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Lena, die es in München zu einer internationalen Modelkarriere gebracht hat, ist der ganze Stolz des Herrn Papa. Klar, dass der Großbauer Vinzenz Buchbinder sich keine Gelegenheit entgehen lässt, um mit seinem "Goldstück" zu prahlen.
Doch eines Tages kehrt Lena in ihr Heimatdorf Hochbrunn zurück. Schwanger und vom Vater ihres Kindes im Stich gelassen.
Als Vinzenz davon erfährt, rastet er aus. Seine Tochter bekommt ein uneheliches Kind! Er hat nicht vor, sich seinen guten Ruf ruinieren zu lassen. Kurz entschlossen verbannt er Lena in das kleine Zinshäusel im Krähenwald, damit die Nachbarn nichts von der Schwangerschaft erfahren. Und dabei hatte Lena so auf die Hilfe ihrer Familie gehofft! Sie fühlt sich von Gott und der Welt verlassen. Ganz allein ist sie aber nicht. Ihre Mutter Franziska, ihr Bruder Oliver und ihre Schwägerin Annemarie besuchen sie regelmäßig in dem Waldhaus. Jeden zweiten Tag kommt auch Dr. Burger vorbei und schaut nach der Schwangeren. Und eines Tages klopft jemand an ihre Tür, mit dem sie überhaupt nicht gerechnet hat ...
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Seitenzahl: 126
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Impressum
Verlassen
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BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Anne von Sarosdy / Bastei Verlag
Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-2809-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Verlassen
Dr. Burger und die Zukunftsangst einer schönen Frau
Von Andreas Kufsteiner
Lena, die es in München zu einer internationalen Modelkarriere gebracht hat, ist der ganze Stolz des Herrn Papa. Klar, dass der Großbauer Vinzenz Buchbinder sich keine Gelegenheit entgehen lässt, um mit seinem »Goldstück« zu prahlen.
Doch eines Tages kehrt Lena in ihr Heimatdorf Hochbrunn zurück. Schwanger und vom Vater ihres Kindes im Stich gelassen.
Als Vinzenz davon erfährt, rastet er aus. Seine Tochter bekommt ein uneheliches Kind! Er hat nicht vor, sich seinen guten Ruf ruinieren zu lassen. Kurz entschlossen verbannt er Lena in das kleine Zinshäusel im Krähenwald …
Die Sonne war eben erst über dem idyllischen Ort St. Christoph im Zillertal aufgegangen, in den Senken lag noch der Nebel, und ein Rotschwanz sang vom höchsten Wipfel einer mächtigen Föhre sein kratziges Lied, als Sabine Burger bereits vom Joggen zurückkam. In leichtem Trab erreichte die hübsche Blondine das Doktorhaus und winkte, als Zenzi Bachhuber, die Hauserin, ihr durchs offene Küchenfenster einen überraschten Blick zuwarf.
Gleich darauf betrat die Arztfrau die Küche. Sie atmete tief durch und wirkte sehr zufrieden. Dann gönnte sie sich einen kräftigen Schluck stilles Wasser.
»Mei, du bist aber heut früh auf den Beinen, Sabine«, stellte die altgediente Hausperle anerkennend fest. »Ja, so ein bisserl Sport an der frischen Luft ist doch das Beste, um am Morgen die Lebensgeister zu wecken.«
Die junge Ärztin nickte. »Ich kann dir net widersprechen, Zenzi. Endlich kommt der Frühling. Nach dem langen Wintergrau wurde das auch wirklich Zeit.«
Es war Mitte April. Über dem Tal von St. Christoph lag wieder jener zartgrüne Schimmer, der dem Frühling zu eigen war. Überall erwachte das Leben aufs Neue, die Luft war klar und voller frischer Düfte. Ein jeder verspürte nun den Wunsch, nach draußen zu gehen. Da machte auch Sabine Burger keine Ausnahme.
»Kann ich dir was helfen? Wenn net, geh ich rasch duschen, bevor Martin ins Bad will.«
»Ich bin gleich mit allem fertig. Gell, für den Doktor ist’s gestern wieder spät geworden?«
»Ja.« Sabine nickte. »Er ist erst gegen zwei vom Moser-Hof zurückgekommen. Aber Mutter und Kind sind wohlauf.«
»Das ist schön. Hausgeburten kommen wohl wieder in Mode.«
»Schaut ganz so aus.« Sabine kraulte Poldi, den Rauhaardackel der Burgers, der gerade hereinkam und dabei ziemlich ausgeprägte Pfotenabdrücke hinterließ.
Als Zenzi dies gewahrte, begann sie sofort zu schimpfen.
»Mein schöner Boden! Du Wutzerl!«
Während Poldi sich gekränkt in sein Körbchen in der Diele zurückzog, schnappte Sabine sich den Wischmopp und beseitigte seine Spuren. Zenzi schüttelte leicht den Kopf.
»Das hättest du jetzt net zu machen brauchen.«
»Oh doch, der Poldi hat wohl auch den schönen Morgen draußen genießen wollen. Deshalb soll er net ausgeschimpft werden«, scherzte Sabine und verließ die Küche, um sich für den Tag fertig zu machen.
Zenzi warf einen langen Blick aus dem Fenster in den Vorgarten, wo Tulpen, Osterglocken und Hyazinthen unter den duftigen Blüten der Zierkirsche bunt leuchteten. Ja, der Frühling war tatsächlich endlich da. Herrlich war das. Die Hauserin beschloss, heute ihr Gemüse und die Kartoffeln auf der Terrasse zu schälen und schon mal etwas Sonne zu tanken.
Wenig später scharte sich die Familie Burger um den Tisch im Esszimmer, wo alle Mahlzeiten gemeinsam eingenommen wurden.
Nachdem Sabine rasch geduscht und sich angezogen hatte, war die kleine Laura auch schon erwacht und hatte lautstark ihr Recht gefordert. Das Nesthäkchen der Familie war gerade erst zwei Jahre alt und hatte seinen Platz am Esstisch in einem Hochstuhl, der einen guten Überblick bot.
Neben Pankraz Burger, dem Senior im Doktorhaus, saßen seine beiden älteren Enkelkinder. Tessa, das achtjährige Schulmadel, und ihr drei Jahre jüngerer Bruder Philipp, der sich selbst Filli nannte.
Dr. Martin Burger, der Bergdoktor von St. Christoph, wirkte an diesem Morgen noch etwas erschöpft, ein Zustand, den man bei dem vitalen Mann Anfang fünfzig sonst nicht kannte. Doch er war mehrmals in dieser Woche zu nächtlichen Notfällen gerufen worden, die sich dann auch noch recht lange hingezogen hatten.
Für den engagierten Mediziner kamen seine Patienten stets an erster Stelle. Er nahm keine Rücksicht auf sich selbst, wenn es darum ging, anderen zu helfen. Und so kam es, dass ihm an diesem Morgen buchstäblich die Augen zufielen.
»Der Papa braucht Streichhölzer, um wach zu bleiben«, stellte Filli vorlaut fest und kicherte.
Tessa stieß ihren Bruder an und bedachte ihn mit einem strengen Blick.
»Sei net so kindisch«, mahnte sie. »Der Papa hat viel gearbeitet in letzter Zeit, deshalb ist er müd’. Über so was schaut man dezent hinweg, um niemanden bloßzustellen.«
»Bloß zu was …?« Der Bub schnitt eine Grimasse. »Du spinnst wohl heut Morgen noch mehr als sonst!«
»Filli, lass deine Schwester in Ruh!«, bat Pankraz. »Sei froh, dass sie dir gutes Benehmen näherbringen will.«
»Bei dem ist das doch sinnlos«, meinte Tessa und winkte verächtlich ab.
»Ich benehme mich tausend Mal besser als du, du … dumme Widerwurzen!«, trumpfte er auf.
»Schluss jetzt!« Sabine tippte auf ihre Uhr. »Es wird Zeit für die Schule und den Kindergarten.«
»Ich bring euch«, sagte Pankraz und erhob sich. »Der Poldi wartet bereits auf seine Runde. Und mich juckt’s auch in den Füßen, ein bisserl spazieren zu gehen bei dem schönen Wetter. Bis später!« Er bedachte Zenzi, die gerade frischen Kaffee brachte, mit einem vielsagenden Blick. »Was gibt’s denn heut zum Mittag? Vielleicht eine Sportlermahlzeit?«
Die Hauserin lief rot an, grummelte etwas Unverständliches und eilte hinaus. Sabine warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu.
