Der Mythos und die Politik - Herfried Münkler - E-Book

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Herfried Münkler

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Beschreibung

Über die Jahrtausende war der Mythos fester Bestandteil politischer Kommunikation - und noch heute erfüllt er eine entscheidende Funktion. Herfried Münkler zeigt, warum gerade das finanzkrisengeschüttelte Europa wieder Mythen braucht: Wo der Mythos fehlt, reduziert sich alles auf eine Kosten-Nutzen-Bilanz. Und die reicht dem politischen Handeln nicht als Fundament für wirklich große Herausforderungen und Entscheidungen.

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Veröffentlichungsjahr: 2014

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Leseprobe
Herfried Münkler
Der Mythos und die Politik
Campus Verlag Frankfurt/New York
Leseprobe
Über das Buch
Über die Jahrtausende war der Mythos fester Bestandteil politischer Kommunikation - und noch heute erfüllt er eine entscheidende Funktion. Herfried Münkler zeigt, warum gerade das finanzkrisengeschüttelte Europa wieder Mythen braucht: Wo der Mythos fehlt, reduziert sich alles auf eine Kosten-Nutzen-Bilanz. Und die reicht dem politischen Handeln nicht als Fundament für wirklich große Herausforderungen und Entscheidungen.
Dieses E-Book ist Teil der digitalen Reihe »Campus Kaleidoskop«. Erfahren Sie mehr auf www.campus.de/kaleidoskop
Über den Autor
Dr. Herfried Münkler ist Professor für politische Theorie und Ideengeschichte an der Humboldt-Universität Berlin.

[Leseprobe] Warum kommen politische Akteure nicht ohne sinnstiftende Erzählungen aus?

Herfried Münkler

Zwei Bezugnahmen auf den Mythos: Odysseus und Scipio Africanus

Die Erzählung der »Odyssee« führt uns zu einer spätabendlichen Lagerfeuerszene bei den Phäaken. Ein Fremder, den das Meer in der vergangenen Nacht an Land gespült hat und der von der Königstochter Nausikaa frühmorgens am Strand gefunden wurde, sitzt dabei. Man weiß nicht, wer er ist, und er hat sich bloß als Fremder (xenos) und Schiffbrüchiger vorgestellt. Die Abendgesellschaft lässt sich von einem Sänger unterhalten, einem, der allerhand Geschichten kolportiert und dabei auch einen Blick in die, wie wir heute sagen würden, Zeitgeschichte wirft. Im abgelegenen Land der Phäaken erfährt man auf diese Weise, was sich in »der Welt« tut und getan hat. Die Phäaken haben an diesem Geschehen selbst nicht aktiv teil: In ihrer Abstinenz gegenüber der »internationalen Politik« spiegelt sich das utopische Motiv der insularen Absenz vom großen Weltgeschehen. Es ist dies das Glück des Nichtinvolviertseins, das auch in Thomas Morus’ Erzählung von der Insel Utopia eine wichtige Rolle spielt. Weltgeschichte und internationale Politik würden die Idylle zerstören. Geschichtslosigkeit ist die Voraussetzung utopischen Lebens.
Auch das Phäakenland ist ein utopischer Ort: das zeigt sich beispielsweise in den Schiffen, die von selbst fahren und so das Autómaton-Motiv der Utopie aufnehmen. Also bekommt man von einem Sänger berichtet, was in der Welt geschieht oder geschehen ist – und natürlich ist dabei ein Thema der große Krieg, der um Troja stattgefunden hat. Es wird von den langen Kämpfen berichtet, den zahllosen gefallenen Helden, und vor allem wird erzählt, wie schließlich durch einen Trick des listigen Odysseus die Stadt doch noch von den Achäern erobert worden ist. Die unheroische Phäakengesellschaft lauscht dem voll Spannung, bis der König (bzw. Nausikaa, deren Interesse an dem Fremden ein wunderbares Beispiel für die Erotik des Geheimnisvollen ist) bemerkt, dass dem Fremden die Tränen übers Gesicht laufen. Man fragt ihn, warum er weine, und er antwortet: »Ich bin Odysseus«.
Es gibt viele Interpretationen für diesen schlagartigen, überraschenden Sprung aus der Narration in die Faktizität des Augenblicks, einen Sprung, der im Übrigen selbst im Medium der Narration stattfindet: Das Fremde im Eigenen, die Vergangenheit in der Gegenwart, der Sturz des Helden, insofern der gepriesene Sieger von Troja sich in dem Augenblick, da er sich als Odysseus zu erkennen gibt, in einen Flüchtling verwandelt, der nicht einmal eigene Kleider besaß, als ihn das Meer an Land geworfen hat; die Unberechenbarkeit des Schicksals, die im Zusammentreffen von dem Bericht des Sängers und der Geheimnispreisgabe des Fremden deutlich wird; schließlich die Erzählung, die wie durch eine imaginäre Tür in den Augenblick eintritt.
Mich interessiert hier jedoch die Selbstidentifikation des Helden: Der Schiffbrüchige hat, als er am Strand gefunden wurde, nicht gesagt, er sei der große Odysseus, der Sieger von Troja, ein von der Missgunst des Poseidon Verfolgter. Wieder einmal hat er sich nicht zu erkennen gegeben, hat er auf seine Nichtidentifizierbarkeit gesetzt. Das ist bei ihm eine Strategie, die er bereits in der Höhle des Riesen Polyphem angewandt hat, als er sich »Niemand« (oudeis) nannte. Aber auch beim ersten heimlichen Eindringen nach Troja hatte er auf Nichtidentifizierbarkeit gesetzt, als er als Bettler verkleidet durch einen Abwasserkanal nach Troja eindrang, um das Palladion der Göttin Athene aus der Stadt zu holen, das die Stadt bis dahin vor der Eroberung geschützt hatte.
Zu Odysseus’ Strategie der Nichtidentifizierbarkeit gehört auch die Kriegslist, das Spiel mit der Verwechslung, die Auflösung aller klaren Distinktionen, durch die Troja zu Fall gebracht wurde: Das große Pferd, das die Trojaner für das Zeichen ihres Sieges hielten, wurde zur Ursache ihrer Niederlage; bei dem, wovon sie meinten, es sei ein Symbol des Friedens, handelte es sich in Wahrheit um eine Eskalation des Krieges. Auch Odysseus‹ Rückkehr nach Ithaka erfolgt im Zeichen des Inkognito: Während der stolze Agamemnon, der mit Pauken und Trompeten nach Mykene heimkehrt, von seiner Frau Klytämnestra und deren Geliebten Aigisth ermordet wird, entgeht Odysseus allen Fallen und Hinterhalten, die ihm die Freier der Penelope gestellt haben, weil man ihn nicht erkennt. Indem er die Bedeutung des Nichtidentischen erkannt hat, hat Odysseus die Kriegführung revolutioniert.
Aber das ist an dem Abend im Phäakenland nicht der Punkt. Odysseus gibt sich hier zu erkennen, er lässt alle Vorsicht fahren: Er weint, er öffnet sich. Es gibt sich zu erkennen, als er sich erkannt weiß – nicht dass er Odysseus ist, sondern weil nach dem Bericht des Sängers klar ist, wer Odysseus ist, nämlich ein Held und Sieger – und kein Lügner und Betrüger, kein Kriegsverbrecher, was er nach den Ereignissen vor Troja und andernorts ja durchaus hatte erwarten müssen. Der Held Odysseus ist um seiner Identität willen auf den Mythos, auf die Erzählung angewiesen. Es ist die Erzählung bzw. der Bericht des Sängers, die ihn als Helden beglaubigt, die sein Sein als heroische Existenz verbürgt. Nicht so sehr die Individualisierung des Odysseus, wie einige Interpreten dieser Passagen gemeint haben, sondern vielmehr seine soziale Existenz als Held wird durch den Bericht des Sängers festgeschrieben.
Das Gegenmodell zu Odysseus ist das Märchen vom tapferen Schneiderlein: ob der stolzen Aufschrift auf dem Gürtel des Schneiders: »Sieben auf einen Streich«, glauben alle, er sei ein großer Krieger und Held und fürchten sich vor ihm. Die ordensähnliche Selbstdekoration führt freilich in die Irre, denn es waren keine wirklichen Gegner, die der Schneider erschlug, sondern bloß Fliegen, die ihn, da sie sich auf sein Marmeladebrot setzten, fortgesetzt geärgert hatten. Im Märchen vom tapferen Schneiderlein kommt indirekt eine Grundsorge des Helden zum Ausdruck: dass ihm keiner glaubt, wie stark und kampfgeübt seine Gegner waren. Dazu bedarf es des Zeugen, eines unabhängigen Dritten, der von dem Kampf berichtet. Erst als ein Dritter bestätigt hat, dass Odysseus ein Held ist, gibt sich Odysseus zu erkennen. Der Mythos ist für ihn ein Identitätsgarant. Es ist der Bericht des Sängers, durch den Odysseus’ Identität als Held beglaubigt wird.
Ganz anders ist das in dem historischen Bericht des Polybios, in dem dieser von der Eroberung Karthagos durch die Römer im dritten Punischen Krieg erzählt. Der griechische Historiker Polybios hat den römischen Feldherrn Scipio Africanus Minor auf diesem Feldzug begleitet, und er ist auch in seiner Nähe, als Karthago, die große Widersacherin Roms, erobert wird und brennt. Der Feldherr steht, wie Feldherrn dies zu tun pflegen, auf einem Hügel und betrachtet das Geschehen. Er ist allein und nicht, wie sonst, von Stabsoffizieren, Schreibern und Meldern umgeben. Er ist in sich versunken und denkt nach; Polybios, der zu seinem Freundeskreis gehört, möchte wissen, worüber der Feldherr nachsinnt. Als er an Scipio herantritt, sieht er, dass Scipio weint. Er weint im Augenblick seines Triumphes, da er die gefährlichste Feindin Roms politisch wie physisch ausgelöscht hat. Und Polybios hört, wie er aus der »Ilias« zitiert: »Einst wird fallen das hochgebaute Ilion, und dahinsinken das Volk des lanzenkundigen Königs«. – Man möchte meinen, dass sich das auf Karthago bezieht und also den Triumph des Feldherrn Scipio approbiert. Die Tränen wären dann Freudentränen gewesen. Polybios weiß es jedoch besser: Es sind Tränen der Trauer, denn Scipios denkt an seine Vaterstadt, an Rom, die irgendwann auch das Schicksal ereilen wird, das er, Scipio, hier und jetzt der Todfeindin Karthago bereitet hat.
Die historische Erzählung ist hier ein Blick in die Zukunft, eine Prognose mit mythischen Mitteln, denn die Prognose, die gemacht wird, beruht auf der dem Mythos eigenen Annahme einer Wiederholung des Geschehens, der Zyklizität oder Repetition der Geschichte. Der Mythos ist die Erzählung vom Schicksal, von einem Geschick, das alle irgendwann ereilen wird, von dem es kein Entkommen gibt. Der kluge, stoisch gebildete Scipio weiß darum. Das mythische Wissen um den Untergang Trojas verhindert hier Übermut und Leichtfertigkeit, denen der Feldherr im Augenblick seines Triumphes sonst leicht erliegen könnte. Der Mythos dämpft den Augenblick des Sieges und erdet den Sieger. Er wirkt als ein Anker der politischen Vernunft. Er gemahnt an das, was der Fall ist oder irgendwann der Fall sein wird. Wir können also sagen, im Mythos vollziehe sich Aufklärung, wie dies Horkheimer und Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung beschrieben haben. Die mythische Erzählung ist nicht das Gegenteil von Aufklärung, wie Unbedarfte notorisch meinen, sondern eine ihrer Varianten: Wo die Aufklärung mit argumentativen Mitteln arbeitet, verlässt sich der Mythos auf das Instrumentarium der Narration.
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Impressum
Erstmals veröffentlicht als Teil des Buches Sprache. Macht. Denken, herausgebeben vom Denkwerk Demokratie, erschienen 2014 im Campus Verlag, Frankfurt am Main.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Copyright © 2014 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln
Konvertierung in EPUB: Beltz Bad Langensalza
ISBN der Printausgabe: 978-3-593-50072-0
ISBN der EPUB-Ausgabe: 978-3-593-42930-4
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