Machtzerfall - Herfried Münkler - E-Book

Machtzerfall E-Book

Herfried Münkler

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Beschreibung

Als am 23. März amerikanische Panzerverbände südlich von Mainz über den Rhein vorstießen, war die Schlacht um die Festung Europa in ihr letztes Stadium getreten. Die deutsche Kapitulation war nur noch eine Frage der Zeit. Vier Tage zuvor hatte Hitler die totale Zerstörung sämtlicher Verkehrs-, Industrie- und Versorgungsanlagen befohlen; auf die Lebensgrundlagen des deutschen Volkes sollte keine Rücksicht mehr genommen werden. Da der Machtapparat des Regimes jedoch im Zerfall begriffen war, kamen Offiziere und Zivilisten zum Zuge, die im hereinbrechenden Chaos zu retten suchten, was noch zu retten war. Aufgrund der Materialien des Friedberger Stadtarchivs hat Herfried Münkler diese Ereignisse minutiös rekonstruiert. Aus Akten und Erinnerungen steigen gespenstische Szenen auf. Während die Bevölkerung die Vorräte des Heeresproviantamtes plündert, sitzen die meisten Offiziere wie gelähmt in ihrem Gefechtsstand und betrinken sich im Bewusstsein, dass fünfeinhalb Jahre Krieg sinnlos und vergeblich waren. Und während die Bevölkerung sich aller belastenden Requisiten in der Nacht zu erledigen sucht Orden, Uniformen, Hitlerporträts verschwinden in den Lehmgruben, setzen ein paar Fanatiker noch über die Kapitulation hinaus ihre Hoffnung in die versprochenen Wunderwaffen.

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Als am 23. März 1945 amerikanische Panzerverbände südlich von Mainz über den Rhein vorstießen, war die Schlacht um die »Festung Europa« in ihr letztes Stadium getreten. Die deutsche Kapitulation war nur noch eine Frage der Zeit. Vier Tage zuvor hatte Hitler die totale Zerstörung sämtlicher Verkehrs-, Industrie- und Versorgungsanlagen befohlen; auf die Lebensgrundlagen der Bevölkerung sollte keine Rücksicht mehr genommen werden. Da der Machtapparat des Regimes jedoch im Zerfall begriffen war, kamen Offiziere und Zivilisten zum Zuge, die im hereinbrechenden Chaos zu retten suchten, was noch zu retten war. Aufgrund der Materialien des Friedberger Stadtarchivs hat Herfried Münkler diese Ereignisse minutiös rekonstruiert. Aus Akten und Erinnerungen steigen gespenstische Szenen auf. Während die Bevölkerung die Vorräte des Heeresproviantamts plündert, sitzen die meisten Offiziere wie gelähmt in ihrem Gefechtsstand und betrinken sich im Bewusstsein, dass fünfeinhalb Jahre Krieg sinnlos und vergeblich waren. Und während sich die Bevölkerung aller belastenden Requisiten in der Nacht zu erledigen sucht, setzen ein paar Fanatiker immer noch Hoffnung in die versprochenen Wunderwaffen …

Herfried Münkler, geb. 1951 in Friedberg, Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie in Frankfurt am Main. 1981 Promotion über Machiavelli (EVA, 1982), Habilitation 1987. Seit 1992 Inhaber des Lehrstuhls für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zahlreiche Publikationen, u.a. »Über den Krieg« (2002), »Die neuen Kriege« (2002), »Imperien« (2005), »Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie« (2006), »Die Deutschen und ihre Mythen« (2008), »Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung« (2010), »Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918« (2013).

HERFRIED MÜNKLER

Machtzerfall

Die letzten Tage des Dritten Reichesdargestellt am Beispielder hessischen Kreisstadt Friedberg

E-Book (EPUB)

Erstausgabe Print: © EVA Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2005/ergänzte Ausgabe 2015

Alle Rechte vorbehalten.

CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg

EPUB: ISBN 978-3-86393-614-3

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeischeverlagsanstalt.de

Inhalt

Editorial zur Neuausgabe

Vorwort zur Neuauflage 2005

Vorwort

Ortsverteidigung

Bombenkrieg und Propaganda

Hauptmann Henrich

Sabotage der Verteidigung

Das Scheitern des Kapitulationsversuchs

Die Plünderung des Proviantamts

Der neue Kampfkommandant

Die Kapitulation

Der amerikanische Einmarsch

Belagerungszustand

Besatzungsalltag

»Liederliche Dirnen«

Zeittafel

Quellenverzeichnis

Editorial zur Neuausgabe

Dieses Buch ist vor dreißig Jahren geschrieben worden. Es ist dennoch nicht veraltet, weder in methodischer Hinsicht noch im Hinblick auf seine Fragestellung und die ihr zugrunde gelegten Hypothesen. Andererseits könnte dieses Buch heute nicht mehr so geschrieben werden, wie es vorliegt, da die meisten Zeitzeugen, die in den 1980er Jahren noch zur Verfügung standen und bei gezielten Nachfragen über ein insgesamt gutes Erinnerungsvermögen verfügten, nicht mehr am Leben sind. Die vier Jahrzehnte, die zwischen den beschriebenen Ereignissen in Friedberg und der Wetterau sowie ihrer damaligen Rekonstruktion und Darstellung lagen, waren der optimale Abstand: hinreichend, um die erforderliche Distanz zu haben, und nahe genug, um auf das Erinnerungsvermögen der Augenzeugen sowie einiger am Gang der Ereignisse aktiv Beteiligten zurückgreifen zu können.

Die frühen 1980er Jahre waren eine Hochzeit der oral history, der Wertschätzung mündlicher Erinnerung. Die Rekonstruktion der Kampfhandlungen in und um Friedberg, eines ersten gescheiterten Übergabeversuchs und der schließlich erfolgten Kapitulation war freilich nicht allein auf nachträgliche Befragungen und Interviews angewiesen, sondern es existierten Aufzeichnungen, die schon bald nach den fraglichen Ereignissen angefertigt worden waren. Dokumente und spätere Erinnerung konnten sich dadurch wechselseitig ergänzen und korrigieren. Zugleich war während der 1980er Jahre ein Interesse an der Lokalgeschichte entstanden, in der das große Geschehen durch das Brennglas kleiner, für den Ausgang des Gesamtgeschehens unbedeutender Orte betrachtet und beschrieben wurde. Was hier sichtbar wurde, war nicht die dämonische Faszination des NS-Regimes mit seinen nächtlichen Fackelzügen, seinen großen Aufmärschen und glänzenden Paraden, etwa in München, Nürnberg und Berlin, die wenige Jahre später in den späteren Fernsehdokumentationen das Bild des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland prägen sollten, sondern die kleinstädtische Banalität dieses Regimes, der die große Kulisse abging und in der darum viele Gesten und Reden grotesk und lächerlich erscheinen.

