Der Schoppenfetzer und das Klirren der Ketten - Günter Huth - E-Book

Der Schoppenfetzer und das Klirren der Ketten E-Book

Günter Huth

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  • Herausgeber: Echter
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Seit seinem Eintritt in den verdienten Ruhestand versucht Erich Rottmann Stress, Hektik und Ärger aus seinem Alltag zu verbannen. Dies war dem ehemaligen Leiter der Würzburger Mordkommission bislang allerdings nur unvollkommen gelungen. Nun will er endlich seine Vorsätze ernsthaft umsetzen. Doch bevor er richtig zur Tat schreiten kann •flattert ihm ein schockierender Brief ins Haus, •erhält er einen anonymen Anruf einer unbekannten Frau, •droht ihm eine Unbekannte mit einer Alimentationsklage und •als ob das nicht genug Unruhe mit sich brächte, scheint Elvira eine beziehungstechnische Offensive zu planen. Noch nie hat der Schoppenfetzer das Klirren der Ketten so bedrohlich gehört, wie in diesem Jubiläumsband!

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Seitenzahl: 288

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Günter Huth

Der Schoppenfetzerund das Klirren der Ketten

Die Handlung und die handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.

Der Autor:

Günter Huth wurde 1949 in Würzburg geboren, und lebt seitdem in seiner Geburtsstadt. Er kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Stadt zu leben. Er ist Rechtspfleger (Fachjurist), verheiratet, drei Kinder.

Seit 1975 schreibt er in erster Linie Kinder- und Jugendbücher, Sachbücher aus dem Hunde- und Jagdbereich (ca. 60 Bücher). Außerdem hat er bisher Hunderte Kurzerzählungen veröffentlicht. In den letzten Jahren hat er sich vermehrt dem Genre Krimi zugewandt. 2003 kam ihm die Idee für einen Würzburger Regionalkrimi. „Der Schoppenfetzer“ war geboren, der heute bereits mit dem zwanzigsten Band vorliegt.

2013 erschien sein Mainfrankenthriller „Blutiger „Spessart“, mit dem er die Simon-Kerner-Reihe eröffnete, mit der er eine völlig neue Facette seines Schaffens als Kriminalautor zeigt. Durch den Erfolg des ersten Bandes ermutigt, brachte er 2014 mit dem Titel „Das letzte Schwurgericht“ den zweiten Band, 2015 mit „Todwald“ den dritten Band, 2016 mit „Die Spur des Wolfes“ den vierten Band, 2017 mit „Spessartblues“ den fünften Band und mit „Jenseits des Spessarts“ den sechsten Band dieser Reihe auf den Markt.

2022 entwickelte er die Idee für eine weitere Regionalkrimi-Reihe mit dem Titel RUMPEL. Der Autor ist Mitglied der Kriminalschriftstellervereinigung „Das Syndikat“.

Foto: Christian Hörl

Günter Huth

Der Schoppenfetzerund das Klirren der Ketten

Würzburger Regional-Krimi

Der zwanzigste Fall des Weingenießers Erich Rottmann

Der Umwelt zuliebe verzichten wir bei diesem Buch auf die Folienverpackung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Günter Huth

Der Schoppenfetzer und das Klirren der Ketten

© Echter Verlag, Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Konzept Peter Hellmund

Ausführung: Tobias Klose, Würzburg

Innenteil: satzgrafik Susanne Dalley, Aachen

Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet, Regensburg

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

1. Auflage 2022

ISBN 978-3-429-05785-5

ISBN 978-3-429-05229-4 (PDF)

ISBN 978-3-429-06582-9 (ePub)

www.echter.de

Inhalt

Prolog

Heute

Prolog

Kirchweih …

Der an das Wirtshaus zum Goldenen Stern angrenzende Hof mündete an der rechten Schmalseite in die grundstücksbreite Scheune. Ihre auf Rollen laufenden Schiebetore an Vorder- und Rückseite standen offen. In der Tenne parkten landwirtschaftliche Maschinen, daneben lagerten Stroh- und Heuballen. Die festliche Lichtaura, die das traditionelle, von der Familie Gleisinger in vierter Generation betriebene Gasthaus umgab, überstrahlte die Beleuchtung der an das Wirtshaus angrenzenden Dorfstraße. Der Lichtschein reichte bis in den zwischen Gasthaus und Scheune befindlichen Hof, wo sich die Toilettenanlagen befanden. Aus praktischen Überlegungen lagen sie direkt neben dem Misthaufen, zwecks rationeller Beseitigung und ökologischer Verwendung des Outputs menschlichen Stoffwechsels, der in diesen Tagen der Kirchweih besonders reichlich anfiel.

Kirwe, wie dieses Fest im fränkischen Dialekt genannt wurde, war im Jahresreigen eines der Höhepunkte im Dorf. Der große Tanzsaal des Wirtshauses war überfüllt mit jungen und älteren Bewohnern aus Gramschatz und den angrenzenden Ortschaften. Sich abwechselnde Kapellen boten Musik für jeden Geschmack. Speisen und Getränken wurde reichlich zugesprochen. Wer dem Tanzen nichts abgewinnen konnte, unterhielt sich schreiend mit dem Tischnachbarn oder suchte schweigsam in der Tiefe des Bierglases nach Weisheiten. Eine gemischtgeschlechtliche Gruppe jüngeren Semesters drängelte sich in mehreren Reihen in der mit Rotlicht illuminierten Bar und stillte die Lust nach Hochprozentigem. Vor allen Dingen die jungen Burschen zeigten sich den Dorfschönheiten gegenüber großzügig und luden sie zu den unterschiedlichsten Getränken ein. Getragen von der stillen Hoffnung, dass der Barkeeper den wirksamsten „Schlüpferstürmer“ in seinen Flaschen bereithielt, wie die Liköre, Schnäpse oder Mixgetränke in der Männerwelt der Ledigen hoffnungsvoll genannt wurden. Entsprechend waberte ein Nebel aus hochprozentigem Alkohol, überlagert von einer Wolke aus Testosteron, durch den kleinen Raum und trieb Weiblein wie Männlein den Schweiß auf die Stirn und den Blutdruck in die Höhe. Jegliche desodorierten Achselhöhlen kamen olfaktorisch schnell an ihre Leistungsgrenze und führten die vollmundigen Werbeversprechen der Deohersteller ad absurdum.

Immer wieder spuckte die Bar Einzelsubjekte, ganze Menschentrauben und mehr oder weniger ineinander verschlungene Pärchen aus, die zum Abkühlen ins Freie drängelten, wo von den erhitzten Körpern wahre Dampfwolken in den Oktoberhimmel stiegen. Unter den Kühlung Suchenden befand sich auch der einundzwanzigjährige Erich Rottmann mit seinen Kumpels. Er hatte gerade seinen Frust mit mehreren „Kurzen“ hinuntergespült. Elvira, seine Freundin aus Rimpar, konnte heute nicht auf der Kirchweih sein, weil sie auf einer runden Geburtstagsfeier einer Tante eingeladen war. Ein unumgänglicher Pflichttermin, wie sie Erich versichert hatte. Der war stinksauer, weil er am nächsten Dienstag in die Kaserne der Bereitschaftspolizei einrücken musste, um seine Ausbildung zum Polizisten zu beginnen. Am härtesten traf ihn dabei, dass er seine schulterlangen Haare, die er heute zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, abschneiden lassen musste. Der Frisörtermin stand schon fest.

Erich stand mit seinen Spezis auf einer an die Wirtschaft angebauten Veranda, als er ein sehr gut aussehendes Mädchen entdeckte, die von drei Jungs aus einer Nachbargemeinde in einer Ecke der Veranda ziemlich körpernah angebaggert wurde. Für Erich eine Gelegenheit, seiner schlechten Laune ein Ventil zu verschaffen. Als Verteidiger der hiesigen Fußballmannschaft und Mitglied der Judomannschaft der Kreisstadt war er durchtrainiert und durchaus körperlichen Einsatz gewohnt. Er stieß sich also vom Geländer der Veranda ab und schob sich mit einem an seine Kumpels adressierten „bin glei widder da“ mitten in die Gruppe der Belästiger hinein, wobei er den aufdringlichsten Kerl gleich schwungvoll auf die Seite schubste.

„Hey, ihr Penner, lasst amal des Mädle in Ruh!“, knurrte er vernehmlich und verlieh seinen breiten Schultern durch Verschränken der Arme noch mehr Nachdruck.

„Was willst Du denn, Du Grammschter Strumpfdangler?“, baute sich der in seiner Mannesehre beleidigte Typ vor Erich auf und stieß ihn zurück. „Du Arsch, verzupf Dich! Sonst tuts weh!“

„Ich schlach vor, mer treffe uns amal hinne im Hof“, gab Erich zurück, „wenn Du unbedingt a paar uffs Maul willst! Kannst deim Zahnarzt glei a paar schöne Grüß von mir ausricht …“ Seine Kumpels, die sich gerade noch mit Erich unterhalten hatten, merkten natürlich sofort, dass die Luft brannte, und bauten sich hinter ihm auf. Eine Minute später war ein Pulk von aufgeheizten Burschen auf dem Weg in den Hof der Wirtschaft. Einer von Erichs Jungs nahm das belästigte Mädchen in ihre Mitte, damit sie an vorderster Front mitbekam, wie hier ihre Ehre verteidigt wurde. Keiner der anwesenden Erwachsenen berührte das sonderlich, gehörten doch kleinere Schlägereien bei Kirchweihfesten unter den jungen Leuten durchaus zur Tradition. Einige lehnten sich oben gegen das Verandageländer, um sich einen Logenplatz zu sichern. In der Nähe der Toiletten, am Rande des großen Misthaufens, blieben die verfeindeten Gruppen stehen. Die beiden Kontrahenten bauten sich voreinander auf und demonstrierten durch breitschultriges Balzverhalten ihre körperliche Überlegenheit.

„Also, was is, Du Grammschter Bettbrunser, hast die Hose scho gstriche voll …?“, goss der Belästiger Öl ins Feuer. Seine Spezis lachten spöttisch.

Erich machte nicht lange Federlesens. Ehe sich sein Gegner versah, setzte er blitzschnell einen Judogriff an und schleuderte den Typen mit Schwung über die Schulter … hinein in den großen Misthaufen, an dessen Rand sich eine stinkende Brühe aus Fäkalien aller Art angesammelt hatte. Das Gesicht des Burschen tauchte satt in die Jauche ein. Ächzend und speiend sprang er auf die Füße.

„Hat noch enner e Bedürfnis?“, fragte Erich gelassen in die Runde. Keine Antwort. „… dann macht, dass ihr hemmkommt, und lasst euch bei uns nimmer säh. Sonst gibt’s richtig enne uff die Hucke!“

Wortlos sammelten sie ihren geschlagenen Kumpel auf, wobei sie sorgsam darauf achteten, nicht mit ihm in direkten Kontakt zu kommen.

Im Triumphzug begleiteten seine Freunde Erich zurück in den Saal. Der hatte den Arm um das verteidigte Mädchen gelegt, was die sich gerne gefallen ließ. Im Licht der Saalbeleuchtung konnte er Barbara, wie sie hieß, erst mal richtig betrachten. Sie hatte kurze rote Haare und eine sportliche Figur, was sie bei den nächsten Tänzen unter Beweis stellte. Sie machte auch gerne mit, als Erich sie bei einem heißen Beat antanzte und mit körperlichen Berührungen nicht sparte. Als er sie wenig später in die Bar einlud, folgte sie ihm willig. Da erfuhr er, dass sie in Hanau wohnte, gerade ihre Verwandtschaft in Arnstein besuchte und heute mit ihrem Cousin und seiner Freundin hierher zur Kirchweih gekommen war. Die beiden waren aber schon seit einiger Zeit irgendwohin verschwunden und Barbara vermutete, dass sie sich ein stilles Eckchen für etwas Privatheit gesucht hatten.

Erich war erstaunt über Barbaras alkoholische Nehmerqualitäten. Irgendwann vor Mitternacht küssten sie sich dann. Kurz nach Mitternacht knutschten sie. Wenig später steigerte sich Erichs Einsatz zu einer wilden Fummelei. Barbara fing irgendwann seine Hände ein und schlug vor, sich noch einmal an der frischen Luft etwas abzukühlen. Auch Erich waren das viele Whiskey-Cola und die berauschende Nähe Barbaras ziemlich zu Kopf gestiegen und hatten seinen Testosteronspiegel massiv in die Höhe getrieben. Nur zu gerne stimmte er Barbaras Vorschlag zu. Die Band war zwischenzeitlich zu langsamen Liedern übergegangen und der Wirt hatte das Licht im Saal entsprechend der Stimmung stark gedämpft. Die Pärchen auf der Tanzfläche waren durchwegs zum innigen Klammerblues übergegangen. Barbara nahm Erichs Kopf in die Hände und sah ihm in die Augen.

„Komm, ein Tanz …“, bat sie leise. Erich nahm sie in die Arme und dicht aneinandergeschmiegt drehten sie sich in Zeitlupe auf einem halben Quadratmeter. Sie spürten ihre Körper. Er fühlte den sanften Druck ihrer Brüste, sie die Berührung seiner Männlichkeit.

Irgendwann war der Point of no return erreicht. Erich packte Barbara bei der Hand und zog sie hinter sich her ins Freie, die Treppe hinunter, quer über den Hof, hinein in die dunkle Scheune. Mit einem lauten Stöhnen landeten sie im Stroh. Die Liebe war wild. Barbara riss ihm in ihrer Begierde einige seiner langen Haare aus. Er fummelte ihr in seiner Ungeduld den Schlüpfer kaputt. Beides nahmen sie in diesem Moment nicht zur Kenntnis.

Irgendwann beruhigten sich die Hormonstürme und eine friedliche Ruhe senkte sich auf die beiden. Ganz langsam kam auch der Verstand wieder zum Vorschein und jeder für sich machte sich so seine Gedanken, wie er mit den Geschehnissen der Nacht umgehen sollte. Erich dachte plötzlich wieder an seine Freundin Elvira in Rimpar und Barbara erschien das Gesicht ihres Freundes Robert vor ihrem geistigen Auge.

Beide erhoben sich, ordneten ihre Kleidung und schworen einander, diese Liebesnacht für sich zu behalten und tief in ihrem Herzen zu begraben. Als sie zum Wirtshaus zurückkamen, spielte die Band gerade ihr letztes Lied. Barbara und Erich tanzten noch einmal miteinander, dabei entdeckte sie ihren Cousin und seine Freundin auf der Tanzfläche. Wenig später gab sie Erich heimlich einen Kuss, dann stieg sie in das Auto ihres Cousins und sie fuhren nach Arnstein zurück.

Als Barbara König sich auszog, um ins Bett zu gehen, bemerkte sie an ihrer Kleidung einige lange Haarsträhnen, die sie Erich in der Ekstase wohl ausgerissen hatte. Sie rollte sie in einer Anwandlung von Sentimentalität auf und steckte sie in einen Briefumschlag. Sie liebte Erinnerungssymbole. Zumal Erich ihr erster Mann war, dem sie sich ohne Schutzmaßnahmen hingegeben hatte. Mit Robert hatte sie bisher nur Safer Sex gehabt.

Erichs Engagement gegenüber dem hübschen Mädchen war natürlich unter den Jugendlichen des Dorfes nicht verborgen geblieben. Ein Mädchen aus Rimpar, das Erich einstmals verschmäht hatte, nahm dieses Verhalten mit besonderem Interesse zur Kenntnis. Ihre Freundin Elvira würde sich bestimmt brennend dafür interessieren.

Erich schlief am nächsten Tag bis fast zur Mittagszeit. Er hätte noch länger geschlafen, wenn ihn nicht seine Mutter mit dem Telefonapparat in der Hand aufgeweckt hätte. Das lange Kabel reichte vom Flur bis in Erichs Zimmer. Mit krächzender Stimme meldete er sich. „Erich, hier ist Elvira. Ich möchte, dass wir uns in einer Stunde in Einsiedel treffen!“ Keine Bitte. Eine glasklare Forderung.

Er sah auf seine Armbanduhr. „Geht das auch am Nachmittag? Ich bin gerade noch etwas fertig.“

„Das kann ich mir denken!“, kam es scharf zurück. „In einer Stunde oder gar nicht!“

Dieser bedrohliche Unterton drang sogar in das vernebelte Gehirn von Erich und brachte die Erinnerung an die gestrige Nacht zum Vorschein. Schlagartig war er wach!

„Scheiße“, knurrte er und schlurfte ins Badezimmer. Plötzlich hatte er das Gefühl, als würde sich über seinem Haupt ein gewaltiges Unwetter zusammenziehen.

Einsiedel war eine Holzfällerhütte im Wald, etwa auf der Hälfte zwischen Gramschatz und Rimpar. Dort hatten sie sich schon häufiger getroffen, um alleine zu sein. Als Erich sein Fahrrad an eine ausladende Buche lehnte, war er sich ziemlich sicher, dass es heute kein Schäferstündchen werden würde. Eigentlich wollten sie sich heute für einige Zeit voneinander verabschieden, weil Elvira eine Ausbildung zur Hauswirtschaftsmeisterin in Nürnberg antreten würde und er ja in die Kaserne einrücken musste.

Nervös sah er den Waldweg entlang. Elvira ließ sich Zeit. Zwanzig Minuten später kam sie angeradelt, stieg ab und lehnte ihr Rad an einen anderen Baum. Erich prüfte ihre Miene. Sie war verschlossen und traurig. Ihm war sofort klar, dass sie, woher auch immer, Bescheid wusste! Irgendjemand hatte ihn verpfiffen. Da half nur noch absolute Unterwerfung, totale Demut, vollkommenes Zu-Kreuze-Kriechen.

Elvira blieb zwei Meter vor ihm stehen. