem Maße vergrößern würde.
Gern wurden die Gäste des Kornhäusls auf dem Hof begrüßt und obendrein von der Bäuerin nach Strich und Faden verwöhnt. Irma Heideckers Bestreben war es, zu jeder Jahreszeit und auch bei unwirtlichem Wetter echte Wohlfühlstimmung zu verbreiten. Dazu gehörte natürlich auch eine von Herzen kommende Fürsorge.
So war es, zum Beispiel, selbstverständlich, dass Selina in der Küche des Ferienhauses, in dem normalerweise bis zu fünf Personen Platz fanden, einen herrlich duftenden Guglhupf vorfand.
Der Kühlschrank war prall gefüllt, das Vorratskammerl platzte ebenfalls aus allen Nähten.
In den Stuben, die allesamt im urgemütlichen Tiroler Stil eingerichtet waren, prangten Blumensträuße und Obstschalen.
»Herzlich willkommen« stand auf einem mit grünen Girlanden verzierten Schild über dem Eingang.
Im Vorgärtchen plätscherte munter ein Brünnlein vor sich hin und gab dem freundlichen Empfangsgruß durch diese melodische Untermalung den letzten Schliff.
Die junge Frau begann damit, ihre Koffer auszupacken.
Da sie ihre bisherige Stellung als therapeutisch-pädagogische Erzieherin in Wien aufgegeben hatte und in der nächsten Zeit eigentlich gar nichts plante, war es noch ungewiss, wie lange sie im Zillertal bleiben würde.
Es deutete keineswegs auf Trägheit oder Unentschlossenheit hin, dass Selina erst einmal keine Pläne schmiedete. Sie hätte es freilich gern getan, denn ihr Beruf – die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aus schwierigen Lebensverhältnissen – war ihr auch jetzt noch sehr wichtig.
Aber Selina konnte einfach nicht mehr weiter. Es waren Dinge geschehen, die ihr bisheriges Leben ins Wanken gebracht hatten.
Langsam und mit unsicheren Händen griff sie nach dem Glücksbringer, der ihrer Mutter gehört hatte und den sie nun wie einen Schatz hütete: Ein nur fünf Zentimeter großes Stoffpferdchen, abgegriffen und verblichen, aber unendlich kostbar.
Vor ihrem Tod hatte Helga Kreuzer ihrer einzigen Tochter den Talisman mit den Worten geschenkt: »Liliput hat mich seit meiner Kindheit begleitet, jetzt soll er dir beistehen, wenn du Hilfe brauchst.«
Selinas Mutter war im vergangenen Jahr nach einem fünfzehn Jahre langen Leidensweg gestorben.
Mit siebenunddreißig hatte sie plötzlich merkwürdige Symptome an sich bemerkt – Gangunsicherheit, plötzliche, aber rasch vorübergehende Lähmungen, das Sehen von Doppelbildern und andere unerklärliche Dinge.
Die Vermutung, alles sei durch ein wenig Ruhe und einen Kuraufenthalt zu beheben, hatte sich als falsch erwiesen. Selina und ihr Vater, der Rechtsanwalt Dr. Reinhold Kreuzer, waren angesichts der Diagnose »Multiple Sklerose« völlig fassungslos gewesen.
Die Kranke selbst hatte die beiden mit ihrem Optimismus (»Ich packe das schon, vor meinem neunzigsten Geburtstag trete ich nicht ab!«) bei der Stange halten müssen.
Zwar war die tückische Krankheit zwischendurch immer wieder zum Stillstand gekommen, aber die berüchtigten »Schübe« hatten auch Helga Kreuzer nicht verschont.
In ihrem letzten Lebensjahr war ihr das Sprechen schwergefallen bis auf ein Flüstern, dessen Sinn manchmal nicht erkennbar gewesen war.
Depressionen und Angstzustände hatten die einst so ideenreiche und lebensfrohe Kunstlehrerin aus der Bahn geworfen, ohne jedoch das Licht in ihrer Seele zu verdüstern.
Eine Herzmuskelentzündung und daraus resultierende, tiefste Erschöpfungszustände waren schließlich die Ursache für ihren Tod gewesen, der gnädigerweise im Schlaf über sie gekommen war.
Sie hatte mit einem Lächeln gehen dürfen wie in einem schönen Traum. Alles Leiden schien sich in einen tiefen, seligen Frieden verwandelt zu haben.
Selina betrachtete das Pferdchen.
Was wusste sie von ihrer Mutter, die ihr in jeder Situation zur Seite gestanden hatte? Vieles, aber ganz gewiss nicht alles.