»Vater, ich hoffe, du hast unsere Zenzi net verstimmt«, meinte Martin. »Du weißt, dass dein schräger Humor bei ihr net allerweil so gut ankommt, oder?«
»Die Anspielung hat sie schon verstanden«, sagte Pankraz und schmunzelte breit. Er schloss die Tür, nachdem die Kinder hinausgegangen waren, und verriet seinem Sohn und dessen Frau: »Ich hab die Zenzi nämlich heut in aller Früh beim Turnen erwischt. Stellt euch vor, sie hatte so einen Schlingentrainer in die Terrassentür geklemmt und munter die Beine darin geschwungen wie ein junges Madel. Das war ein einmaliger Anblick.«
»Hoffentlich hast du keine unpassende Bemerkung gemacht.«
»Geh, Martin, du kennst mich doch. Ich hab ihre Beweglichkeit gelobt, das war alles.«
»Und was hat die Zenzi dazu gesagt?«, wollte Sabine wissen.
»Sie meinte nur, das wär gut für ihren Rücken. Und wenn ich’s net für mich behalten könnt, gäb es heut keinen Nachtisch.« Er zwinkerte ihnen zu. »Ich zähle auf eure Diskretion.«
Nachdem der Senior zusammen mit den Kindern und dem Hund das Haus verlassen hatte, setzten Sabine und Martin ihr Frühstück in aller Ruhe fort. Sie schienen beide dasselbe zu denken, denn sie mussten zugleich lachen.
»Die Zenzi in Schlingen?«, sinnierte Martin schmunzelnd.
Sabine nickte und prustete.
»Das ist gemein, wir sollten net darüber lachen. Sport ist gesund.«
Doch sie mussten nur einen Blick tauschen, und gleich war der nächste Heiterkeitsausbruch vorprogrammiert.
»Soll ich die Sprechstunde übernehmen?«, fragte Sabine, um das Thema zu wechseln. »Filli hat recht, du siehst wirklich noch ziemlich abgespannt aus, Lieber.«
»Das Aussehen täuscht oft«, scherzte er und schenkte seiner Frau ein zärtliches Busserl. »Ich bin ganz munter.«
Sie lächelte ihm weich zu.
»Das merke ich.«
Sabine war Martins zweite Frau und sein ganzes Glück. Er liebte sie noch wie am ersten Tag, als sie nach einer dunklen Zeit in seinem Leben das Licht zurückgebracht und ihm Glück und Zufriedenheit geschenkt hatte.
Nach dem Tod seiner ersten Frau Christl im Kindbett hatte der sensible Mediziner lange getrauert und den Gedanken an eine neue Liebe weit von sich geschoben. Doch die zauberhafte Kollegin aus Wien hatte seinem Leben wieder einen Sinn gegeben. Seither führten sie eine überaus glückliche, harmonische Ehe, die von drei munteren Kindern gekrönt worden war.
»Außerdem kommt nachher Franziska Buchbinder in die Sprechstunde. Wir müssen die Ergebnisse der letzten Untersuchung besprechen. Du weißt ja, sie vertraut mir.«
»Und nur dir allein, schon klar.«
Martin lächelte nachsichtig.
»Hör ich da vielleicht Eifersucht?«
»Net die Spur. Ich weiß doch, dass die Hälfte der weiblichen Bevölkerung in unserem schönen Tal heimlich für dich schwärmt.«
»Nur die Hälfte?«
»Und die andere Hälfte verehrt dich«, erwiderte sie lachend.
»Zu welcher Fraktion gehörst du eigentlich, mein Schatz?«, fragte Martin sie und stimmte in ihr Lachen ein.
»Das musst du schon selbst herausfinden«, neckte sie ihn. »Aber was Franziska Buchbinder betrifft, da bin ich mir sicher: Für sie bist du eindeutig ein Halbgott in Weiß.«
»Jetzt ist aber Schluss mit dem Schmarrn«, beschwerte er sich.
»Schon gut. Also jetzt mal im Ernst. Ich versteh bis heute net, wie eine so sensible und kultivierte Frau wie die Franziska einen solchen Großkotz und eitlen Gecken wie den Vinzenz Buchbinder hat heiraten können. Die beiden passen doch überhaupt net zusammen.«
Martin aß eine Semmel und hob die breiten Schultern.
»Du kennst doch den Spruch, dass Gegensätze sich anziehen, oder?«
»Aber diese Gegensätze sind einfach zu krass«, war seine Frau überzeugt. »Als ich gestern im Schlössl war, hab ich die Franziska dort getroffen. Sie ist ja auch eine geborene Brauneck und weitläufig mit unseren Braunecks verwandt. Die Baronin veranstaltet im Juni ein Benefizkonzert und hat mich gebeten, ihr bei der Organisation zu helfen. Und Franziska hat nur so zum Spaß ein Stück von Chopin gespielt. Das hättest du hören sollen! Es war ein echtes Erlebnis. Ich glaube, sie hätte Karriere als Pianistin machen können.«
»Wird sie denn bei dem Konzert auftreten?«
»Leider nein. Wir haben versucht, sie zu überreden. Aber sie ist viel zu zurückhaltend. Sie hasst die Vorstellung, sich in den Vordergrund zu spielen.«
»Soll ich sie nachher mal darauf ansprechen?«
»Ja, vielleicht wäre das keine schlechte Idee. Ich bin sicher, es würde ihr Spaß machen, sich an dem Konzert zu beteiligen. Sie traut sich nur nicht. Aber wenn ihr Lieblingsarzt ihr dazu rät, wird sie sich womöglich doch entschließen können.«
Dr. Burger grinste jungenhaft.
»Du meinst wohl ihr Halbgott in Weiß?«
»Im Ernst?« Sabine lachte wieder.
»Ich muss in die Praxis.« Bevor sie ihn weiter auslachen konnte, stahl er ihr noch rasch ein Busserl und war im nächsten Moment bereits aus der Stube geeilt.
»Und was sagst du dazu?«, fragte Sabine die kleine Laura, die der Neckerei der Eltern interessiert gelauscht hatte. Nun kündigte sich allerdings Ungemach in Form einer gefüllten Windel an.
Die junge Mutter erkannte dies sogleich an den dicken Gewitterwolken, die über der klaren Stirn der kleinen Laura aufzogen.
»Schon gut, das Problem entschärfen wir gleich«, beschloss sie und nahm die Kleine auf den Arm, die nun durchdringend ihren Unwillen kundtat. Sabine nahm es mit Humor. »Es scheint eher ein großes Problem zu sein, dann nichts wie zum Winkeltisch und an die Arbeit …«
***
Franziska Buchbinder wies die Küchenmägde an, alles fürs Mittagsmahl vorzubereiten.
»Nur den Braten rührt ihr mir net an, darum kümmere ich mich selbst«, schärfte sie den beiden ein, bevor sie das Haus verließ, um zu ihrem Arzttermin zu fahren.
Die Frau des Großbauern Vinzenz Buchbinder legte Wert darauf, in Haus und Garten alles im Griff zu haben. Obwohl ihre Herzkrankheit sie in letzter Zeit zwang, kürzerzutreten, fiel es ihr doch schwer, Haus- und Gartenarbeit zu delegieren.
Freilich wäre ihrem Mann das lieber gewesen. Er hatte sie schon zu Beginn ihrer Ehe gedrängt, die Arbeit den Bediensteten zu überlassen. Aber davon hatte Franziska damals nichts wissen wollen, und das war heutzutage nicht anders.
Die noch immer schöne, grazile Blondine Ende fünfzig stammte aus einer bodenständigen Tiroler Landadelsfamilie. Sie war mit einem halben Dutzend Geschwistern aufgewachsen und hatte schon als junges Madel gern in Haus und Garten geholfen. Die praktisch veranlagte Mutter hatte ihr alles beigebracht, was eine gute Bauersfrau wissen musste. Und als Franziska sich in den schneidigen Vinzenz Buchbinder aus Hochbrunn bei St. Christoph verliebt hatte, da waren die Eltern mit ihrer Wahl gleich einverstanden gewesen.
Vinzenz war damals der Jungbauer auf einem der schönsten und größten Höfe in der Gegend gewesen. Er hatte Franziska materiell alles bieten können. Und er war so vernarrt in sie gewesen, dass es sicher schien, er würde sie ein Leben lang auf Händen tragen. Doch leider war alles ein wenig anders gekommen.
Nachdem die erste Verliebtheit verflogen war, hatte Franziska ihre bessere Hälfte mit kritischeren Augen betrachtet und dabei wenig Schmeichelhaftes feststellen müssen.
Vinzenz war ein Angeber, ein Großkotz und Aufschneider. Er musste immer den schnellsten Sportwagen fahren, die teuersten Lederjanker tragen und seiner Frau die protzigsten Juwelen an den Finger stecken.
Nach der Geburt der beiden Kinder hatte er den Erbhof von seinen Eltern übernommen und seinen Ehrgeiz fortan darauf verlegt, der erfolgreichste Bauer im Tal zu werden. Freilich mussten seine Kinder die besten Noten heimbringen und die Familie stets wie aus dem Bilderbuch dastehen.
Franziska hatte irgendwann gemerkt, dass ihr Mann nur für die anderen lebte. Sein guter Ruf, die Bewunderung seiner Mitmenschen und nicht zuletzt auch ihr Neid waren für ihn das Wichtigste im Leben.
Immer wenn sie versuchte, daran etwas zu ändern, kam es zum Streit. Vinzenz stellte seine Prinzipien, seine Meinung und seine Ziele nie infrage. Und er gestattete das auch keinem anderen, nicht einmal seiner Frau.
Mittlerweile waren die Kinder erwachsen. Oliver, der Ältere, hatte sich zum tüchtigen Jungbauern gemausert. Vor zwei Jahren hatte er die bildhübsche und selbstbewusste Annemarie Klingler heimgeführt. Freilich hatte das Madel eine anständige Mitgift in die Ehe gebracht. Oliver wusste, dass sein Vater der Heirat sonst niemals zugestimmt hätte.
Obwohl er ein tüchtiger Bauer war und den großen Betrieb bestens im Griff hatte, behandelte sein Vater ihn noch immer wie ein unmündiges Kind. Jede Entscheidung musste der Alte absegnen, nicht einmal bei den kleinsten Details ließ er Oliver freie Hand. Hätte der Jungbauer nicht den ausgleichenden Charakter der Mutter geerbt, gewiss hätten Vater und Sohn sich ständig in den Haaren gelegen.
Auch so krachte es noch häufig genug zwischen ihnen, besonders seit Annemarie auf dem Erbhof lebte. Sie nahm kein Blatt vor den Mund und ließ sich von dem Gebrüll und dem Imponiergehabe ihres Schwiegervaters nicht einschüchtern.
Erst am Vorabend hatte sie dem Alten wieder verbissen kontra gegeben. Franziska litt unter dieser Missstimmung und den unerfreulichen Szenen, doch es gab nichts, was sie dagegen hätte tun können.
Manchmal beneidete sie ihre Tochter Lena, Olivers jüngere Schwester. Sie lebte seit Jahren in München, war ein erfolgreiches und international gefragtes Model und kam nur noch selten zu Besuch. Dabei hatte sie es daheim sehr viel besser gehabt als ihr Bruder, und das war von Anfang an so gewesen.
Lena war Vinzenz’ Lieblingskind, sein Ein und Alles. Er hatte seine Tochter vom ersten Moment an gnadenlos verwöhnt und sie stets und immer ihrem Bruder vorgezogen. Dass Lena trotzdem ein vernünftiger Mensch geworden war und kein verzogenes Biest, erschien ihrer Mutter beinahe wie ein Wunder. Schließlich hatte Vinzenz bei Lenas Erziehung einfach alles falsch gemacht, was möglich war. Und doch verstanden sich die Geschwister bis auf den heutigen Tag gut und waren beide wohlgeraten.
Franziska wollte eben das Haus verlassen, als ihr Mann aus seinem Arbeitszimmer trat.
»Wohin willst du?«, fragte er.
Sie blickte zu dem großen, stattlichen Mann mit dem dichten, ergrauten Haar und dem kecken Schnauz auf, der sie um gut einen Kopf überragte.