Freilich es gab auch in Friedberg, etwa in der Mitte zwischen Frankfurt und Gießen gelegen, fanatische Nazis, vor allem aber viele, die mitliefen und mittaten, so lange das für sie opportun war und sie sich auf der stärkeren Seite wähnten. In der Zeitspanne zwischen Anfang Januar und Ende März 1945, als die Stadt dann von US-Truppen eingenommen wurde, änderte sich dies, und Risse im Gefüge der Macht wurden sichtbar, bevor das ganze Gebäude schließlich in sich zusammenbrach. Diesen inneren Auflösungsprozess vor dem Zusammensturz wollte ich analysieren und beschreiben, und darauf bezieht sich auch der Buchtitel Machtzerfall. Dieser Prozess des Machtzerfalls zog sich über mehrere Monate hin; er begann mit den Selbstzweifeln der Offiziere in der Garnison, ob sie wirklich eine entschlossene Verteidigung der Stadt organisieren oder sich vielleicht doch auf eine schnelle Kapitulation vorbereiten sollten, und ging bis zur Zivilbevölkerung, die zunächst keine aktive Rolle im Geschehen spielte, sich offenbar aber von der Vorstellung eines Kampfes bis zum Untergang verabschiedet hatte, wie sich dann nicht nur im Heraushängen von Bettlaken als »weißen Fahnen« zeigte, sondern vor allem auch in der Plünderung des Proviantamts, eines staatlichen Lagers für Lebensmittel.

Beides, weiße Fahnen wie Plünderungen staatlicher Bestände durch die deutsche Bevölkerung, war im Westen, wo man es mit den Amerikanern zu tun hatte, eigentlich nichts Besonderes: Fast überall wurden weiße Fahnen gehisst und Vorräte geplündert, um sich auf »die Zeit danach« vorzubereiten. Melvin J. Laski, der im frühen April 1945 als Historiker der US-Armee nach Deutschland kam und sich über einige Woche im südhessischen Raum aufhielt, hat das in seinen kürzlich erschienenen Erinnerungen (Und alles war still. Deutsches Tagebuch 1945, Berlin 2014) eingehend beschrieben. Auch James Stern, der sich im Frühjahr und Sommer 1945 in Bad Nauheim, Darmstadt und Frankfurt aufgehalten hat, weiß ähnliches zu berichten (Die unsichtbaren Trümmer. Eine Reise im besetzten Deutschland, Frankfurt am Main 2004). Im hiesigen Fall ist es darüber hinaus möglich, den Zerfall der inneren Bindung an das Regime, die Erosion des Glaubens an Hitler, in allmählichem Fortschreiten zu beobachten und die Plünderung des Proviantamts als einen gleichsam kathartischen Vorgang zu beschreiben: in ihm löste sich mit einem Schlag die nationalsozialistische »Volksgemeinschaft« auf und verwandelte sich zurück in eine Menge von ihrem Eigeninteresse verpflichteten Einzelpersonen. So steht im Zentrum des Buches die These von der für einen kurzen Augenblick ausgelebten Anomie als psychologischem Wendepunkt in der inneren Einstellung vieler Menschen: Durch die Plünderung öffentlicher Vorräte wurden aus Personen, die den Zerfall des Regimes zu ertragen und hinzunehmen hatten, solche, die diesen Zerfall aktiv vorantrieben und ihn – freilich nur im kleinen und als solchen auch nicht beabsichtigt – vorantrieben.

Während es in Friedberg nach einigen Kampfhandlungen zur raschen Kapitulation kam, durchzogen abziehende SS-Verbände Wetterau und Vogelsberg und machten Jagd auf Personen, die sie der Desertation beschuldigten, oder ermordeten diejenigen, die nach offizieller Lesart des Regimes als »fremdrassig« galten. Michael Keller hat die am 26. März 1945 erfolgte Ermordung von 87 Personen, Gestapo-Häftlingen sowie einer größeren Gruppe russischer Fremdarbeiterinnen, in Hirzenhain, etwa dreißig Kilometer von Friedberg entfernt, detailliert rekonstruiert (»Die Sache mit den Russenweibern ist erledigt«, Friedberg 2000). Solche Einheiten waren während des Rückzugs der Wehrmachtsverbände überall unterwegs, und die beiden Kampfkommandanten Friedbergs, die eine schnelle Kapitulation der zur »Ortsverteidigung« vorgesehenen Stadt erwogen, wenn nicht gar planten, mussten jederzeit mit dem Eingreifen solcher Einheiten rechnen. Bei der Beurteilung ihres Handelns, das aus heutiger Sicht manchem als eher zögerlich und unentschlossen erscheinen mag, ist dies in Rechnung zu stellen. Was sich im Rückblick als das Naheliegende, ja Selbstverständliche ausnimmt, war es damals keineswegs, sondern die handelnden Personen mussten sich zu einem solchen Entschluss buchstäblich »durchringen«. Es war und ist ein Anliegen dieses Buches, diesen Prozess der Entscheidung und Entschlussfassung nachvollziehbar zu machen. Dass das Buch Machtzerfall dreißig Jahre nach seinem ersten Erscheinen nun in einer neuen Auflage der Hessischen Landeszentrale für Politische Bildung erneut erscheint, ist für mich eine Freude und Ehre zugleich.

Berlin, November 2014Herfried Münkler

Vorwort zur Neuauflage

Als ich Anfang der 1980er Jahre damit begann, das Kriegsende in meiner Heimatstadt Friedberg zu erforschen, war noch umstritten, ob das Ende des Zweiten Weltkriegs für die Deutschen vor allem eine Niederlage oder doch eher die Befreiung gewesen sei. Zwar hatte das sogenannte Wirtschaftswunder die meisten, mit denen ich damals Interviews über die Ereignisse des Jahres 1945 führte, zu einer prinzipiellen Anerkennung der Nachkriegsordnung gebracht, doch diese Anerkennung bestand gelegentlich nur aus einem dünnen Firnis, der sich seit Ende der 1950er Jahre gebildet hatte, als der Lebensstandard in Deutschland den der Vorkriegszeit und noch der ersten Kriegsjahre zu übertreffen begann. Der Rückblick auf die Ereignisse im Winter und Frühjahr 1945 war bei vielen der befragten Zeitzeugen noch von der Erinnerung an getötete Angehörige geprägt, und wenn es sich bei diesen um Kinder handelte, die bei amerikanischen Bombenangriffen auf Friedberg getötet worden waren, so war für die Betroffenen nichts ferner liegend als die Vorstellung einer Befreiung. Das hat sich mit dem Generationenwechsel, der seitdem stattgefunden hat, grundlegend geändert. Während des Vierteljahrhunderts, das seit Beginn meiner damaligen Recherchen vergangen ist, hat die Bezeichnung des Kriegsendes als Befreiung weithin Akzeptanz gefunden.

Für die offizielle politische Kultur der Bundesrepublik hat die große Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 eine tiefgreifende Veränderung bewirkt: In ihrem Gefolge wurde die Niederlage als Befreiung anerkannt, und damit kam es zu einer Selbstanerkennung der Bundesrepublik Deutschland, mit der auch deren Status als politisches Provisorium im Bewußtsein der Mehrheit ihrer Bürger schwand. Die Formel der politischen Selbstanerkennung, die auch über den Zusammenbruch der DDR im Herbst 1989 hinweg für das vereinigte Deutschland Bedeutung behielt, lautet: Weil die Deutschen sich nicht selbst zu befreien vermocht hatten, mußten sie von anderen befreit werden, und das ging nur auf dem Weg über die militärische Niederlage. Das ist eine geschichtspolitische Konstruktion, die den Gang der deutschen Geschichte retrospektiv in eine Ordnung bringt, mit der es sich individuell wie kollektiv leben läßt, auch wenn klar ist, daß die Alliierten den Krieg nicht geführt haben, um die Deutschen von ihrem »Führer« zu befreien, ja, daß sie diesen Krieg nicht einmal geführt haben, um die Opfer der Deutschen zu befreien. Die Befreiung der Deutschen und der von ihnen Unterjochten war ein nichtintendierter Nebeneffekt des Kriegsausgangs, der um so stärker ins Zentrum der geschichtspolitisch angeleiteten Erinnerung trat, je länger das Kriegsende zurücklag. Auf diese Weise wurden individuelles wie kollektives Ressentiment allmählich getilgt. In den zwanzig Jahren, die seit der Erstveröffentlichung des Machtzerfalls inzwischen vergangen sind, ist der Zweite Weltkrieg endgültig Geschichte geworden.

Wie wichtig und zugleich schwierig die Überwindung von aus Niederlagen erwachsenen Ressentiments ist, zeigt der vergleichende Blick auf Ereignisse unserer Tage: Die politische Führung der USA hatte gehofft, einen politischen Regimewechsel im Irak in ähnlicher Weise militärisch erzwingen zu können, wie ihr dies im Zweiten Weltkrieg in Deutschland und Japan gelungen war. Und sie glaubte, allen Grund zu dieser Annahme zu haben, war doch von vornherein klar, daß dies infolge der waffentechnischen Entwicklungen inzwischen mit viel weniger Opfern geschehen würde – sowohl an eigenen Soldaten als auch auf seiten der zu befreienden Zivilbevölkerung. Diese amerikanischen Erwartungen haben sich jedoch sehr schnell als Illusion erwiesen. Die Gründe dafür müssen hier nicht geklärt werden, aber gerade die vielfache Apostrophierung der Befreiung Deutschlands und Japans als Modell für die Befreiung des Iraks hat die Ereignisse im Winter und Frühjahr 1945 in einer Weise politisch aktuell werden lassen, wie man es sich vordem kaum hätte vorstellen können.

Tatsächlich gab es, wie auch die Lektüre dieses Buches deutlich macht, zunächst eine bemerkenswerte Reihe von Analogien und Übereinstimmungen. Ohne daß damit Hitler und Saddam gleichgesetzt werden sollen, beginnen diese Ähnlichkeiten damit, daß die vor der Niederlage Stehenden ein nach innen wie außen grausames, ohne jeden Zweifel verbrecherisches Regime getragen haben, das seine Nachbarn zuvor mit Krieg überzogen und gegen Teile der eigenen Bevölkerung ein brutales Gewaltregime errichtet hatte. Und sie reichen bis zu den Plünderungen, die in Deutschland wie im Irak im Augenblick des Machtzerfalls der alten Ordnung stattgefunden haben. Aber damit enden sie dann auch: Während nämlich die Plünderungen in Deutschland, wie hier ausführlich beschrieben wird, eine innere Verabschiedung der Beteiligten von der alten Ordnung, ein Dementi von Ehre und Opferbereitschaft und der Beginn einer neuen Sorge um sich selbst waren, haben nach allem, was wir darüber wissen, die Plünderungen im Irak dazu gedient, einem Teil der korrupten Elite des alten Regimes die materiellen Ressourcen zu verschaffen, die ihm auch nach dem Machtverlust ermöglichen sollten, das gewohnt aufwendige Leben weiterzuführen. Vergleichbares hat es im übrigen auch in Deutschland gegeben, nur daß hier die Funktionäre und Amtsträger des alten Regimes in aller Stille versucht haben, ihren zu nicht unerheblichen Teilen zusammengeraubten Besitz in Sicherheit zu bringen. Es waren also zweierlei Typen von Plünderung, die in Deutschland und im Irak nach dem Zusammenbruch des alten Regimes stattfanden, und deswegen war es auch ein Fehler der politischen und militärischen Führung der USA, im Irak ähnlich zu reagieren, wie sie dies in Deutschland im Frühjahr 1945 getan hatte: Während es in Deutschland sinnvoll gewesen war, die Plünderungen für einige Zeit hinzunehmen und nicht dagegen einzuschreiten, war dies im Irak ein verheerender politischer Fehler.

Der erste große Unterschied zwischen dem von den USA analogisierten Kriegsende in Deutschland und im Irak war jedoch der erstaunliche Fortbestand der administrativen Infrastruktur in Deutschland, während sich im Irak die alte Verwaltung innerhalb kürzester Zeit auflöste. Der amerikanische Stadtkommandant in Friedberg etwa hatte sein Amt gerade angetreten, als sich die Leiter der deutschen Behörden, vom Finanzamt bis zum Wasserwirtschaftsamt, bei ihm meldeten, um zu erfragen, ob und wie sie ihre Tätigkeit wieder aufnehmen sollten. Und selbst die deutsche Polizei versah wenige Tage nach Übergabe der Stadt wieder ihren Dienst – wenn zunächst auch ohne Schußwaffen. Der ordnungslose Zustand hatte nur wenige Tage, eigentlich nur ein paar Stunden gedauert. All dies war im Irak völlig anders.

Bevor daraus jedoch falsche Schlußfolgerungen hinsichtlich eines geordneten und nach den Regeln zivilisierter Kriegführung erfolgenden Kriegsendes in Deutschland im März und April 1945 gezogen werden, ist es erforderlich, den Blick auf Vorgänge zu werfen, die sich nahezu zeitgleich mit der weitgehend kampflosen Übergabe der Kreisstadt Friedberg in dem etwa dreißig Kilometer entfernten Städtchen Hirzenhain vollzogen: Hier verübte ein SS-Kommando einen Massenmord an vorwiegend osteuropäischen Zwangsarbeiterinnen, die sich dort in Gestapo-Haft befanden. In der Nacht vom 25. auf den 26. März wurden 81 Frauen und 6 Männer erschossen und in einem Massengrab verscharrt, das sie tags zuvor selbst ausgehoben hatten. Michael Keller hat die Vor- und Nachgeschichte dieses Massenmords in seinem Buch »Das mit den Russenweibern ist erledigt« (Friedberg/ Hessen 2000) minutiös aufgearbeitet. Erst wenn man die Ereignisse während der letzten Märztage 1945 in Friedberg und in Hirzenhain zusammennimmt, bekommt man ein umfassendes Bild vom Kriegsende in der Gegend zwischen Taunus und Vogelsberg nördlich von Frankfurt am Main.

Auch in Friedberg hat es überzeugte Nazis und fanatische Durchhaltekämpfer gegeben, nur daß sie hier nicht zum Zuge kamen. Das freilich hat mehrfach auf Messers Schneide gestanden. Ich habe, als ich vor zwanzig Jahren diese Vorgänge geschildert habe, versucht, das Exemplarische der Ereignisse deutlich werden zu lassen. An vielen Orten dürfte sich im Frühjahr 1945 ähnliches zugetragen haben, und man wird davon ausgehen können, daß nicht nur die Entscheidungsabläufe, sondern auch die Abwägungsprozesse in den Köpfen der Beteiligten ähnlich abgelaufen sind. Das war es auch, was mich beim Zusammentragen des Materials und schließlich bei der Niederschrift des Buches weit über das Interesse an einem Stück Geschichte meiner Heimatstadt hinaus beschäftigt hat: das Exemplarische der Vorgänge, bei denen, gleichsam wie in der Dramaturgie eines Schauspiels, unterschiedliche Charaktere in verschiedenen Rollen auftreten, Entscheidungen treffen oder in Nichtentscheidungen verharren und sich im nachhinein bemühen, die Folgen ihres Tuns und Unterlassens vor sich und anderen zu rechtfertigen.

Bei alledem hat die in den 1970er/80er Jahren dann so wichtig gewordene Frage, ob es sich um Niederlage oder Befreiung gehandelt habe, keine Rolle gespielt. Ich habe darum als Bezeichnung für das Rekonstruierte den Begriff »Machtzerfall« gewählt. Machtzerfall bleibt gegenüber den geschichtspolitisch eindeutigen Begriffen von Niederlage oder Befreiung in der Schwebe. Aber das genau war es, was ich aus dem Puzzle der unterschiedlichen Quellen rekonstruieren konnte: einen sich mit großer Geschwindigkeit vollziehenden Verfall nicht bloß der äußeren Machtstrukturen, sondern auch der inneren Bindung an diese Macht. Manche, die wenige Tage zuvor noch bereit gewesen waren, für den »Führer«, für Deutschland oder für das, was sie als ihre Aufgabe oder Ehre erachteten, zu sterben, wollten nun nichts als leben. Die Voraussetzung dafür aber war das Überleben jenes Augenblicks, in dem die Front das zur Ortsverteidigung vorgesehene Städtchen erreichte und sich entschied, ob es zur kampflosen Übergabe kam oder ob sich Kampfhandlungen entwickelten, die einen massiven amerikanischen Luftangriff zur Folge gehabt hätten. Die Stunden, in denen sich dies entschied, stehen im Mittelpunkt des Buches.

Nach Veröffentlichung des Buches im März 1985 haben sich einige Zeitzeugen bei mir gemeldet und ihren von mir nicht hinreichend gewürdigten Anteil am letztlich glimpflichen Ausgang der Ereignisse herauszustellen versucht. Darunter waren manche, die ich im Verlaufe meiner Recherchen angeschrieben und von denen ich zunächst keine Antwort erhalten hatte. Zeitweilig reproduzierten sich in der Recherche Konstellationen, wie sie auch während der zu recherchierenden Ereignisse vorgeherrscht hatten. Bei der Beantwortung meiner Fragen konnte ich drei Gruppen ausmachen: diejenigen, die mir antworteten und weiterführende Hinweise gaben; diejenigen, die »die ganze Fragerei« ablehnten oder doch mit Mißtrauen beobachteten und mir nach Kräften Schwierigkeiten bereiteten (bis hin zur fortgesetzten Drohung mit Strafanzeigen); und schließlich jene, die nur beobachteten, was sich da tat, und abwarteten, was als Ergebnis meiner Recherchen herauskommen und wie das Buch aufgenommen werden würde. Als dieses dann eine überaus freundliche und zustimmende Aufnahme fand, nicht nur bei den Rezensenten überregionaler Fachzeitschriften, sondern auch in Friedberg selbst, wollten die Letztgenannten natürlich dabeigewesen sein, und einige gaben mir zu verstehen, daß meine Darstellung schon darum unzutreffend sei, weil ihr eigener Anteil am Gang der Dinge darin nicht hinreichend gewürdigt worden sei.

Ich bin in den Monaten nach dem Erscheinen des Buches noch einmal allen Hinweisen und Anfragen nachgegangen, die womöglich hier und da zu einer anderen Akzentsetzung in der Darstellung hätten führen können. Dabei bin ich zu dem Ergebnis gelangt, daß ich auch im Wissen um die nachträglich eingegangenen Hinweise und Informationen zu demselben Ergebnis gelangt wäre. Deswegen kann das Buch nunmehr auch ohne jede inhaltliche oder formale Veränderung wieder aufgelegt werden. Bei den nach Erscheinen des Buches bei mir eingegangenen Hinweisen handelte es sich nämlich nicht um Informationen, die den äußeren Gang der Ereignisse betrafen, sondern um Einschätzungen des Handelns von Personen: Hatte Hauptmann Henrich, der erste Kampfkommandant der Stadt, tatsächlich von langer Hand eine kampflose Übergabe der Stadt vorbereitet oder hatte er bloß im nachhinein sein eher kopfloses Agieren beim Eintreffen der amerikanischen Panzerspitze als wohlbedachten Kapitulationsversuch dargestellt? Wer war an der Durchfahrt des amerikanischen Jeeps zum Gefechtsstand der deutschen Kampfkommandanten beteiligt bzw. hatte diese Fahrt ermöglicht? Und so weiter.

All dies waren Fragen, die bei der Niederschrift des Buches im Mittelpunkt meiner Überlegungen gestanden hatten. Diese Fragen ließen sich, das war mir schon bald klar geworden, nicht mit letzter Sicherheit entscheiden. Plausibilitätserwägungen und Einschätzungen mußten hier letztlich an die Stelle sicheren Faktenwissens treten. Ich hatte vor und während der Niederschrift diese Erwägungen und Einschätzungen mehrfach mit Zeitzeugen besprochen, Alternativen erwogen und war schließlich zu dem Ergebnis gelangt, daß sich die Vorgänge so, wie ich sie beschrieb, entwickelt haben mußten. Daran hat sich auch aus heutiger Sicht nichts geändert.

Was sich dagegen verändert hat, ist nicht nur die allgemeine Wahrnehmung und politische Beurteilung des Kriegsendes in Deutschland, sondern auch das verfügbare Wissen über den Verlauf des amerikanischen Vorstoßes, den Zerfall der deutschen Wehrmacht und die ersten Monate des alliierten Besatzungsregimes. Zu nennen ist zunächst das umfangreiche Buch von Klaus-Dietmar Henke, Die amerikanische Besetzung Deutschlands (München 1985), das auf über tausend Seiten das Kriegsende im Westen Deutschlands untersucht. Wer sich, angeregt durch die Lektüre des Machtzerfalls, einen umfassenden Überblick verschaffen und den hier behandelten regionalen Ausschnitt in einen größeren Rahmen stellen will, sei auf diese Arbeit verwiesen. Ein noch breiteres Bild, nämlich das Europas in der Zeit von 1944 bis 1948, zeichnet der von Ulrich Herbert und Axel Schildt herausgegebene Sammelband Kriegsende in Europa. Vom Beginn des deutschen Machtzerfalls bis zur Stabilisierung der Nachkriegsordnung 1944–1948(Essen 1998). Und schließlich ist noch der im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes von Hans-Erich Volkmann herausgegebene Band Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkriegs (München/Zürich 1995) zu nennen. Vergleichbare Arbeiten waren Anfang der 1980er Jahre, als ich mit den Recherchen zum Kriegsende in Friedberg begann, nicht verfügbar. Insofern haben sich seitdem nicht nur die politische Einschätzung, sondern auch die wissenschaftliche Erkenntnis um das Kriegsende 1945 verändert.

Zur Wissens- und Einstellungsveränderung dürften mikrohistorische Arbeiten nicht nur den Anstoß, sondern auch entscheidende Beiträge geliefert haben. Was auf der makrohistorischen Ebene Geschichte ist, die uns gleichsam als Schicksal, also gegeben und unverfügbar, gegenübertritt, stellt sich bei der Betrachtung der Ereignisse im lokalen Rahmen gänzlich anders dar: Hier können wir das Handeln von Einzelpersonen beobachten, die Voraussetzungen und Folgen von Entscheidungen betrachten und uns vorstellen, was eingetreten wäre, wenn diese oder jene Entscheidung anders gefallen wäre. Hier werden Verantwortung und Verantwortlichkeit von in der Befehlskette relativ weit unten stehender Personen sichtbar. Das Ensemble der dramatis personae bleibt überschaubar, der Ort des Geschehens verändert sich nicht, und es gibt so etwas wie einen durchgängigen Handlungsstrang mit Anfang und Ende. Das sind, wenn man so will, die drei Einheitsforderungen der aristotelischen Dramentheorie, die Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Mikrohistorische Studien unterliegen darum immer der Gefahr einer Dramatisierung des Geschehens, die eher literarische als wissenschaftliche Qualität hat. Ich bin mir bei der Niederschrift des Machtzerfalls dieser Suggestionen bewußt gewesen und habe mich von ihnen soweit wie möglich freizuhalten versucht. Ob mir dies gelungen ist, muß einmal mehr der Leser beurteilen.

Berlin, Dezember 2004Herfried Münkler

Vorwort

Seit mehreren Jahren gibt es ein wachsendes Interesse, den Nationalsozialismus auch lokalhistorisch aufzuarbeiten. Dabei ist jene Normalität und Banalität des Systems sichtbar geworden, in der nicht fanfarenumrahmte Staatsaktionen und Parteiaufmärsche, sondern das Sammeln von Bucheckern, nicht Sondermeldungen, sondern die Aufrufe zum Verzehr von Eintopf einmal pro Woche das Bild des Regimes bestimmen. Hier fand sich der Bodensatz, auf dem die nationalsozialistische Herrschaft hatte errichtet werden können. Hier wurden die Wasserträger des Systems vorgeführt, die Blockwarte und Blockwartshelfer, ohne deren Bereitschaft und Einsatzwillen das System nicht hätte funktionieren können.

Und doch wollte nach 1945 kaum einer von ihnen gewußt haben, welchem Regime er gedient hatte. Dabei ist sicherlich viel an Verdrängungen, Entschuldigungen und Schutzbehauptungen mit im Spiel, aber ein Körnchen Wahrheit ist wohl auch daran: Aus der Perspektive derer, die den Nationalsozialismus »vor Ort« erfahren hatten, stellte er sich völlig anders dar als in den Augen derer, die die Türen zu den Lagern und Geheimarchiven öffneten. Woran sich die meisten der Befragten heute spontan erinnern, ist jene Alltäglichkeit des Nationalsozialismus, die zu seiner Herrschaft freilich ebenso gehört wie die Vernichtungslager und der Krieg. Tatsächlich hat der Nationalsozialismus »vor Ort« ein anderes Aussehen, als die Darstellung auf Grundlage seiner Proklamationen und Protokolle, seiner Taten und Untaten erwarten läßt. Das gilt auch für sein Ende: Es wurde nicht zur Götterdämmerung, in der die Welt in Blitz und Donner unterging, sondern es war ein langsamer, schleichender Machtzerfall.

Bei der Sicherung dieser Spuren stellte sich eine Reihe von Problemen: Viele Augenzeugen waren bereits verstorben, bei anderen hatte das Erinnerungsvermögen stark nachgelassen, und schließlich war die Erinnerung häufig überlagert durch das, was sich seitdem ereignet hatte: Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und Wiederaufrüstung. Ein und dasselbe Ereignis wurde während der Nazizeit oder kurz danach ganz anders erinnert als fünf Jahre später und wieder anders als dreißig bis vierzig Jahre danach.

Das vorliegende Buch gründet freilich nicht allein auf den Möglichkeiten der oral history, der Einvernahme von Augenzeugen, sondern es bedient sich ihrer nur als einer Quelle. Zunächst stützt es sich auf deutsche und amerikanische Zeitungen und Zeitschriften, soweit diese über die Vorgänge berichten, die sich im Frühjahr 1945 in der hessischen Kreisstadt Friedberg und ihrer Umgebung abgespielt haben. Vor allem aber beruht es auf den schriftlichen Berichten deutscher Soldaten und Zivilisten, die teilweise unmittelbar unter dem Eindruck der dargestellten Ereignisse, in der Regel aber Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre abgefaßt wurden. Die Befragung von Augenzeugen zu den Artikeln und Berichten sollte nicht nur die Kenntnis über die Vorgänge im Frühjahr 1945 in Friedberg vervollständigen, sondern eröffnete auch die Möglichkeit, unterschiedliche Ebenen der Erinnerung miteinander zu vergleichen und so ansatzweise etwas von der Verarbeitung des Nationalsozialismus und seines Zusammenbruchs in den Blick zu bekommen.

Die lokalhistorisch orientierten Untersuchungen zum Nationalsozialismus haben sich bisher fast ausschließlich auf dessen Aufstieg konzentriert, seinen Zusammenbruch dagegen weitgehend vernachlässigt. Dem Jahr 1933 vor allem galt das Interesse, auch noch der Zeit bis 1939, weniger den Kriegsjahren und kaum dem militärischen und politischen Ende des Regimes. Und doch ist das Jahr 1945 für eine lokal- wie regionalhistorische Aufarbeitung des Nationalsozialismus nicht weniger interessant als das Jahr 1933, tritt doch hier eine ganze Reihe von Problemen und Fragen wieder hervor, die mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus zur Macht verbunden sind: Der Anziehungskraft, die die NSDAP vor und nach 1933 auf Menschen ganz unterschiedlicher sozialer und politischer Herkunft ausgeübt hatte, entspricht nun die Distanzierung von der Partei, bei den einen früher, bei den anderen später. Die NSDAP zerfällt wieder in die Bestandteile, aus denen sie vor und nach 1933 amalgamiert worden ist.

Wie hat sich dieser Prozeß des Machtzerfalls abgespielt? War alles nur eine Machtfrage, etwa derart, daß man sich den Nazis anschloß, als sie im Aufstieg waren, und wieder absprang, als es bergab ging? War der Massenzulauf zur NSDAP nach den Reichstagswahlen im März 1933 nur eine Frage des Opportunismus oder der sozialen und wirtschaftlichen Ängste, wobei man nicht so genau darauf sah, wem man sich hier anschloß? Bei manchen war dies sicherlich der Fall, aber doch nicht bei allen. Viele fühlten sich auch von den Parolen angesprochen, von der Idee der Volksgemeinschaft etwa, von der Überwindung des Klassenkampfes oder von dem Versprechen, im Schoße des Deutschen Reiches Schutz und Geborgenheit zu finden. Das Ende erhellt hier den Anfang; die Motive, aus denen sich 1945 viele von der NSDAP distanzierten, werfen ein Licht auf die Gründe, aus denen sie sich zwölf Jahre zuvor der Partei angeschlossen hatten. Wie so oft ist auch hier der Machtzerfall ein Schlüssel zum Verständnis des Machterwerbs.

Das gilt in ähnlicher Weise für die Wehrmacht, deren Einheiten im Frühjahr 1945 wieder in die Bestandteile zerfielen, aus denen sie in den zurückliegenden Monaten und Jahren zusammengeschweißt worden waren. Verschiedentlich wurden jetzt Orden gegen Zigaretten getauscht, und die Uniform wurde heimlich abgelegt, um der Kriegsgefangenschaft zu entgehen. Die Einheitlichkeit des Militärischen löste sich auf, und die Unterschiedlichkeit der Individuen trat wieder zutage. Auch das war eine Form des Machtzerfalls.

Was sonst bei der Darstellung von zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft auseinanderfällt, kommt im Frühjahr 1945 zusammen: die Kriegsereignisse und die Funktionsweise des Regimes draußen und drinnen. Das Besondere des Frühjahrs 1945 ist, daß Front und Heimat jetzt eins werden und die verschiedenen Arme des Regimes auf engstem Raum ineinandergreifen. Wehrmacht, Partei, Bevölkerung – sie sind hier weder durch große Entfernungen noch durch unterschiedliche Aufgaben voneinander getrennt, sondern alle sitzen gewissermaßen im gleichen Boot. Auch die Parteiführer haben jetzt militärische Aufgaben übernommen, und die bisher noch nicht eingezogene männliche Bevölkerung ist zum Volkssturm einberufen worden. Doch gerade der Moment größter Vereinheitlichung schlägt um in den völligen Zerfall. Auch darin ist das Frühjahr 1945 paradigmatisch für die nationalsozialistische Herrschaft.

Wenn die Ereignisse des Frühjahrs 1945 vieles aus den Jahren vorher verständlich werden lassen, können sie dann vielleicht auch Aufschluß geben über die Zeit danach? Oder anders gefragt: Läßt sich vom Zusammenbruch des Nationalsozialismus her erklären, warum plötzlich so viele, die zuvor dafür empfänglich waren, nun nichts mehr damit zu tun haben wollten? Auf der Ebene des Reichs, von Hitler bis Himmler, von Goebbels bis Göring, kam das Verhalten der Parteigrößen einer Pervertierung ihrer Parolen und Appelle gleich. Das begann damit, daß die Lüge verbreitet wurde, Hitler sei an der Spitze der Truppen im Kampf gegen den Bolschewismus gefallen. Noch deutlicher zeigt sich der Widerspruch zwischen Realität und Propaganda auf der regionalen und lokalen Ebene, wo viele Gau- und Kreisleiter, die eben noch markige Durchhalteparolen ausgegeben hatten, bei Annäherung des Feindes flohen beziehungsweise desertierten. Das Verhalten der örtlichen Parteigrößen, so meine ich, hat entscheidend zur Desillusionierung der Bevölkerung und damit zur »Entnazifizierung« beigetragen.

Das Ende des nationalsozialistischen Regimes ist so gesehen nicht nur die Folge seiner militärischen Zerschlagung, sondern auch das Ergebnis eines inneren Machtzerfalls, der sich noch vor dem Einmarsch der Alliierten in das jeweilige Gebiet im Zusammenbruch der Institutionen und Hierarchien, aber auch in den Verhaltensweisen der Menschen aufzeigen läßt. Zuerst verlor das Regime seine Faszination, dann seinen Schrecken. Als Weltanschauung war der Nationalsozialismus aus den Köpfen der meisten verschwunden, bevor noch die offizielle Entnazifizierung begann.

Mit der zumindest in der Vorstellung schwindenden Präsenz des Regimes wurde vielen plötzlich klar, was sie an Opfern gebracht hatten: unbezahlte Arbeitsstunden, Teile des Vermögens, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit und nicht zuletzt das Leben von Angehörigen. Sich dieser Opfer als Opfer bewußt zu werden zwang jetzt, da der Rausch verflog, zur Entscheidung: Entweder waren die Opfer zu groß und das, wofür sie gebracht worden waren, war sie nicht wert, zumindest nicht wert, daß weitere und noch größere Opfer gebracht wurden, oder man klammerte sich um so fester an das zerfallende System, weil man sich die Sinnlosigkeit und Vergeblichkeit des Ganzen nicht eingestehen wollte, nicht eingestehen konnte.

Um dergleichen Bewußtwerdungen auf die Spur zu kommen, muß man sich zunächst auf die Perspektive der Beteiligten einlassen. Steht von vornherein fest, daß alles, was sie damals dachten und taten, moralisch schlecht und politisch unvernünftig war, dann ist es weder überraschend noch bemerkenswert, wenn sie schließlich zu Einsicht und Vernunft kamen. Unter solchen Prämissen hat der Sinneswandel alle Dramatik verloren, er ist selbstverständlich und seit langem überfällig, und wo er ausbleibt, kann man nur noch Dummheit konstatieren. Man muß sich aber auf die Ängste und Hoffnungen, die Erwartungen und Befürchtungen der Beteiligten selber einlassen, wenn man nachvollziehen und verstehen will, wie schwer oder leicht ihnen das Festhalten am Regime, die Distanzierung oder gar der Widerstand gefallen sind.

Eine reine sozialwissenschaftliche Analyse, die den Wandel der Strukturen über härtere oder weichere Daten zu erfassen sucht, etwa über die Quote der Desertionen aus der Truppe, über die Anzahl der gefallenen und verwundeten Soldaten pro Woche und Einheit oder über die Selbstmordrate unter der Zivilbevölkerung beim Einmarsch des Feindes, wird dies nicht leisten können. Sie mag statistisch mehr oder weniger präzise alle sozialwissenschaftlich relevanten Vorgänge für eine bestimmte Gegend und einen begrenzten Zeitraum festhalten, aber sie erfaßt das Handeln der Menschen doch nur von außen.

Demgegenüber muß der Versuch, die Handlungen und Entscheidungen der Beteiligten aus deren Motiven heraus zu verstehen, den Anspruch auf Vollständigkeit und Belegbarkeit aller Aussagen aufgeben; die eigentlichen Ziele sind dann Repräsentativität und Plausibilität. »Vielleicht«, »möglicherweise«, »allem Anschein nach«, »es steht zu vermuten« sind im vorliegenden Buch deshalb mehr als nur seitenfüllende Floskeln. Sie zeigen an, wo die Quellen des Verfassers versiegen und die Spekulation beginnt. Der Begriff der Spekulation wird von Historikern in der Regel pejorativ gebraucht: Er dient dazu, kritisch anzumerken, daß es sich hier um Aussagen handelt, die, mehr von der Subjektivität des Verfassers als von der Objektivität des Materials bestimmt, nicht in jeder Hinsicht abgesichert und eigentlich keine qualifizierten wissenschaftlichen Aussagen sind. Was man quellenmäßig nicht exakt belegen kann, davon muß man schweigen!

Die Folge ist, daß viele Untersuchungen dort enden, wo es eigentlich erst interessant wird. Nicht daß der Kampfkommandant von Friedberg die Verteidigung der Stadt für sinnlos hielt, ist aufregend, sondern warum er sie für sinnlos hielt. Nicht daß einer seiner Offiziere mit angelegter Maschinenpistole ihn an der Einwilligung in die Kapitulation hindern wollte, ist das Interessante, sondern warum er es tat. Eine Untersuchung, die auch den inneren Machtzerfall des nationalsozialistischen Systems zum Gegenstand hat, die schwindende Faszination und den schwindenden Schrecken des Regimes, wird vor spekulativen Aussagen nicht haltmachen können. Natürlich hat keiner der Offiziere in seinem Bericht zugegeben, daß er Angst hatte, aber es ist ganz unwahrscheinlich, daß wirklich keiner Angst gehabt haben sollte. Wo es um die Frage geht, ob der Kampf gegen einen übermächtigen Gegner aufgenommen oder ob kapituliert wird, muß auch über Angst gesprochen werden dürfen. Und natürlich hat 1983 keiner gesagt, er habe damals weiterkämpfen wollen, weil es ihm um Orden und Beförderungen gegangen sei, aber es steht außer Frage, daß dies bei denen, die kämpfen wollten, eine Rolle gespielt hat. Erschwerend kommt hinzu, daß die vorliegenden Berichte ausschließlich von denen stammen, die in irgendeiner Weise den Ablauf der Ereignisse beeinflußt haben, während diejenigen, die dem Geschehen nur ausgesetzt waren, keine Berichte geschrieben haben und sich 1983, als einige von ihnen befragt wurden, an Einzelheiten nur dunkel erinnern konnten.

Im Mittelpunkt des Buches stehen die Ereignisse, die sich im Frühjahr 1945 in Friedberg abgespielt haben. Aber es wird nicht nur der Ablauf der Ereignisse berichtet, sondern auch versucht, diese Ereignisse zu analysieren und die Motive der Handelnden zu ergründen. Dementsprechend werden Darstellung, Reflexion und Spekulation ineinander verschränkt. Der Ablauf der Ereignisse wird immer wieder angehalten, um das Berichtete noch einmal zu durchdringen: Inwieweit sind die Ereignisse charakteristisch, die Motive der Handelnden repräsentativ? Es wird versucht, das Typische herauszufiltern und festzuhalten, aber es wird auch deutlich gemacht, was sich nur unter diesen Umständen und nur so abspielen konnte, wie es sich eben im Frühjahr 1945 in Friedberg abgespielt hat. Durch die Ereignisse hindurch wird das Muster sichtbar, nach dem der Machtzerfall in vielen Städten des Deutschen Reichs damals stattgefunden hat.

Die Ereignisse, die sich im Frühjahr 1945 in Friedberg zugetragen haben, sind in mehreren Etappen rekonstruiert worden. Auf der Basis des im Friedberger Stadtarchiv vorhandenen Materials habe ich im April 1983 in der Wetterauer Zeitung, der Lokalpresse für den Kreis, eine dreiteilige Artikelserie veröffentlicht. Dabei habe ich mich auf die Darstellung der militärischen Ereignisse in Friedberg im März 1945 beschränkt. Diese Artikelserie war als Anstoß für diejenigen gedacht, die Weiteres berichten konnten. Tatsächlich trafen neue Informationen, Hinweise und Anregungen ein. Damit kam mir sicherlich zustatten, daß ich in Friedberg groß geworden bin und auch hier wohne. So erhielt ich manche Informationen, an die ein »Fremder« kaum gelangt wäre. Was sich auf den ersten Blick als Manko ausnehmen mag, daß ich die beschriebenen Ereignisse nicht selbst erlebt habe – ich wurde erst sechs Jahre später geboren –, stellte sich als ein Vorteil heraus: Ich fragte nämlich auch nach dem, was den Augenzeugen so selbstverständlich war, daß sie es von sich aus nicht der Erwähnung für wert hielten, aber in ihrem Erstaunen, daß dies für den Historiker interessant sein könnte, erinnerten sie sich längst entschwundener »Belanglosigkeiten«.*

Daß das Bild von der Ereignissen im Frühjahr 1945, von den Hoffnungen und Befürchtungen der Menschen immer dichter und farbiger wurde, dazu haben viele beigetragen: Zunächst ist Wilhelm Hans Braun zu nennen, der viele im Frühjahr 1945 in Friedberg eingesetzte Offiziere dazu veranlaßt hat, über ihre Erlebnisse zu berichten. Von 1949 bis 1953 hat er den Grundstock des Materials zusammengetragen, auf dem die Darstellung beruht. Mein Dank gilt weiterhin Michael Keller, dem Leiter des Wetterau-Museums und des Friedberger Stadtarchivs, der mir jederzeit den Zugang zu den Dokumenten ermöglicht, und Gertrud Thomas, die mir im Stadtarchiv bei der Suche nach weiterem Material geholfen hat. Mein Dank gilt den zahlreichen Gesprächspartnern, die in Interviews und Briefen geduldig meine Fragen beantwortet haben, Hinweise gaben, erzählten und oft mit Mühe sich das längst Vergessene wieder in die Erinnerung zurückriefen. Mein Dank gilt nicht zuletzt der Gemeinnützigen Stiftung der Kreissparkasse Friedberg, die meine Arbeit durch ein großzügiges Stipendium gefördert hat. Zu danken habe ich ferner all denen, die sich die Zeit genommen und die Mühe gemacht haben, das Manuskript in den verschiedenen Stadien seiner Entstehung zu lesen und zu kritisieren. Mein akademischer Lehrer Iring Fetscher und mein Vater Friedrich Münkler sind hier vor allen zu nennen. Sylva Stein, die das Manuskript getippt hat, war eine aufmerksame und kritische Leserin. Dank schulde ich auch den Teilnehmern der Tagung über »Politische Kulturforschung«, die von der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft Anfang April 1984 in Tutzing veranstaltet wurde und auf der ich meine Thesen zur Diskussion stellen konnte. Vor allem aber gilt mein Dank meiner Frau Marina Münkler, mit der ich die Ereignisse und die Motive der Beteiligten immer wieder besprochen und diskutiert habe. Ohne ihren kritischen Einspruch und ihre aufmunternde Hilfe wäre das Buch nicht entstanden. Ihr ist es gewidmet.

Friedberg, September 1984

*Auf der Grundlage der stark erweiterten Materialsammlung verfasste ich den Aufsatz »Friedberg im März 1945«, der in dem Band Von Schwarz-Weiß-Rot zum Hakenkreuz. Studien zur nationalsozialistischen Machtergreifung, zur Judenverfolgung und zum politisch-militärischen Zusammenbruch in Friedberg erschienen ist.

Ortsverteidigung

Ende Januar 1945 begann sich die militärische Lage des Deutschen Reichs dramatisch zu verschlechtern. Erstmals seit den napoleonischen Kriegen drangen kämpfende Truppen auf deutschen Boden vor, hatten die Kämpfe, im Osten wie im Westen, auf Reichsgebiet übergegriffen. Der Krieg, den Hitler der Welt aufgezwungen hatte, kehrte zu seinem Ursprungsort zurück.

Am 22. Januar, zehn Tage nach dem Beginn der sowjetischen Großoffensive in Ostpreußen und an der Weichsel, wurde im ganzen Reich und so auch in der oberhessischen Garnison Friedberg der Alarmplan »Gneisenau« ausgelöst. Die letzten Reserven des Reichs sollten mobilisiert werden, um die ins Wanken geratene Front zu stabilisieren. Stufe 1 des Alarmplans sah vor, neue Einheiten aufzustellen und der Front zuzuführen; Stufe 2, die in Friedberg Mitte März ausgelöst wurde, befahl die Einigelung und Ortsverteidigung der Stadt. Am 7. Februar, gut zwei Wochen nach Aufruf der 1. Alarmstufe, war Hauptmann Fred Henrich zum Kampfkommandanten von Friedberg bestimmt worden. Er hatte den Befehl, die Stadt »bis zum Äußersten« zu verteidigen.

Der Alarmplan »Gneisenau« sollte nicht nur materielle Reserven freisetzen, er sollte auch einen Mythos beschwören: die gemeinsame Verteidigung Kolbergs im Jahre 1807 durch den Soldaten Gneisenau und den Bürger Nettelbeck, die Einheit von Heer und Volk in der Abwehr des äußeren Feindes. »Gneisenau«, das sollte heißen: Widerstand auch unter dem Eindruck der Niederlagen, damit zuletzt doch noch der »End-Sieg« errungen würde.

Die Einheit von Heer und Volk war die letzte Hoffnung des nationalsozialistischen Regimes. Das Volk sollte dem Heer den Rücken stärken, damit sich 1918 nicht wiederhole. Daß 1918 der »Dolchstoß« der Heimat die Deutschen um den Sieg gebracht habe, hatten in der Weimarer Republik viele geglaubt. Wenn dem so war, dann kam jetzt alles auf die Heimat an.

Mitte Januar hielten SA-Standartenführer Riecke und NS-Kreisleiter Fleischhauer in Friedberg einen »Appell des Volkssturms« ab. Dabei hat Riecke, wie die Gießener Zeitung am 26. Januar berichtete, »alle Volkssturmmänner ermahnt, nach dem leuchtenden Vorbild unserer Helden an den Fronten unermüdlich an der eigenen körperlichen und weltanschaulichen Vervollkommnung zu arbeiten«. Danach appellierte Kreisleiter Fleischhauer an die Anwesenden, »stets eingedenk zu sein, daß das deutsche Volk gerade in ernsten Stunden sich stets seiner wahren Kraft bewußt wurde«. Fleischhauer schloß den Appell mit dem Hinweis, »daß alle Männer des Deutschen Volkssturmes stahlhart ihren Dienst versehen müßten, damit den vor den Toren des Reiches stehenden Feinden zum Bewußtsein kommt, daß das ganze Deutschland entschlossen ist, sein Leben bis zum letzten Mann zu verteidigen«.

»Du Volk, steh auf, und Sturm, brich los«, hatte Josef Goebbels, Minister für Volksaufklärung und Propaganda, ausgerufen. Den Volksempfängern, Volkswagen und Volkskühlschränken, mit denen das Dritte Reich seine Popularität bei den Volksgenossen gepflegt hatte, folgte nun die Rechnung: Volksgrenadierdivision, Volksmaschinenpistole, Volkssturm. Alte und Junge, Greise und Kinder sollten ihren im Heer kämpfenden Söhnen und Vätern zu Hilfe kommen. So stellte das Regime es dar. Nach über fünf Jahren Krieg, so versprach Goebbels, werde nun die Entscheidung fallen: an der Heimatfront.

Auch in der Garnisonsstadt Friedberg wurden nun alle fronttauglichen Soldaten aus ihren Ausbildungs- und Genesendenkompanien herausgezogen. Kranke wurden gesundgeschrieben, Rüstungsreklamierte eingezogen, Rückstellungen aufgehoben. Zwei Tage nach Aufruf des Alarmplans war die »Kampfgruppe Reineck« marschbereit. Bei starkem Schneetreiben wurde sie im Friedberger Bahnhof in einen Zug verladen, der sie an die – inzwischen gar nicht mehr so ferne – Ostfront bringen sollte.

Von den Amerikanern im Herbst 1944 abgeworfenes Flugblatt.

Für die Zivilbevölkerung in Friedberg hatte die Stufe 1 des Alarmplans »Gneisenau« zunächst keine einschneidenden Auswirkungen. Betroffen waren diejenigen, die zum 1. Aufgebot des Volkssturms gehörten, das für den überörtlichen Einsatz vorgesehen war. Dies waren alle kriegsverwendungsfähigen Männer der Jahrgänge 1884 bis 1924, die bislang als »unabkömmlich«, u.k., gegolten hatten, nun aber anscheinend doch »ohne Gefährdung lebenswichtiger Funktionen in Produktion und Verwaltung« aufgeboten werden konnten. Sie wurden zu einem der beiden »Volkssturmbataillone z.b.V. Hessen« einberufen. In Friedberg wurde die »Kampfgruppe Reineck« aufgestellt. »Dr. G.R. nach dem Osten in Marsch gesetzt«, notierte der Friedberger Gymnasiallehrer Ferdinand Dreher am 25. Januar in seinem Kriegstagebuch. Die meisten der an die Ostfront kommandierten Volkssturmmänner des Kreises Friedberg sind gefallen.

In Friedberg und Umgebung hatte sich seit Mitte Januar eine schwere Diphtherieepidemie ausgebreitet, und so kam zu der Angst um die eingezogenen Verwandten und Bekannten für viele noch die Sorge um die erkrankten Kinder. Dazu ständiger Luftalarm. Immer häufiger mußte man die Nächte im Keller verbringen. Auch die Versorgung mit Lebensmitteln hatte sich seit dem Sommer 1944 deutlich verschlechtert. Da Medikamente allmählich knapp wurden, konnten viele nur noch unzureichend behandelt werden. Vor allem Kinder sind an der Diphtherie gestorben. Die Epidemie zog sich von Mitte Januar bis Anfang März hin. Ältere Friedberger berichten, sie hätten sich an den Herbst 1918 erinnert gefühlt, als eine schwere Grippewelle in der Stadt viele Todesopfer gefordert habe. Damals sei ja auch Krieg gewesen …

Eine im nachhinein vorgenommene Parallelisierung von 1918 und 1945? Oder haben die Betreffenden schon zu Beginn des Jahres 1945 diese Parallele gesehen, Ausdruck ihrer Opposition zu dem offiziellen Bemühen, jede derartige Gleichsetzung zu unterbinden? Und wenn sie eine Parallele gesehen haben, haben sie dann nur an die epidemische Verbreitung der Krankheit gedacht oder weiter, an die bevorstehende Niederlage Deutschlands? Waren sie gar »abergläubisch« und sahen eine Verbindung zwischen Krieg und Seuche? So viel wird man sagen können: Kaum einer in Friedberg hat das Jahr 1945 so erlebt, wie es sich später in seinem Gedächtnis festgesetzt hat: als Neubeginn. Für die meisten bedeutete dieses Jahr eine weitere Steigerung der Angst, dann den Zusammenbruch des Reichs, für das man all die Opfer gebracht hatte, und schließlich die Sorge um den Lebensunterhalt.

Friedberg liegt auf einem leicht aus der Ebene aufsteigenden Basaltrükken am Rande der Wetterau, etwa in der Mitte zwischen Gießen und Frankfurt. Zwei Faktoren haben die Geschichte der Stadt bestimmt: die verkehrsgünstige Lage und die politisch und verwaltungstechnisch herausgehobene Stellung in einer der fruchtbarsten Landschaften Deutschlands. Bereits die Römer hatten, um ihre Eroberungen in Germanien zu sichern, auf der strategisch wichtigen Erhebung ein Kastell errichtet. Anfang des 13. Jahrhunderts wurde Friedberg erstmals urkundlich erwähnt, zunächst nur die Burg, wenige Jahre darauf auch die Stadt. Es dürfte eine staufische Doppelgründung gewesen sein.

Nach einer kurzen wirtschaftlichen Blüte ging es mit der Stadt Ende des 14. Jahrhunderts bergab. Formell blieb Friedberg zwar weiterhin Freie Reichsstadt, de facto aber wurde sie von der Burg beherrscht, die immer stärker in die städtischen Angelegenheiten eingriff. 1803 beziehungsweise 1806 endete die politische Selbständigkeit von Stadt und Burg; beide wurden der Landgrafschaft, dem späteren Großherzogtum Hessen, einverleibt. Friedberg wurde Kreisstadt, Verwaltungszentrum des südlichsten Kreises der Provinz Oberhessen. Am Ende der Weimarer Republik hatte der Kreis etwa 100000 Einwohner, von denen knapp ein Zehntel in der Kreisstadt wohnte.

Beamte, Handwerker, Kaufleute dominierten, und fast alle waren evangelisch; dazu kamen einige Arbeiter der im Osten der Stadt gelegenen Zuckerrübenfabrik und eine Reihe von Bahnbediensteten. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts war Friedberg Eisenbahnknotenpunkt an der Main-Weser-Bahn: Hier waren die Strecken von Nidda, Hungen, Hanau und Bad Homburg an die Bahnlinie Frankfurt–Kassel angeschlossen.