Marx, Wagner, Nietzsche - Herfried Münkler - E-Book
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Herfried Münkler

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Beschreibung

Marx, Wagner, Nietzsche – diese drei Denker haben das 19. wie das 20. Jahrhundert tief beeinflusst. Als Zeitgenossen, die sich wechselseitig mit Verehrung, Ablehnung oder Ignoranz gegenüberstanden, prägten sie eine Zeit von enormer wissenschaftlicher Vielfalt und gesellschaftlicher Dynamik. Ihre Antagonismen und Widersprüche führen ins Herz der deutschen Entwicklung. Herfried Münkler folgt diesen drei faszinierenden Gestalten und ruft damit eine ganze Epoche wach. Er schildert die verblüffenden Parallelen im Leben von Marx und Wagner: die Beteiligung an der 1848er-Revolution, Flucht, Vertreibung und Exil, vielerlei Wirren und dann doch das Schaffen eines überragenden Werkes, die Bildung einer großen Anhängerschaft und die schwierige Verantwortung für das, was diese Anhängerschaft aus den Entwürfen gemacht hat. Nietzsche, der etwas Jüngere, ist dann ein philosophisches Ereignis, wie Marx prägt er Generationen. Alle drei sprengen die Konventionen der bürgerlichen Welt, erschaffen Neues – das aber dann zu einer anderen, unerwarteten Wirklichkeit wird: Das so vielversprechende, reiche deutsche 19. Jahrhundert geht über ins Zeitalter der Extreme, der politischen Katastrophen. – Ein aufregendes Buch über drei große Denker, die Signatur der modernen Welt und, nicht zuletzt, die Mentalität der Deutschen.

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Seitenzahl: 1037

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Herfried Münkler

Marx, Wagner, Nietzsche

Welt im Umbruch

 

 

 

Über dieses Buch

Marx, Wagner, Nietzsche – diese drei Denker haben das 19. wie das 20. Jahrhundert tief beeinflusst. Als Zeitgenossen, die sich wechselseitig mit Verehrung, Ablehnung oder Ignoranz gegenüberstanden, prägten sie eine Zeit von enormer wissenschaftlicher Vielfalt und gesellschaftlicher Dynamik. Ihre Antagonismen und Widersprüche führen ins Herz der deutschen Entwicklung. Herfried Münkler folgt diesen drei faszinierenden Gestalten und ruft damit eine ganze Epoche wach. Er schildert die verblüffenden Parallelen im Leben von Marx und Wagner: die Beteiligung an der 1848er-Revolution, Flucht, Vertreibung und Exil, vielerlei Wirren und dann doch das Schaffen eines überragenden Werkes, die Bildung einer großen Anhängerschaft und die schwierige Verantwortung für das, was diese Anhängerschaft aus den Entwürfen gemacht hat. Nietzsche, der etwas Jüngere, ist dann ein philosophisches Ereignis, wie Marx prägt er Generationen. Alle drei sprengen die Konventionen der bürgerlichen Welt, erschaffen Neues – das aber dann zu einer anderen, unerwarteten Wirklichkeit wird: Das so vielversprechende, reiche deutsche 19. Jahrhundert geht über ins Zeitalter der Extreme, der politischen Katastrophen. – Ein aufregendes Buch über drei große Denker, die Signatur der modernen Welt und, nicht zuletzt, die Mentalität der Deutschen.

Vita

Herfried Münkler, geboren 1951, ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Viele seiner Bücher gelten als Standardwerke, etwa «Die Deutschen und ihre Mythen» (2009), das mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, sowie «Der Große Krieg» (2013), «Die neuen Deutschen» (2016) und «Der Dreißigjährige Krieg» (2017), die alle monatelang auf der «Spiegel»-Bestsellerliste standen. Herfried Münkler wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Wissenschaftspreis der Aby-Warburg-Stiftung und dem Carl Friedrich von Siemens Fellowship. 

 

 

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2021

Copyright © 2021 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Frank Ortmann

Coverabbildung Lesser Ury (1861–1931), In den Zelten bei Nacht; van Ham/Saša Fuis, Köln/akg-images

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00860-1

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Inhaltsübersicht

Einleitung: Licht und Schatten

Kapitel 1 Nähe, Distanz, Abneigung

Marx auf der Reise nach Karlsbad

Eine uneingestandene Beschäftigung mit dem «Ring des Nibelungen»

Was wusste Wagner von Marx?

Friedrich Nietzsche in Bayreuth

Wagners Leiden an Bayreuth

Der lange Weg nach Bayreuth

Marx’ Distanz gegenüber Wagner, Nietzsches Trennung von Wagner

Kapitel 2 Die Wiedergeburt der Antike. Eine Kontroverse

Wagners Projekt einer Erneuerung der antiken Tragödie

Nietzsche über antike Tragödie und ihre «Wiedergeburt»

Marx’ Überzeugung vom definitiven Vergangensein der antiken Tragödie

Kapitel 3 Krankheit, Schulden, Selbstkritik: Hemmnisse bei der Arbeit, Leiden am Leben

Nietzsches Selbstdiagnose: Krankheit als Weg zur Gesundheit

Der Fluch der Karbunkel: Marx leidet

Probleme mit den Vätern

Stress, Depression und Leiblichkeit

Leben und Leiden

Schuld und Schulden bei Marx

Verschwenderischer Wagner, asketischer Nietzsche

Strategien der Selbstkritik

Kapitel 4 Gescheiterte Revolution, Gelungene Reichsgründung. Deutschland als politisch-kulturelle Projektionsfläche

Deutschland – aber was ist das?

Marx’ tiefsitzende und Wagners revisionsoffene Preußenfeindschaft

Engels’ geopolitische Analysen

Wagners großes Projekt: Politik auf ästhetischer Grundlage

Marx und Engels entdecken Bismarck

Wagners Antwort auf die Frage: «Was ist deutsch?»

Zwischen Hoffnung und Verachtung: Nietzsche und die Deutschen

1870/71

Kapitel 5 Zwischen Religionskritik und Religionsstiftung

«Durch den Feuer-Bach»

Der «Tod Gottes» und seine Folgen für den Menschen

Überfordert, redlich zu leben: die «letzten» und die «höheren Menschen»

Die ausweglose Verstrickung der Götter in ihrer eigenen Ordnung

Schleichende Rückkehr des Religiösen: Marx über den Fetischcharakter der Ware

Wagners Sorge um die Zukunft der Religion in einer areligiösen Welt

Wagners Arbeit an der Erlösung: von Jesus zu Parsifal

Die antagonistische Konstruktion des «Parsifal»

Erziehung zum Erlöser

Parsifals Enthaltsamkeit

Erlösung auch der Natur – aber wie?

Nietzsche über den Nutzen der Religion

Nietzsches fundamentale Kritik am Erlösungsgedanken

Kapitel 6 Analyse und Erzählung

Mythos und Logos I: Marx’ analytische Darstellungsweise

Mythos und Logos II: Nietzsches Zarathustra-Erzählung

Mythos und Logos III: Wagner über Volk und Mythos

Wagners Arbeit am Mythos I: «Der fliegende Holländer»

Wagners Arbeit am Mythos II: Antigone

Kleine Mythengalerie I: Prometheus

Kleine Mythengalerie II: Siegfried und Napoleon

Kapitel 7 Bourgeois, Proletarier, Mittelmässige: Drei Gesellschaftsanalysen

Grundzüge der Gesellschaftsanalyse

Marktökonomie versus Moralökonomie

Die Gesellschaft in Wagners «Ring»

Marx’ geschichtsphilosophische Aufladung von Bourgeoisie und Proletariat

Kleinbürger, Bauern, Lumpenbourgeois: die (zeitweilige) Verschiebung der Kräfteverhältnisse von der Stadt aufs Land

Louis Bonaparte und die Parzellenbauern

Lumpenproletariat und «white trash» in Marx’ Klassenanalyse

Nietzsches Respekt vor der gesellschaftlichen Mitte und seine Verachtung der Mittelmäßigen

Kapitel 8 Die europäischen Juden bei Marx, Wagner und Nietzsche

Grassierender Antisemitismus

Die Juden in Marx’ Kapitalismusanalyse

Alltagsantisemitismus bei Marx und Engels

Richard Wagners manifester Antisemitismus

Die Regenerationsschriften

Gibt es in Wagners Opern Judenkarikaturen?

Nietzsches Anti-Antisemitismus

Die europäische Führungsrolle der Juden

Die Juden als Urheber des «Sklavenaufstands in der Moral»

Kapitel 9 Das große Umsturzprojekt: Gesellschaft, Kunst und Werteordnung

Antibürgerliche Denker

Die Revolution als lehrreiches Ereignis I: Cola di Rienzo

Die Revolution als lehrreiches Ereignis II: die Pariser Commune

Marx’ Analyse der Pariser Commune I

Der Staat bei Marx, Wagner und Nietzsche

Marx’ Analyse der Commune II

Marx’ Revolutionierung des revolutionären Denkens: vom katastrophischen Umsturz zur strukturellen Umwälzung

Irland, Indien und Russland als Zündsteine der Revolution

Wagners Revolutionierung der Musik

Nietzsches stille Revolution: die Umwertung aller Werte

Nachspiel

Literatur

Dank

Bildnachweis

Einleitung: Licht und Schatten

Marx, Wagner, Nietzsche – zu ihnen allen sind intensive, große Debatten geführt worden. Entsprechend unüberschaubar ist die vorliegende Forschungsliteratur, die sich nicht nur mit dem jeweiligen Leben und Werk beschäftigt, sondern ebenso mit den Wirkungen auf das 20. Jahrhundert: Jeder der drei ragte auf seine Weise in seinem Gebiet heraus, in Gesellschaftstheorie, Musik und Philosophie, alle drei waren Sterne, die einen langen rotglühenden Schweif hinter sich herzogen, der immer noch am Funkeln ist beziehungsweise nach zwischenzeitlichem Verblassen im 21. Jahrhundert erneut zu funkeln begonnen hat. Offenbar ist so manches, was von ihnen behandelt und angestoßen wurde, nach wie vor oder auch von neuem relevant. Um es anzudeuten, ohne es auszuführen: Wagners Idee des Gesamtkunstwerks etwa für die Herangehensweise im Film und in aufeinanderfolgenden Staffeln von Serien, in denen auseinanderlaufende Erzählungen wechselnder Personen oder einschneidende Charakterwechsel der Protagonisten durch poetische wie musikalische Leitmotive zusammengehalten werden; Marx’ Gesellschaftsanalyse, nachdem die neoliberale Ära des Kapitalismus die alten Ungleichheiten erneuert und neue soziale Spaltungen hervorgebracht hat; Nietzsches Vorstellung von individueller Freiheit als Wille zum Ausleben der Bedürfnisse und Neigungen unter, wie viele meinen, ständig wachsenden massengesellschaftlichen Einschränkungen und Reglementierungen. Unverkennbar weisen diese Gegenwartsbezüge mitsamt der darin enthaltenen Kritik nicht in dieselbe Richtung – wie sie das auch zu Lebzeiten der drei nicht getan haben. In ihrer Zeit wie in unserer Gegenwart stehen sie für unterschiedliche Blickweisen auf Gesellschaft und Kultur. Das macht es so instruktiv und spannend, sie vergleichend zu betrachten.

Die gewaltige Wirkung, die Marx, aber auch Wagner[1] und Nietzsche[2] im 20. Jahrhundert hatten, der Umstand, dass sich politische und kulturelle Bewegungen nach ihnen benannt, dass sie Sichtweisen geprägt und Erwartungen gelenkt haben, macht die Beschäftigung mit ihnen freilich nicht einfacher. Sie müssen erst wieder aus den Überformungen gelöst werden, die sich im Gefolge der gleichnamigen Bewegungen und Sichtweisen an ihr Werk angelagert haben – aus dem Marxismus, dem wagnerisme (hier hat sich die französische Bezeichnung eingebürgert) und dem Nietzscheanismus als spezifische Lesart von Nietzsches Philosophie.

Dabei möchte ich der reichen, immer spezieller gewordenen Forschung[3] keine Einzelstudien hinzufügen, sondern die drei vergleichend betrachten, auf Ähnlichkeiten hin wie auch auf Unterschiede: Marx, Wagner und Nietzsche als Beobachter, Kritiker und Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts – ein Jahrhundert, das eines des Umbruchs war, und zwar stärker noch in mentaler als in materieller Hinsicht. Alle drei haben diesen Umbruch verfolgt, doch die Schlussfolgerungen, die sie daraus zogen, waren sehr unterschiedlich: Marx wollte den Umbruch nutzen, steuern und bestimmte Ziele erreichen; Wagner wollte ihn in großen Teilen rückgängig machen, um zu früheren Verhältnissen zurückzukehren, solchen zumal, die eher moralökonomisch geprägt waren, als dass sie den Gesetzen des Marktes unterlagen; Nietzsche dachte in noch weiter gespannten Zusammenhängen, und die «Umwertung aller Werte», auf die er hinauswollte, sollte zu einer vorchristlichen Werthaltung zurückführen.

Dies ist jedoch nur eine ungefähre, stark vereinfachende Richtungsanzeige, die der ausgeprägten Vieldeutigkeit im Denken von Marx, Wagner und Nietzsche nicht wirklich gerecht wird. Sie strebten das Genannte tatsächlich an, aber in mancher Hinsicht mitunter auch dessen Gegenteil oder zumindest etwas, das damit unvereinbar war. Keiner der drei ist leicht auszudeuten, lässt sich einfach über einen Kamm scheren.

 

Bei dem so eingeschlagenen Weg gibt es mehreres zu beachten, gewissermaßen als Leitplanken für das ganze Unternehmen. So ist – erstens – das Werk der drei zu großen Teilen unter Vermittlung von «Erben» auf die Nachwelt gekommen: Im Fall von Marx war es sein politischer Weggefährte und kongenialer Mitstreiter Friedrich Engels, der dafür sorgte, dass aus den disparaten Schriften, die Marx hinterließ, ein geschlossenes Werk geformt wurde.[4] Engels war in wissenschaftlicher Hinsicht weniger skrupulös als Marx, fügte mit leichter Hand zusammen, was sich für Marx nicht fügen wollte und was zu biegen er vermieden hatte. Ohne Engels wäre Marx womöglich nur einer der vielen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts geblieben, die sich an dieser Ära des Umbruchs abgearbeitet haben und zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen sind. Das heißt aber auch, dass Engels der Erste in einer langen Reihe von Interpreten war, die das Werk eindeutiger machten, als Marx es hinterlassen hatte. Ob er damit dessen Anliegen gerecht wurde, ist eine immer wieder kontrovers diskutierte Frage.

Bei Wagner kümmerte sich seine Frau Cosima darum, dass die zu Lebzeiten nur zweimal veranstalteten Festspiele zur alljährlichen Veranstaltung avancierten.[5] Sie hatte, zunächst als Privatsekretärin, dann als Ehefrau, einen Großteil des Briefwechsels übernommen und Wagner bei der Durchführung seines Riesenprojekts unterstützt. Wie Engels bei Marx war sie mit dem Vorhaben eng vertraut und dabei keineswegs nur eine «helfende Hand», sondern die treibende Kraft: Es mag dahingestellt bleiben, ob sie das Projekt der Festspiele gegen ihren zögernden, mitunter widerstrebenden Mann überhaupt erst durchgesetzt hat,[6] aber es steht außer Frage, dass ohne sie die Festspiele mit Wagners Tod zu Ende gewesen wären. Zugleich hat Cosima eine nahezu vollständige Zensur über Wagner ausgeübt und dafür gesorgt, dass lediglich das überliefert wurde, was sie überliefert wissen wollte. Das begann mit ihren Tagebüchern, in denen sie (nur) die ihr wichtigen Äußerungen Richard Wagners festhielt, und endete mit dem Verbrennen von Briefen, von denen sie nicht wollte, dass sie der Nachwelt bekannt wurden.[7]

Bei Nietzsche übernahm seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche die Werkedition, zusammen mit Heinrich Köselitz, von Nietzsche Peter Gast genannt, der ihm in den letzten Jahren wegen seiner gravierenden Sehschwäche ein unentbehrlicher Helfer gewesen war.[8] Köselitz/Gast gehörte zu den wenigen, die Nietzsches Handschrift lesen konnten, aber Elisabeth drängte ihn schon bald an den Rand und dirigierte das Editionsvorhaben allein. Elisabeth Förster-Nietzsche griff stark in das Werk ihres Bruders ein, ja verfälschte es regelrecht. Sie hat sich im buchstäblichen Sinn ihres Bruders bemächtigt, auch dadurch, dass sie das Nietzsche-Archiv in Weimar ausbaute und so entscheiden konnte, wer an Nietzsches Nachlass herankam und wer nicht.[9] Hat Cosima ihren Ehemann zensiert, so hat Elisabeth das Werk ihres Bruders den eigenen Vorstellungen angepasst und entsprechend «redigiert».

Das Werk der drei ist in den letzten Jahrzehnten neu erschlossen und in erheblich veränderter Form der Öffentlichkeit dargeboten worden – bei Marx und Nietzsche durch Neueditionen, die sich an wissenschaftlichen Standards orientieren, bei Wagner durch Neuinszenierungen auch und gerade in Bayreuth, also am Ort der Traditionswahrung selbst. Bei den Neueditionen sind die nachträglichen Bearbeitungen rückgängig oder zumindest sichtbar gemacht worden. Was zum Vorschein kam, war kein gänzlich anderes, aber doch deutlich verändertes Werk.

Bei Marx ist neben die noch in DDR-Zeiten fertiggestellte Ausgabe der Marx-Engels-Werke (MEW) die in Ostberlin und Moskau begonnene und seit 1993 an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften weitergeführte Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) getreten,[10] die zwar noch nicht abgeschlossen, aber recht weit fortgeschritten ist. Sie relativierte die zuvor herausgehobene Stellung des Kapitals insofern, als sie die ökonomischen Schriften von Marx (und Engels) in einer eigenen Abteilung zusammenfasste, wodurch das Kapital zu einem Schritt in der Arbeit an ökonomischen Fragen wurde.[11] Weiterhin präsentierte sie die von Marx hinterlassenen Fragmente zu den Bänden zwei und drei des Kapitals neben den von Engels fertiggestellten und veröffentlichten Fassungen, womit das partielle Scheitern, jedenfalls Ins-Stocken-Kommen des großen Vorhabens sichtbar gemacht wurde. Die Zweite Abteilung der Marx-Engels-Gesamtausgabe läuft auf eine «Entmonumentalisierung» des Kapitals hinaus. Auch die Begründungsschrift des Historischen Materialismus, die Deutsche Ideologie, ist das Produkt von Textkompilationen im 20. Jahrhundert: Marx und Engels hatten die Manuskripte im Rahmen zeitgenössischer Debatten verfasst, in denen sie unveröffentlicht blieben, später als Produkte der Selbstverständigung gewertet und der «nagenden Kritik der Mäuse» überlassen. Erst jüngst wurden diese Textfragmente in ihrer authentischen Form in der Marx-Engels-Gesamtausgabe ediert. Außerdem bietet diese Gesamtausgabe den ganzen Umfang von Marx’ ethnologischen Studien, mit denen sich die Frage verbindet, inwieweit darin eine Revision seiner zeitweise durchscheinenden deterministischen Sicht der Geschichte angelegt ist.[12] Die MEGA hat den zur Ikone erstarrten und ideologisch vernutzten Marx in den Kontext seiner Zeit gestellt und dadurch neu zugänglich gemacht.

Eine noch stärkere Revision hat die von Giorgio Colli und Mazzino Montinari herausgegebene Kritische Gesamtausgabe der Werke Friedrich Nietzsches nach sich gezogen,[13] auf deren Grundlage die heute weithin gebräuchliche Kritische Studienausgabe erstellt wurde. In ihr ist der von Elisabeth Förster-Nietzsche und Peter Gast zu Nietzsches Hauptwerk stilisierte Wille zur Macht ebenso verschwunden wie die von Alfred Baeumler aus dem Nachlass kondensierten zwei Bände Die Unschuld des Werdens, die beide im Wesentlichen Herausgeberprodukte waren.[14] Colli und Montinari nahmen damit das von Karl Schlechta bereits in den 1950er Jahren begonnene Projekt wieder auf, in dem Nietzsches Œuvre erstmals frei von den Verfälschungen seiner Schwester und ihrer Gehilfen präsentiert wurde.[15] An die Stelle einer angeblich im Willen zur Macht kulminierenden gedanklichen Entwicklung Nietzsches ist eine dreiteilige Periodisierung getreten: das Frühwerk, das wesentlich durch die Nähe zu Wagner bestimmt ist; die mittlere Phase, während der es Nietzsche in Anlehnung an die französische Moralistik um die Dekonstruktion des humanistischen Menschenbegriffs und seines Pathos geht; und schließlich die späten Schriften vom Zarathustra bis zur Götzen-Dämmerung, in denen sich Nietzsches Denken um die Selbstbehauptung des herausragenden Einzelnen in einer alles umschlingenden Masse dreht.

Der veränderte Blick auf Richard Wagner ist weniger das Ergebnis einer neuen Gesamtausgabe[16] als von Neuinszenierungen, unter denen nach wie vor die des Rings von Patrice Chéreau aus dem Jahr 1976 herausragt. Chéreau verlegte das mythische Geschehen ins 19. Jahrhundert und brachte die Götter als Repräsentanten einer Bourgeoisie auf die Bühne, die sich der Machtgier und Liebeslust wegen in Schulden stürzen, bis diese so groß sind, dass sie nur noch durch Verbrechen zurückgezahlt werden können. Das in einer germanischen Vorzeit angesiedelte mythische Geschehen wurde von Chéreau gründerzeitlich geerdet – und die Verschuldungskrisen der bürgerlichen Gesellschaft als das Geheimnis hinter Wagners mythischem Zauber sichtbar. Hatte Wagner die Zeitbezüge hinter sich lassen wollen, so wurde er von Chéreau energisch in diese zurückholt.[17] Die intellektuelle Rückgewinnung von Wagner und Nietzsche durch Neuinszenierungen, Neueditionen und Neuinterpretationen war, wie man sieht, kein wesentlich deutsches, sondern ein europäisches Projekt, bei dem Italiener und Franzosen eine herausgehobene Rolle gespielt haben.[18]

 

Das Gespräch zwischen Wagner, Marx und Nietzsche ist – zweitens – ein weitgehend imaginäres Gespräch, weil die drei, sieht man einmal von dem engen Kontakt zwischen Wagner und Nietzsche ab, der nach acht Jahren abrupt beendet wurde, kaum voneinander Kenntnis genommen haben. Marx hat sich einige Male über Wagner geäußert, Wagner über Marx hingegen nie, und Nietzsche hat sich weder mit Marx noch hat sich Marx mit Nietzsche auseinandergesetzt. Es kommt beim Vergleich also darauf an, Ereignisse und Entwicklungen zu identifizieren, die alle drei beschäftigt und zu denen sie sich mehr oder weniger dezidiert geäußert haben. Die Darstellung schreitet daher nicht von Lebensabschnitt zu Lebensabschnitt oder von einem historischen Ereignis zum nächsten voran, sondern umkreist die drei und setzt immer wieder von neuem an, um von Mal zu Mal näher an ihr Denken heranzukommen.

 

Es gibt – drittens – «Knoten», Punkte, in denen die Biographien von Marx, Wagner und Nietzsche ineinander verschlungen sind. Damit sind Ereignisse gemeint, die für alle drei von besonderer Bedeutung waren und bei denen sich ihre Lebensläufe kreuzten oder überschnitten: Der August 1876 etwa ist ein solcher «Knoten»; in Bayreuth fanden die ersten Festspiele statt, ein Höhepunkt in Wagners Künstlerleben, Nietzsche reiste aus Basel an, und Marx kam mit dem regionalen Rummel auf der Reise nach Karlsbad in Berührung, was er in einigen Briefen missmutig beschrieb. Auf andere Weise ist der Zeitraum vom Sommer 1870 bis zum Frühjahr 1871 ein solcher «Knoten», als Wagner von den Siegen der deutschen Truppen über die Franzosen euphorisiert war und in Phantasien der Zerstörung von Paris schwelgte, während Nietzsche sich freiwillig als Sanitäter den deutschen Truppen anschloss und nach einem Besuch auf dem Schlachtfeld von Wörth Schwerverwundete in die Heimat begleitete. Nach Basel zurückgekehrt, fürchtete er um das kulturelle Erbe Frankreichs im Louvre, das er durch den Aufstand der Pariser Commune bedroht glaubte. Von London aus wiederum kommentierte Marx die Kriegshandlungen und den Pariser Aufstand und bewertete beides mit Blick auf seine Revolutionserwartungen. Alle drei beobachten das Geschehen, alle drei beurteilen es unterschiedlich.

Etwas anders ist das bei der Revolution von 1848/49, an der Wagner und Marx aktiv beteiligt waren – Marx als Chefredakteur der Neuen Rheinischen Zeitung, als der er Politik mit journalistischen Mitteln zu machen suchte, Wagner, königlicher Hofkapellmeister, als gewaltbereiter Revolutionär auf den Dresdner Barrikaden; Nietzsche, ein auf dem Land aufwachsendes Kind im Alter von gerade vier Jahren, hat von all dem wenig mitbekommen. Die Revolution von 1848/49 wurde zu einem der großen Wendepunkte in Wagners und Marx’ Leben – beide gingen nach dem Scheitern der Revolution gezwungenermaßen ins Exil; für Nietzsches Biographie blieb sie folgenlos.

Ein weiterer «Knoten» ist beispielweise der Antisemitismus, mit dem alle drei zu tun hatten, als Gefolgsleute der aufkommenden Judenfeindschaft wie als deren Gegner. Aber auch hier ist die Sache nicht so einfach, wie sie sich auf den ersten Blick ausnimmt: Hatte der einer Rabbinerfamilie entstammende Marx eine antisemitische Grundeinstellung? Etwa so, wie der in einem protestantischen Pfarrhaus pietistisch erzogene Nietzsche eine christlich geprägte Welt grundlegend «umwerten» wollte? Stand Wagners Antisemitismus, an dem es keinen Zweifel gibt, unter opportunistischem Vorbehalt, wenn es um das Einsammeln von Geld für die Festspiele und die Beteiligung von Musikern und Sängern ging? Und wie verhält sich Nietzsches Vorstellung vom jüdischen Ursprung des «Sklavenaufstands in der Moral» zum dezidierten Anti-Antisemitismus im letzten Jahrzehnt seines aktiven Schaffens? Gerade an diesem «Knoten» zeigt sich die Vieldeutigkeit in den Stellungnahmen der drei zu den Fragen und Herausforderungen ihrer Zeit.

 

Viertens geht es zugleich um eine bestimmte Epoche. Die Lebenszeit von Wagner, Marx und Nietzsche fällt ins 19. Jahrhundert: Wagner wurde 1813 in Leipzig geboren, wenige Monate, bevor dort die für das politische Geschick Europas entscheidende Völkerschlacht stattfand, die das Ende von Napoleons Herrschaft über Europa besiegelte.[19] Dieses Ende sollte für das Leben von Wagner und Marx prägend sein, und Nietzsche hat das Scheitern Napoleons zuletzt als Unglücksfall für Europa angesehen. Für Marx, 1818 in Trier geboren, war Napoleons Niederlage bei Leipzig insofern bedeutsam, als die Stadt Trier mit dem gesamten linksrheinischen Gebiet nördlich des Hunsrücks im Wiener Kongress Preußen zugeschlagen wurde; andernfalls wäre er als Franzose zur Welt gekommen. Es war insofern naheliegend, einen Abschnitt Napoleon zu widmen, der in den Augen der drei eher etwas Prometheisches als etwas Dämonisches hatte.

Marx und Wagner starben im Jahr 1883, Wagner in Venedig, Marx in London. Wagners Bestattung, einschließlich der Überführung seines Sarges von Venedig über München nach Bayreuth, glich der eines Fürsten, während zu Marx’ Beerdigung nur eine Handvoll Personen kamen. Wagner war bei seinem Tod eine europäische Berühmtheit, Marx sollte das erst posthum werden. Das gilt erst recht für Nietzsche, wenn man seinen «intellektuellen Tod» Anfang Januar 1889 zum Maßstab nimmt und nicht seinen physischen: Dass sein Denken europaweit wahrgenommen wurde, hat der im Wahnsinn versunkene Nietzsche nicht mehr mitbekommen. Die Zeit bis zu seinem Tod hat er zunächst in der Psychiatrie von Jena, dann in der Obhut seiner Mutter und zuletzt in der seiner Schwester verbracht. Nietzsche, 1844 in Röcken bei Lützen geboren, also nahe einem der Schlachtfelder des Dreißigjährigen Krieges, starb im Jahr 1900. Elisabeth Förster-Nietzsche setzte alles daran, aus seiner Beerdigung in Röcken, ganz in der Nähe des Geburtshauses, ein dem neuen Ruhm des Philosophen angemessenes Ereignis zu machen.[20]

Alle drei waren also Menschen des 19. Jahrhunderts – aber wofür steht das 19. Jahrhundert? Der britische Historiker Eric Hobsbawm hat vom «langen 19. Jahrhundert» gesprochen,[21] das mit der Französischen Revolution begann und mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs endete. Andere haben den Anfang des 19. Jahrhunderts an die Amerikanische Revolution 1776 geknüpft und das Ende an die Russische Revolution 1917.[22] Welcher Datierung man auch immer folgt, das 19. Jahrhundert war jedenfalls eine Epoche der Revolutionen, die die politische Verfasstheit Europas und Nordamerikas grundlegend umgestalteten; es war zugleich eine Ära der Industrialisierung, die das Leben der Menschen in Westeuropa mindestens ebenso veränderte wie die politischen Revolutionen; und es war eine Zeit, in der die europäische Weltherrschaft, auch wenn man ihre Anfänge auf das 16. Jahrhundert festgelegt hat, sich erst richtig durchsetzte.[23]

Vermutlich hat es kaum eine Phase gegeben, in der «Erfahrungsraum» und «Erwartungshorizont»[24] so stark auseinanderklafften wie im 19. Jahrhundert. Es war eine Ära der Umwälzungen und der Verwandlung der Welt.[25] Die Erfahrung von Elend und Ausbeutung sowie massenhaftem Pauperismus, den weder gesellschaftliche Mildtätigkeit noch massenhafte Auswanderung zu lindern vermochten, wie sich das Hegel noch in seiner Rechtsphilosophie vorgestellt hatte,[26] stand neben der Vorstellung von der Wiederkehr des Goldenen Zeitalters, einer Zeit unbegrenzten Glücks der Menschheit. Diese konträren Erfahrungen konnten sowohl in der Perspektive des Niedergangs als auch der des Fortschritts gefasst werden. Wagner und Nietzsche begriffen den Umbruch als Niedergang, den sie aufhalten und umkehren wollten; Marx hingegen sah in ihm den Beginn eines nie dagewesenen Fortschritts, den es zu beschleunigen galt.

So wurde das 19. Jahrhundert zu einer Epoche des Umbruchs, in der sich auf der Grundlage unterschiedlicher Erfahrungen und Erwartungen politisch konträre Strömungen herausbildeten. Das Herkommen wurde als Richtmaß entthront, das Religiöse verlor an politisch-gesellschaftlicher Relevanz, die Theologie büßte ihre Rolle als Leitwissenschaft ein, und mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften verband sich das Versprechen einer bis dahin unvorstellbaren Beherrschbarkeit der Welt. Die entstehenden Sozialwissenschaften – von Henri de Saint-Simon über Auguste Comte bis Herbert Spencer – fügten alldem den Gedanken der Planbarkeit sozioökonomischer Abläufe hinzu. Dem Rausch unendlich vermehrter Optionen setzte Charles Darwin seine biologische Evolutionstheorie entgegen, in deren Licht die menschlichen Gestaltungsmöglichkeiten wieder zusammenschrumpften. Beides, die Vorstellung, dass alles möglich sei, und die, dass nahezu alles determiniert sei, spielte in der Ideenwelt von Marx, Wagner und Nietzsche eine wichtige Rolle; sowohl der Utopismus, die imaginierte Realisierung des Wünschbaren, als auch die Auseinandersetzung mit dem Darwinismus, einer auf dem Spiel des Zufalls begründeten Theorie der Evolution, lassen sich in ihren Werken finden.

 

Alle drei, Marx, Wagner und Nietzsche, haben versucht, sich auf dieses Jahrhundert einen Reim zu machen, seine Veränderungen auszuloten, die aus ihnen erwachsenen Perspektiven zu beschreiben und Träger der Entwicklung beziehungsweise Gestalter des Wandels zu finden. Man kann ihr Werk als permanente Auseinandersetzung mit der Unausgemachtheit des 19. Jahrhunderts begreifen. Dabei hat jeder von ihnen seine Sicht auf die eigene Gegenwart mehrfach geändert und frühere Bewertungen revidiert. So bleibt die Frage, was denn schließlich ihre «eigentliche» Sicht auf das 19. Jahrhundert gewesen sei. Für eine Antwort darauf ist meist eines ihrer Werke zum «Hauptwerk» stilisiert worden, bei Wagner der Ring, bei Marx das Kapital und bei Nietzsche der Zarathustra. Diesem Verfahren folgen die hier angestellten Überlegungen nicht. Das Denken der drei wird nicht auf ein bestimmtes Thema fokussiert oder verengt, sondern als Rundumblick behandelt, bei dem es freilich immer auch darum geht, was wahrgenommen wird und was nicht.

Dabei treten die Unterschiede deutlich hervor: Marx hat versucht, systematisch zu denken, wenngleich er selbst kein System geschaffen hat (das haben erst seine Epigonen getan); Nietzsche hat das System wie das Systematische seit Ende der 1870er Jahre strikt abgelehnt und das stilistisch in seiner Vorliebe für Aphorismen zum Ausdruck gebracht; Wagner schließlich hat mit den variierenden Leitmotiven, die das Geschehen auf der Bühne in große Zusammenhänge einbetten, eine Polyperspektivik entwickelt, die ebendieses Geschehen vielfältig ausdeutbar macht. Wie etwas wird oder geworden ist, hängt von dem Augenblick der Erzählung und der musikalischen Erinnerung sowie der jeweiligen Perspektive des Erzählenden ab. All das spricht gegen eine fokussierte Darstellung der drei. Sie werden hier nicht festgestellt und festgezurrt – und dementsprechend tauchen sie im Verlauf des Buches immer wieder als andere oder Veränderte auf. Es zeigen sich Dinge, die sie in einem anderen Licht erscheinen lassen, als wir sie üblicherweise sehen – oder sehen wollen. Durch die Parallelisierung geraten Marx, Wagner und Nietzsche in die Beleuchtung durch den je anderen, aber ebenso auch in dessen Schatten, und durch beides, Licht wie Schatten, können wir sie genauer und deutlicher erkennen.

Kapitel 1Nähe, Distanz, Abneigung

Marx auf der Reise nach Karlsbad

Mitte August 1876 war Marx auf einer Reise durch Deutschland, um in dem böhmischen Kurort Karlsbad sein Leberleiden behandeln zu lassen. Dort hatte er bereits in den beiden vorangegangenen Jahren gekurt, und das Mineralwasser, das literweise zu trinken ein zentraler Bestandteil der Kur war, hatte ihm offensichtlich gutgetan. Begleitet wurde er von seiner Tochter Eleanor, im Familien- und Freundeskreis «Tussy» genannt, die in Karlsbad ebenfalls Heilung von einigen Beschwerden suchte. Die Reise durch Deutschland war für Marx nicht ohne Risiko, denn er war, nachdem er 1845 die preußische Staatsbürgerschaft abgegeben hatte, ein Staatenloser, für den sich die preußische wie österreichische Geheimpolizei interessierte. Eleanor, von Geburt an britische Staatsbürgerin, war ein Schutz für ihren Vater, der 1874, vor seiner ersten Kur in Karlsbad, vergeblich um die britische Staatsbürgerschaft nachgesucht hatte.[1] Zur Behandlung von Marx’ Leberleiden gab es nach Auffassung der behandelnden Ärzte nichts Geeigneteres als eine Therapie mit dem Mineralwasser des Erzgebirges. Auch Louis Kugelmann, einer von Marx’ zuverlässigsten Anhängern in Deutschland, hatte ihm diese Reise nahegelegt – offenbar nicht ganz uneigennützig, denn er kurte selbst regelmäßig in Karlsbad und hoffte, Marx dort zu treffen.

Marx machte sich also dreimal nach Böhmen auf und beendete die Heilbehandlungen erst, als ihm die Reise durch Deutschland aufgrund der Bismarckschen Sozialistengesetze zu gefährlich wurde. Offenbar sagte ihm der Aufenthalt in Karlsbad zu – nicht nur wegen der therapeutischen Wirkung, sondern auch wegen des geselligen Lebens. Marx fühlte sich im Kreis der Kurenden sichtlich wohl, obgleich er die meisten von ihnen eigentlich als «philiströs» hätte verabscheuen müssen. In einem Brief an Engels spricht er einmal vom «Hamburg-Bremen-Hannoverschen Philisterpack», das ihn nicht losgelassen habe.[2] Die zwanglosen Gespräche, die er in der Karlsbader Gesellschaft führte, drehten sich nicht um Fragen der ökonomischen Theorie, die ihn in seinem Londoner Arbeitszimmer bedrängten, wenn er die ausstehenden Kapital-Bände fertigzustellen suchte, was regelmäßig die Furunkulose, an der er seit Jahren litt, zum Ausbruch brachte;[3] hier ging es vorwiegend um persönliche Erlebnisse und Erinnerungen, und das war ein integraler Bestandteil der Kur. In diesen Gesprächen entfaltete Marx einen kommunikativen Charme, den er durchaus besaß, der jedoch, sobald es um Fragen der «richtigen» Theorie ging, hinter seiner polemischen Leidenschaft verschwand. Vor allem in «Gesellschaft mit einer geistvollen, anmuthenden Frau», so berichtet ein Wiener Journalist über den Karlsbader Aufenthalt von 1875, «gibt Marx mit vollen Händen aus dem reichen wohl geordneten Schatz seiner Erinnerungen; mit Vorliebe lenkt er dann seine Schritte zurück in die Tage der Vergangenheit, als noch die Romantik ihr letztes freies Waldlied sang […] und Heine die noch tintenfeuchten Verse in seine Stube brachte».[4]

Neben Heine und den Erinnerungen an den persönlichen Umgang, den Marx mit ihm gepflegt hatte, dürfte auch Goethe, der ebenfalls häufiger in Karlsbad gekurt hatte, in den Unterhaltungen eine Rolle gespielt haben, zumal Marx eine Reihe seiner Gedichte aus dem Kopf rezitieren konnte.[5] Diese Gespräche waren für ihn eine angenehme Abwechslung vom streng reglementierten Kurbetrieb – «morgens um 5 Uhr oder halb 6 auf. Dann 6 Gläser nacheinander an verschiedenen Brunnen zu nehmen. Zwischen dem einen und dem folgenden Glase müssen wenigstens 15 Minuten liegen.»[6] Selbst die Begegnung mit Simon Deutsch, mit dem er sich in Paris einst heftig gestritten hatte, habe er in Karlsbad als «ganz angenehm» empfunden; «auch gruppierte sich bald die Hälfte der hiesigen medizinischen Fakultät [das Klinik- und Kurpersonal] um mich und meine Tochter; lauter für meinen hiesigen Zweck, wo man wenig denken und viel lachen muß, sehr passende Leute».[7]

Marx war erkennbar auf Unterhaltung aus – und nicht auf Disput. Umso mehr störte ihn deswegen Louis Kugelmann, der prompt zur selben Zeit mitsamt Frau dort kurte wie Marx mit Tochter «Tussy». Kugelmann sei ihm unerträglich geworden, schreibt er an Engels: «Aus Gemütlichkeit hatte er mir ein Zimmer zwischen den seinigen und Tussys gegeben, so das ich ihn genoss, nicht nur, wenn ich mit ihm zusammen, sondern auch [wegen der Hellhörigkeit der Zimmer] wenn ich allein war. Sein beständiges, in tiefer Stimme vorgetragnes, ernsthaftes Blechschwatzen trug ich mit Geduld; […] endlich aber brach meine Geduld, als er mich mit seinen häuslichen Szenen gar zu sehr ennuyierte. Dieser erzpedantische, bürgerlich-kleinkramige Philister bildet sich nämlich ein, seine Frau verstehe, begreife seine faustische, in höhere Weltanschauung machende Natur nicht, und quält das Dämchen, das ihm in jeder Hinsicht überlegen ist, auf das widrigste. Es kam daher zwischen uns zum Skandal; ich zog in eine höhere Etage, emanzipierte mich durchaus von ihm […], und [wir] söhnten uns erst vor seiner Abreise […] wieder aus.»[8]

Geht es um den Gesellschaftstheoretiker und politischen Aktivisten, treffen wir auf einen Mann, der keine sich bietende Polemik ausließ, Streit geradezu suchte, sich in ihn hineinsteigerte und sich schließlich in den vom Zaun gebrochenen Kontroversen verlor.[9] Der Polemiker Marx war kein allzu sympathischer Zeitgenosse, da man sich bei ihm nie sicher sein konnte, ob Auseinandersetzungen nicht immer weiter eskalierten. In Fragen der Wissenschaft war es ihm bitterernst. In den Karlsbader Kuren dagegen war er ganz anders, unterhaltsam und zumeist gut gelaunt, zumal wenn sich Frauen an der Unterhaltung beteiligten, die er, wie im Fall der Kugelmanns, gegen ihre sich überlegen dünkenden Ehemänner zu schützen wusste. Es war dies ein Marx, der einem Richard Wagner in angenehmer Gesellschaft ganz ähnlich war – wie sich die beiden auch ähnlich waren, wenn sie sich in einen vermeintlichen oder tatsächlichen Gegner verbissen.

Die Porträtaufnahme aus dem Jahre 1875, ein Jahr vor der letzten Reise nach Karlsbad, hat ikonischen Charakter: Sie zeigt das Oberhaupt einer politischen Bewegung mit revolutionärem Anspruch in bürgerlichem Gestus– vom Lehnstuhl bis zum Anzug. Der gewaltige Vollbart wiederum ist ein Zeichen der Distanz zur bürgerlichen Gesellschaft. Die ins Revers gesteckte rechte Hand präsentiert eine Lorgnette. Sie steht symbolisch dafür, dass Marx schärfer und tiefer sieht als andere. In der Bildmitte platziert und doch halb versteckt weist sie Marx als Gelehrten aus.

Als Marx im August 1876 mit seiner Tochter Eleanor auf dem Weg nach Karlsbad war, hatten sie vor, einen Rast- und Besichtigungstag in Nürnberg einzulegen, dem, wie Marx bemerkt, «Ursitz (höchst interessantem) des deutschen Knotentums»,[10] also der Handwerker und reisenden Gesellen. «Die Koffer wurden abgeladen, einem Mann mit einer Karre übergeben, der uns zum nächsten, gleich bei der Eisenbahn gelegenen Gasthof begleiten sollte. Aber in diesem Gasthof gab’s nur noch ein freies Zimmer, und zugleich kündete uns der Wirt die schauerliche Mär, daß wir schwerlich anderswo ein Unterkommen finden würden, indem die Stadt überschwemmt sei, teils infolge eines Müller- und Bäckerkongresses, teils durch Leute aus allen Weltteilen, die sich von dort zu dem Bayreuther Narrenfest des Staatsmusikanten Wagner begeben wollten.»[11] Da in Nürnberg keine Unterkunft mehr zu finden war, fuhren die beiden mit dem Zug weiter nach Weiden, wo sie aber erst sehr spät ankamen und ebenfalls sämtliche Gasthöfe belegt fanden, «so daß wir auf den harten Stühlen der Eisenbahnstation bis 4 Uhr morgens auszuharren hatten».[12] Obendrein machte ihnen die große Hitze zu schaffen. Endlich kamen sie in Karlsbad an, wo alles gut wurde. «Auch während der ganz heißen Tage [fand ich] mir altbekannte Waldschluchten», schreibt Marx, «wo es erträglich war. Tussychen, die während der Reise ziemlich leidend war, erholt sich hier zusehends, und auf mich wirkt Karlsbad wie immer wundervoll. Ich hatte während der letzten Monate Wiederbeginn des widerlichen Kopfdrucks, der jetzt schon wieder ganz verschwunden ist.»[13]

Es waren die ersten Wagner-Festspiele in Bayreuth, die für die Unannehmlichkeiten der beiden gesorgt hatten. Marx’ letzte Reise nach Karlsbad ist eine der wenigen Stellen, an denen er auf Wagner und dessen musikalisches Werk zu sprechen kommt – alles andere als wohlwollend, was sicherlich auch mit den durch die Festspielbesucher verursachten Anreiseproblemen zu tun hatte. Die Art, in der Marx sich über Wagner äußert, lässt darauf schließen, dass er ihm und seinem Projekt nicht zum ersten Mal begegnete. Mehr als zwanzig Jahre zuvor hatte ihm Wilhelm Pieper, ein junger Philologe, der wegen «revolutionären Umtrieben» aus Deutschland geflohen war und nun Marx als Sekretär zur Hand ging, einige Kompositionen Richard Wagners auf dem Klavier vorgespielt, und Marx hatte sich für diese Musik nicht erwärmen können. Er leide an Hämorrhoiden und sei dementsprechend übellaunig, schrieb er am 12. Februar 1856 an Engels – «dazu hat mir Pieper noch eben aus der Musik der Zukunft einiges vorgespielt».[14] Er resümiert: «C’est affreux und macht einem bange vor der Zukunft sammt ihrer Poesie-musik.»[15] – Marx’ ästhetische Präferenzen waren eher konservativ. Mit Wagners Musik konnte er sich nicht anfreunden, auch nicht zu einer Zeit, als Wagner noch kein «Staatsmusikant» war.

In Karlsbad kam das Gespräch immer wieder auf die in Bayreuth stattfindenden Festspiele. Missmutig fügt Marx einem Brief an Engels vom 19. August 1876 ein Postskriptum an: «Hier ist jetzt alles Zukunft seit dem Getrommel der Zukunftsmusik in Bayreuth.»[16] In einem Brief an seine Tochter Jenny («Jennychen») berichtet er Ende August dann über den Erfolg der Kur, einen zwischenzeitlichen Wetterumschwung, der die Hitzeperiode jäh beendet hatte, und neue Bekanntschaften, die er gemacht hatte, vorwiegend Personen aus dem Universitätsmilieu. Was dabei zur Sprache kam? «Allüberall wird man mit der Frage gequält: Was denken Sie von Wagner? Höchst charakteristisch für diesen neudeutsch-preußischen Reichsmusikanten: Er nebst Gattin (der von Bülow sich getrennt habenden), nebst Hahnrei Bülow, nebst ihnen gemeinschaftlichem Schwiegervater Liszt hausen in Bayreuth alle vier einträchtig zusammen, herzen, küssen und adorieren sich und lassen sich’s wohl sein. Bedenkt man nun außerdem, daß Liszt römischer Mönch und Madame Wagner (Cosima mit Vornamen) seine von Madame d’Agoult [die Mutter von Liszts Kindern] gewonnene ‹natürliche› Tochter ist – so kann man kaum einen besseren Operntext für Offenbach ersinnen als diese Familiengruppe mit ihren patriarchalischen Beziehungen. Es ließen sich die Begebenheiten dieser Gruppe – wie die Nibelungen – auch in einer Tetralogie darstellen.»[17]

Marx zeigt kein Interesse daran, die in Bayreuth aufgeführte Tetralogie zu erörtern und fertigt alle diesbezüglichen Nachfragen unter Verweis auf die verworrenen Familienbeziehungen Wagners mit mokanten Bemerkungen ab. Jacques Offenbach, in Köln geboren, reüssierte als Komponist im Frankreich des Zweiten Kaiserreichs; er hatte dort die Grand Opéra zur Operette weiterentwickelt, in der er die französische Gesellschaft während des Second Empire satirisch aufs Korn nahm. Offenbach solle sich, so Marx’ ironischer Vorschlag, der Wagnerschen Familienverhältnisse annehmen, bei denen er zweierlei heraushebt: dass Richard Wagner einem seiner frühesten Anhänger, dem Dirigenten Hans von Bülow, dessen Frau Cosima «ausgespannt» und mit ihr, während sie noch mit Bülow verheiratet war, zwei Kinder gezeugt hatte, und dass ebendiese Cosima eine uneheliche Tochter von Franz Liszt war, der inzwischen die niederen Weihen erhalten hatte und sich Abbé Liszt nannte. Marx hätte auch darauf verweisen können, dass er bereits im Kommunistischen Manifest, gegen die Vorstellungen gewandt, die Kommunismus mit «Weibergemeinschaft» gleichsetzten, das bourgeoise Familienleben wie folgt beschrieben hatte: «Unsere Bourgeois, nicht zufrieden damit, daß ihnen die Weiber und Töchter ihrer Proletarier zur Verfügung stehen, von der offiziellen Prostitution gar nicht zu sprechen, finden ein Hauptvergnügen darin, ihre Ehefrauen wechselseitig zu verführen.»[18]

Entgegen dem von ihm erweckten Eindruck war Marx offenbar jedoch nicht völlig desinteressiert an Wagners Ring-Projekt: Die Bemerkung, man könne die Liebes- und Sexualbeziehungen Wagners auch nach dem Vorbild der Nibelungen in einer Tetralogie auf die Bühne bringen, lässt vermuten, dass er sich mit dem Inhalt des Wagnerschen Werks beschäftigt hatte: mit Wotans ständigen Liebesaffären, aus denen eine ansehnliche Schar von Kindern hervorgeht, mit den Eifersuchtsszenen, die Wotans Gemahlin Fricka ihrem Mann liefert, mit Sieglindes Ehebruch mit Siegmund im Hause ihres Ehemanns Hunding, dem sie gegen ihren Willen angetraut wurde und den sie für diese Nacht mit Hilfe eines Schlaftrunks betäubt, und natürlich auch damit, dass es sich bei dem Liebesakt zwischen Siegmund und Sieglinde um Inzest handelt. Mit all dem muss Marx vertraut gewesen sein, sonst hätte er nicht auf die Tetralogiefähigkeit der in Bayreuth versammelten Richard und Cosima Wagner, Hans von Bülow und Franz Liszt anspielen können. Mehr wollte er über den Ring des Nibelungen und die darin verhandelten Probleme von Machtstreben und Rechtsbindung, Besitzdenken und Ausbeutung aber nicht sagen.

Eine uneingestandene Beschäftigung mit dem «Ring des Nibelungen»

War Marx eifersüchtig auf Wagners Erfolg? Auf den Umstand, dass dieser in aller Munde war, während er sich mit den eher bescheidenen Auflagen seiner Bücher, auch des Kapitals, an dem er mehr als zwei Jahrzehnte gearbeitet hatte, zufriedengeben musste? Das ist nicht auszuschließen. Eigentlich könnte man erwarten, dass sich Marx für Wagners Ring interessierte. Er dürfte in Karlsbad darauf angesprochen worden sein, dass Wotans Versuch, aus den Fallen herauszukommen, in die er sich durch Machtstreben, Besitzerstolz und Liebesgier hineinmanövriert hat, auf eine Kritik der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft hinausläuft, auf das Scheitern des Versuchs, mit gewaltsamen Mitteln die sozioökonomischen Verwicklungen aufzulösen, also auf die Erfolglosigkeit bonapartistischer Projekte, wie sie durch Napoleon III. verkörpert waren und auch von Bismarck praktiziert wurden – all das, wird man ihm gesagt haben, müsse ihn doch interessieren! Womöglich verbergen sich solche und ähnliche Fragen hinter Marx’ Bericht, wonach er «allüberall […] mit der Frage gequält [werde]: Was denken Sie von Wagner?»

Einige Monate nach der Kur schreibt er an Wilhelm Alexander Freund, mit dem er in Karlsbad Kontakt hatte. Gleich zu Beginn des Briefes spricht er die dort verbrachten Tage an, fragt im Auftrag seiner Tochter Eleanor nach dem Namen des Verfassers eines Werks über Shakespeare und kommt dann auf Wagner: «Die ‹Orientalische Frage› (die mit Revolution in Rußland enden wird, was immer der Ausgang des Kriegs gegen die Türken) und die Musterung der sozialdemokratischen Streitkräfte im Vaterland [gemeint sind die Reichstagswahlen vom 10. Januar 1877] werden den deutschen Kulturphilister wohl überzeugt haben, daß es noch wichtigere Dinge in der Welt gibt als Richard Wagners Zukunftsmusik.»[1] – «Noch wichtigere Dinge», das konnte nur heißen, dass man in Karlsbad über kaum etwas anderes als Wagners Festspiele in Bayreuth geredet hatte.

Die sich mit Wagner beschäftigen, bezeichnet Marx also als «Kulturphilister». Friedrich Nietzsche hatte den Begriff einige Jahre zuvor in der gegen David Friedrich Strauß gerichteten ersten Unzeitgemäßen Betrachtung verwendet,[2] was nicht heißen muss, dass Marx diese Schrift gekannt hat. Der Begriff des Philisters, den die Romantiker aus der Studentensprache übernommen hatten, um ihre Distanz zum ungebildeten, in seinen Tagesgeschäften aufgehenden Bürgertum zu markieren,[3] hatte große Verbreitung gefunden, aber die Verbindung von Philister und Kultur war eine Prägung Nietzsches.[4] Er hatte den Begriff benutzt, um eine, wie er meinte, in bürgerlichen Kreisen vorherrschende Aversion gegen die Philosophie Schopenhauers und das Werk Wagners mit einer invektiven Bezeichnung zu belegen.[5] Marx hätte dann kurzerhand die Stoßrichtung umgekehrt und den bei Nietzsche für Wagner Partei ergreifenden Begriff in eine Positionierung gegen Wagner verwandelt – ein Verfahren, dessen er sich häufiger bedient hat. Damit war die Wagner-Diskussion für ihn beendet.

Es gibt freilich einen Hinweis darauf, dass sich Marx auch danach noch mit Wagners Ring beschäftigt hat[6] – und zwar sehr viel eingehender, als das die bisher aufgeführten Belegstellen nahelegen. Unglücklicherweise handelt es sich bei dem Dokument um einen verlorenen Brief, von dem wir nur Kenntnis haben, weil Engels in seiner 1884, also nach Marx’ Tod, veröffentlichten Schrift Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates in einer Fußnote auf ihn eingegangen ist: «In einem Brief vom Frühjahr 1882», so Engels, «spricht Marx sich in den stärksten Ausdrücken aus über die im Wagnerschen Nibelungentext herrschende totale Verfälschung der Urzeit. ‹War es je erhört, dass der Bruder die Schwester bräutlich umfing?›»[7] Das von Engels wiedergegebene Marx-Zitat belegt, dass Marx mit dem Text von Wagners Ring vertraut war, auch das ironische Nachempfinden von Wagners Sprachgestus deutet darauf hin. Marx war mit dem Inhalt des Rings, hier der Walküre, überhaupt nicht einverstanden und hielt, so Engels, dagegen: «Diesen ihre Liebeshändel ganz in moderner Weise durch ein bißchen Blutschande pikanter machenden ‹Geilheitsgöttern› Wagners antwortet Marx: ‹In der Urzeit war die Schwester die Frau, und das war sittlich.›»[8]

In der vierten Auflage seines Ursprungs der Familie hat Engels diese Fußnote erweitert, indem er zunächst Einwände eines französischen Lesers gegen Marx’ Sicht referiert, diese dann zu widerlegen sucht und sich Marx mit dem Resümee anschließt, «daß zur Zeit der Entstehung der norwegischen Göttersagen die Geschwisterehe, wenigstens unter Göttern, noch keinen Abscheu erregte».[9] Damit wird noch einmal deutlich, worum es Marx bei seinem Einwand ging: Nicht dass Siegmund und Sieglinde eine inzestuöse Beziehung eingingen, sondern dass dies von Wagner als Verstoß gegen Recht und Ordnung dargestellt wurde, hat er Wagner als falsch angekreidet.

Offenbar hat Marx den Ring als einen an wissenschaftlichen Kriterien zu messenden Text gelesen – und nicht als Kunstwerk, Bearbeitung altnordischer Mythen, Kapitalismuskritik im Medium des Mythischen oder Ähnliches. Das zeigt seine grundsätzlich ablehnende, schon als «herumnörgelnd» zu bezeichnende Einstellung gegenüber Wagner und dessen Ring, denn Vergleichbares hätte er mit Blick auf den von ihm bewunderten Aischylos und dessen Orestie niemals geltend gemacht. Es spricht einiges dafür, dass Marx’ Sicht auf den «Mitrevolutionär» von 1848/49 durch Eifersucht auf dessen Erfolg und Ruhm getrübt war und dass er sich mit der gesellschafts- und kapitalismuskritischen Dimension des Rings nicht befassen wollte. Vielleicht hat er sich den Blick darauf systematisch verstellt, um sich die inhaltliche Auseinandersetzung, wie auch immer sie ausgefallen wäre, zu ersparen. Dass er mit Wagner als Komponist nichts anzufangen wusste und zu seiner Musik keinen Zugang fand, könnte dabei durchaus eine Rolle gespielt haben. Es mag aber auch sein, dass Marx hier – pars pro toto – die revolutionäre Komponente des Rings als bloßen Schein decouvrieren wollte: Im Inzest von Siegmund und Sieglinde, so das Argument, inszeniere Wagner einen revolutionären Bruch der Ordnung, der keiner gewesen sei, weil es die von Wagner unterstellte Ordnung so gar nicht gegeben habe. Wagners revolutionärer Gestus sei bloß ein auf Unterhaltung berechneter Schein: Geile Götter als gehobenes Vergnügen für ein philiströses Publikum, das ganz mit sich selbst beschäftigt war.

Was wusste Wagner von Marx?

Immerhin hat Marx sich über Wagner geäußert, während bei Wagner keine Äußerung über Marx und kein Hinweis auf eine wie auch immer geartete Kenntnisnahme zu finden ist. Freilich ist davon auszugehen, dass Wagner von Marx gehört hat – auch deswegen, weil er in seiner Dresdner Zeit von 1843 bis 1849 im «Literarischen Museum» verkehrte, wo Publikationen auslagen, in denen Marx veröffentlichte.[1] Möglich ist, dass Wagner den einzig erschienenen Band der von Arnold Ruge und Marx herausgegebenen Deutsch-Französischen Jahrbücher zur Kenntnis genommen hat und dort auf einen Artikel von Marx stieß, der ihn interessiert haben dürfte. Dem Musikwissenschaftler Eckart Kröplin sind ähnliche Formulierungen in Marx’ Artikel «Zur Judenfrage» und einigen Schriften und Briefen Wagners aus den 1850er Jahren aufgefallen.[2] Sollte Wagner wirklich die Deutsch-Französischen Jahrbücher in der Hand gehabt haben, so ist davon auszugehen, dass er gerade diesen Artikel – eine Rezension zweier Bücher von Bruno Bauer – gelesen hat, da ihn die darin behandelte Verbindung zwischen Juden und Kapitalismus in besonderem Maße beschäftigte. Aber es ist nicht sonderlich wahrscheinlich, dass ein Exemplar der Jahrbücher bis nach Dresden gelangt ist, da fast alle Bände bei dem Versuch, sie nach Deutschland zu schmuggeln, von der Polizei abgefangen wurden.[3] Mehr spräche dafür, dass Wagner die Jahrbücher, wenn überhaupt, erst im späteren Züricher Exil in die Hand bekommen hat.

Zu einem persönlichen Zusammentreffen mit Marx ist es jedenfalls nie gekommen. Anfang April 1842 verließ Wagner zusammen mit seiner Frau Minna Frankreich, wo er in Paris auch Umgang mit Heinrich Heine gepflegt und eine Reihe von Texten geschrieben hatte, die ganz in Heineschem Stil gehalten waren. Außerdem hatte er Heines Gedicht «Zwei Grenadiere» vertont – nicht besonders erfolgreich, Robert Schumanns Vertonung ist heute die sehr viel bekanntere.[4] Wagners zeitweilige Bewunderung für Heine ging so weit, dass er sich in den 1841 verfassten «Pariser Amüsements» und den «Pariser Berichten» an den Heineschen Kunstberichten aus Paris orientierte.[5] Marx traf erst im Oktober 1843 in Paris ein, wo er sogleich Kontakt zu Heine aufnahm – und so verpasste man sich um eineinhalb Jahre. Vor diesem Parisaufenthalt war Marx in Dresden gewesen, um dort den Schriftsteller Arnold Ruge zu besuchen; er hätte Wagner also treffen können, aber zu diesem Zeitpunkt gab es keinerlei Veranlassung dazu. Später ergab sich dann keine Gelegenheit mehr, da Marx seit August 1849 in London lebte und Wagner in Zürich; auch entwickelten sich die politischen Positionen der beiden in unterschiedliche Richtungen, man hatte nichts miteinander zu tun. Wären Marx in Nürnberg und Weiden nicht die Unannehmlichkeiten wegen der Bayreuther Festspiele widerfahren und wäre er nicht in Karlsbad in Unterhaltungen über Wagner hineingezogen worden, so würde sich wohl auch in seinem Œuvre keine Bemerkung über Wagner und dessen Werk finden.

Eine letzte Möglichkeit, durch die Wagner von Marx hätte Kenntnis erlangen können, ist noch zu erwähnen: gemeinsame Freunde und Bekannte, die dem einen vom andern berichten konnten – und das vermutlich auch getan haben, ohne dass es jedoch Niederschlag in Briefen und Aufzeichnungen gefunden hätte. Als Erster ist der dichtende Revolutionär Georg Herwegh zu nennen, der mit Marx und Ruge sowie den Ehefrauen der beiden über einige Monate in Paris eine Wohngemeinschaft bildete, die sich jedoch schon bald wegen Unstimmigkeiten zwischen den Frauen auflöste.[6] Herwegh, der auch danach den Kontakt mit Marx aufrechterhielt, traf Wagner häufig in Zürich und unternahm mit ihm ausgedehnte Wanderungen im Hochgebirge,[7] bei denen man vermutlich auch politische Fragen diskutierte. Es ist unwahrscheinlich, dass Herwegh dabei nicht auch auf Marx zu sprechen kam.

Ein anderer potenzieller Vermittler zwischen Marx und Wagner war der russische Anarchist Michail Bakunin, der sich mit Wagner gemeinsam in Dresden als Revolutionär hervorgetan hatte, anschließend inhaftiert und nach einiger Zeit an Russland ausgeliefert worden war; er floh aus der sibirischen Verbannung, kehrte nach Europa zurück und traf sich sowohl mit Wagner als auch mit Marx, mit dem er sich dann jedoch heillos zerstritt. Auch er hätte Wagner von Marx erzählen können, zumal er schon vor seinen Dresdner Aktivitäten mit Marx in engerem Kontakt gestanden hatte. Wenn er es tat, so hinterließ dies jedenfalls keine Spuren. Die Sätze des Redakteurs und Herausgebers der Bayreuther Blätter Hans von Wolzogen, die dieser wohl kaum ohne Zustimmung Wagners 1880 in seiner Zeitschrift veröffentlicht hätte, bleiben die einzige indirekte Äußerung Wagners zu Marx;[8] Wolzogen hatte sich gegen die «herrschende sozialistische Theorie […] des in England lebenden jüdischen Sozialpolitikers Marx» ausgesprochen.[9] Abgesehen davon, dass nach heutigem Sprachgebrauch die Bezeichnung «Sozialpolitiker» nicht auf Marx zutrifft, ist es die Herausstellung des «Jüdischen», die für die Bayreuther Wahrnehmung maßgeblich geworden ist. Der Antisemitismus von Richard und Cosima Wagner legte sich wie eine Folie über alles, was der Rede wert gewesen wäre,[10] und verhinderte, dass es zur Sprache kam.

Friedrich Nietzsche in Bayreuth

Im August 1876, als Marx in Nürnberg, Weiden und Karlsbad zu seinem Missbehagen mit den Bayreuther Festspielen konfrontiert wurde, weilte Nietzsche in Bayreuth und hielt es dort – am 23. Juli war er, von Basel kommend, eingetroffen – nicht lange aus. Er flüchtete ins nahegelegene Fichtelgebirge und anschließend in den Bayerischen Wald nach Klingenbrunn, um sich in ländlicher Zurückgezogenheit von der Nervenanspannung in Bayreuth zu erholen. Dann kehrte er aber doch wieder an den Festspielort zurück, besuchte den ersten Zyklus der Ring-Aufführung und litt physisch darunter mehr, als er ästhetisch erhoben wurde. Rasende Kopfschmerzen haben ihm die Besuche im Festspielhaus verdorben.[1] «Fast habe ich’s bereut!», so Nietzsche zwei Tage nach dem Eintreffen in Bayreuth an seine Schwester. «Denn bis jetzt war’s jämmerlich. Von Sonntag Mittag bis Montag Nacht Kopfschmerzen, heute Abspannung, ich kann die Feder gar nicht führen. Montag war ich in der Probe, es gefiel mir gar nicht und ich mußte hinaus.»[2] Eine Woche später: «Es geht nicht mit mir, das sehe ich ein! Fortwährender Kopfschmerz, obwohl noch nicht von der schlimmsten Art, und Mattigkeit. Gestern habe ich die Walküre nur in einem dunklen Raum mit anhören können; alles Sehen ist unmöglich! Ich sehne mich weg, es ist unsinnig, wenn ich bleibe. Mir graut vor jedem dieser langen Kunst-Abende.»[3]

Es gibt unterschiedliche Gründe, die man für Nietzsches Leiden an den Festspielen verantwortlich machen kann: zunächst seine extreme Wetterfühligkeit, die sich infolge der zu dieser Zeit im fränkisch-böhmischen Raum herrschenden Hitze, über die ja auch Marx klagte, sofort mit starken Kopfschmerzen bemerkbar machte. Im waldreichen Mittelgebirge trat schnell Besserung ein. Mit der Rückkehr nach Bayreuth waren die Kopfschmerzen wieder da. Dann aber auch die zunehmende Distanz zu Wagner. Im Herbst dieses Jahres trafen sie sich noch einmal in Sorrent, danach sollte es zu keiner weiteren Begegnung mehr kommen – nachdem Nietzsche in den Jahren zuvor die Wagners regelmäßig besucht hatte. Die Entfremdung hatte schon früher eingesetzt; der Bruch erfolgte jedoch erst im Herbst 1876.

Eine andere Erklärung hebt darauf ab, dass sich Nietzsche durch das Verhalten der beiden Wagners zurückgesetzt fühlte. Immerhin hatte er mit seiner Schrift Richard Wagner in Bayreuth den intellektuell gewichtigsten Beitrag zur Eröffnung der Festspiele geleistet. Anknüpfend an das Selbstverständnis der deutschen Klassik, wie es vornehmlich bei Goethe und Schiller zu finden war, wonach die Aufgabe der Deutschen nicht die Entfaltung von Macht, sondern die Erneuerung und Weiterentwicklung der Kultur sei,[4] hatte er die Wiedererstehung der hellenischen Kultur mit den Bayreuther Festspielen verbunden und Wagner mit dem griechischen Tragödiendichter Aischylos gleichgesetzt; zwischen ihnen gebe es «solche Nähen und Verwandtschaften, dass man fast handgreiflich an das sehr relative Wesen aller Zeitbegriffe gemahnt» werde.[5] Doch «der Geist der hellenischen Kultur [liege] in unendlicher Zerstreuung auf unserer Gegenwart»; was nottue, sei einer, der die Kraft besitze, die entferntesten Fäden zu erhaschen und miteinander zu verbinden – «nicht den gordischen Knoten der griechischen Kultur zu lösen, wie es [der Makedonenkönig] Alexander that, so dass seine Enden nach allen Weltrichtungen hin flatterten, sondern ihn zu binden, nachdem er gelöst war – das ist jetzt die Aufgabe. In Wagner erkenne ich einen solchen Gegen-Alexander.»[6] Bei aller Entfremdung von Wagner, die seit dessen Umzug von Tribschen nach Bayreuth bei Nietzsche entstanden war – das war ein kaum zu überbietender Ehrerweis.

Nietzsche wusste, dass er sich mit der Gleichsetzung von Wagner und Aischylos und der Bezeichnung Wagners als Gegen-Alexander in seiner Profession, der klassischen Philologie, nach seiner Schrift Die Geburt der Tragödie unmöglich gemacht hatte. Er hatte für Richard Wagner viel riskiert, und in diesem Sinne schrieb er an ihn: «Überlege ich, was ich diesmal gewagt habe, so wird mir hinterdrein schwindlig und befangen zu Muthe und es will mir wie dem Reiter auf dem Bodensee ergehen.»[7] Und an Cosima schrieb er zu derselben Zeit: «Denke ich an das zurück, was ich gewagt habe, so schließe ich die Augen und ein Grausen überkommt mich hinterdrein. Es ist fast als ob ich mich selber aufs Spiel gesetzt hätte.»[8]

Aber Nietzsche hatte mit seiner Schrift nicht nur selbst einiges riskiert, sondern auch Wagner und Bayreuth als Ort der Festspiele eine ungeheure Aufgabe zugewiesen. Im Rückblick kann man sagen, dass er damit Erwartungen weckte, an denen gemessen die Festspiele nur zum Fehlschlag werden konnten. Er hatte die Latte so hoch gelegt, dass die Aufführung des Rings dem nicht genügen konnte. Im ästhetischen Bereich spitzte er die kulturelle Erneuerung zu einer «Reformation des Theaters» zu, und in gesellschaftspolitischer Hinsicht ergänzte er: «Nun, damit wäre der moderne Mensch verändert und reformiert.»[9] Die Kunst, konzentriert auf den Ort Bayreuth und die beiden letzten Augustwochen des Jahres 1876, sollte der Hebel sein, mit dem der Mensch und die Gesellschaft grundlegend reformiert würden. Nietzsche hatte sich das freilich nicht selbständig ausgedacht, sondern dazu Äußerungen Wagners zusammengetragen und in systematischen Zusammenhang gebracht. Dementsprechend nervös war er, als er vor Semesterende in Basel abreiste, wo er eigentlich noch eine Woche seine Studenten hätte unterrichten müssen. Er scheint gespürt zu haben, dass die Kluft zwischen dem von ihm formulierten Anspruch und den tatsächlichen Möglichkeiten der Festspiele nicht zu schließen war. Beim ersten Zwischenaufenthalt der Anreise in Heidelberg stellten sich die quälenden Kopfschmerzen ein, die ihm dann den ganzen August über zu schaffen machten. Für sie war also keineswegs nur die Hitze verantwortlich.

Doch wie sehr auch immer Nietzsche mit seiner Schrift Wagner und sich selbst unter Druck gesetzt hatte – er durfte erwarten, dass er in Bayreuth als ein ganz besonderer Gast begrüßt und behandelt wurde: als derjenige, der Wagners eigenen Anspruch an das Vorhaben begriffen und, adressiert an die intellektuelle Elite Deutschlands, programmatisch formuliert hatte, als der Vor-Denker dessen, was hier nun nach langer Vorbereitungsphase zur Aufführung kam. Immerhin hatte Nietzsche bereits seine Reputation als Professor für klassische Philologie aufs Spiel gesetzt, als er in der Erstlingsschrift Die Geburt der Tragödie seine Vorstellung von der Differenz zwischen Apollinischem und Dionysischem mit dem Wagnerschen Projekt verbunden und damit hämische Bemerkungen seiner Fachkollegen geerntet hatte, allen voran die von Wilamowitz-Moellendorff, der Nietzsches Buch unter der Überschrift Zukunftsphilologie! abfertigte.[10]

Die Aufnahme von 1875 zeigt einen früh gealterten Nietzsche, gezeichnet von notorischen Kopfschmerzen, Überarbeitung und schweren Krankheiten. Die Basler Professur für klassische Philologie hat ihm nicht die erstrebte akademische Anerkennung verschafft, und die glückliche Zeit seiner regelmäßigen Besuche bei den Wagners in Tribschen ist seit deren Umzug nach Bayreuth vorbei. Der ungeschnittene Schnauzbart ist bereits Nietzsches Markenzeichen.

Nietzsche hatte in Wagners Projekt investiert, und Wagner hatte das honoriert, indem er Nietzsche zur Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhauses einlud und ihn damals stets an seiner Seite wünschte. Was Wagner am 22. Mai 1872, an seine Anhänger und Unterstützer gewandt, sagte, hat Nietzsche unmittelbar auf sich bezogen und gleich zu Beginn von Richard Wagner in Bayreuth in diesem Sinn zitiert – auch als Rechtfertigung dafür, dass er, Nietzsche, diesen programmatischen Text zur Eröffnung der Festspiele 1876 schrieb: «Nur Sie, sagte er damals, die Freunde meiner besonderen Kunst, meines eigensten Wirkens und Schaffens, hatte ich, um für meine Entwürfe mich an Theilnehmende zu wenden: nur um Ihre Mithülfe für mein Werk konnte ich Sie angehen, dieses Werk rein und unentstellt Denjenigen vorführen zu können, die meiner Kunst ihre ernstliche Geneigtheit bezeigten, trotzdem sie ihnen nur noch unrein und entstellt vorgeführt werden konnte.»[11] Nietzsche durfte mit Recht erwarten, dass er nun, da die Kunst rein und unentstellt vorgeführt werden sollte, abermals einen Platz in der Nähe Wagners und dessen Aufmerksamkeit erhalten würde.

Doch das war nicht der Fall. Nietzsche wurde als ein Besucher «unter ferner liefen» behandelt. Seit dem unmittelbar nach der Ankunft erfolgten Besuch in der Villa Wahnfried hatte er keinen direkten Kontakt mehr mit den Wagners, weder mit Richard noch mit Cosima. Beide waren mit anderem beschäftigt: er mit Organisationsaufgaben und der Arbeit mit Musikern und Sängern, Cosima mit den Repräsentationsaufgaben, die einem solchen Großereignis eigen waren. Der Journalist Wilhelm Marr, ein bekennender Wagnerianer,[12] fasste seine Beobachtungen in der Gartenlaube so zusammen: «Das Amt des ‹Repräsentierens› hat Frau Cosima […] übernommen. […] Sie hat ein merkwürdiges Talent, ein echt französisches Talent, jedermann irgend ein paar Worte zu sagen, über die man sich freut und ein Dutzend Gespräche auf einmal zu leiten. Aber man sieht es ihr an, daß sie ihr eigentliches Talent in den Kreisen der haute volée lieber erblickt, als in den Künstlerkreisen, und daß sie des Weihrauchs nicht entbehren kann. Man ist nicht ungalant, wenn man behauptet, sie sei auf ihren Mann mehr eitel als stolz.»[13]

Angesichts von Wagners Beanspruchung durch die Vorbereitung der Aufführungen wäre es an Cosima gewesen, sich um den sensiblen, leicht verletzlichen Nietzsche zu kümmern, zumal gerade sie zu ihm in den Luzerner Jahren ein enges Vertrauensverhältnis aufgebaut hatte. Aber sie hatte keine Zeit für Nietzsche und nahm die gesellschaftlichen Verpflichtungen wichtiger als die Sorge um den Freund, als den sie ihn eigentlich sah. Sie hatte sich bei ihm für die Zusendung von Richard Wagner in Bayreuth bedankt – «Ich verdanke Ihnen jetzt, theurer Freund, die einzige Erquickung und Erhebung, nächst den gewaltigen Kunsteindrücken», hatte sie am 11. Juli geschrieben, und Wagner selbst zwei Tage später: «Freund! Ihr Buch ist ungeheuer! – Wo haben Sie nur die Erfahrung von mir her? – Kommen Sie nun bald, und gewöhnen Sie sich durch die Proben an die Eindrücke!»[14] –, das musste genügen. Nietzsche genügte es nicht. Er fühlte sich zurückgesetzt, geradezu missachtet nach all dem, was er für das Zustandekommen der Festspiele getan hatte. Aber er war zu scheu und ängstlich, um sich seinerseits nach vorn zu drängen und sich den in der Villa Wahnfried versammelten Kreisen beizugesellen, zumal er nicht wusste, worüber er mit den dort Zusammengekommenen überhaupt hätte reden sollen. Die leichte Konversation, die Wagner glänzend beherrschte, war seine Sache nicht. Er wartete darauf, dass man ihn rief – aber man rief ihn nicht. Also floh er nach Klingenbrunn in den Bayerischen Wald.

Folgt man dieser Sicht, so waren die Kopfschmerzen für Nietzsche nur ein Anlass, um Bayreuth verlassen zu können, wo jeder Augenblick eine neuerliche Kränkung für ihn bereithielt. Von Klingenbrunn aus schrieb er an seine Schwester: «Ich muss alle Fassung zusammen nehmen, um die grenzenlose Enttäuschung dieses Sommers zu ertragen. Auch meine Freunde [gemeint sind wohl auch die Wagners] werde ich nicht sehen; es ist alles jetzt für mich Gift und Schaden. Der Ort Klingenbrunn ist sehr gut, tiefe Waldungen und Höhenluft, wie im Jura. Hier will ich bleiben, 10 Tage vielleicht, aber nicht wieder über Bayreuth [wo Elisabeth zwischenzeitlich eingetroffen war] zurückkehren; denn dazu wird es an Geld fehlen.»[15] Geld hin, Kopfschmerzen her – Nietzsche kehrte nach Bayreuth zurück, schließlich hatte er bis dahin ja nur Proben und nicht die Aufführung gesehen, und außerdem hatte sich für die Eintrittskarten, die er als Käufer eines Patronatsscheins erhalten hatte, kein Abnehmer gefunden. Nietzsche musste das Ereignis, dem er so entgegengefiebert hatte, selbst erleben – und er musste leiden. Es zog ihn zur Krankheit, wie es ihn nach Bayreuth zog.

Die Gesellschaft, die Nietzsche nach seiner Rückkehr dort antraf, ist die dritte Erklärung für sein Leiden an Bayreuth. In Richard Wagner in Bayreuth hatte er beschrieben, wie er den gegenwärtigen Kulturbetrieb wahrnahm, und damit ex negativo umrissen, was in Bayreuth anders sein sollte. «Seltsame Trübung des Urtheils», hatte er über die üblichen Besucher von Theater-, Konzert- und Opernaufführungen festgehalten, «schlecht verhehlte Sucht nach Ergötzlichkeit, nach Unterhaltung um jeden Preis, gelehrtenhafte Rücksichten, Wichtigthun und Schauspielerei mit dem Ernst der Kunst von Seiten der Ausführenden, brutale Gier nach Geldgewinn von Seiten der Unternehmenden, Hohlheit und Gedankenlosigkeit einer Gesellschaft, welche an das Volk nur soweit denkt, als es ihr nützt oder gefährlich ist, und Theater und Concerte besucht, ohne je dabei an Pflichten erinnert zu werden – diess alles zusammen bildet die dumpfe und verderbliche Luft unserer heutigen Kunstzustände: ist man aber erst so an dieselbe gewöhnt, wie es unsere Gebildeten sind, so wähnt man wohl, diese Luft zu seiner Gesundheit nöthig zu haben und befindet sich schlecht, wenn man, durch irgendeinen Zwang, ihrer zeitweilig entrathen muss.»[16]

Nietzsche traf bei seiner Rückkehr nach Bayreuth genau jene Gesellschaft an, die aus seiner Sicht ihre Krankheit für Gesundheit hielt und für diese Selbsttäuschung die Kunst brauchte. In einer ursprünglichen Variante von Ecce homo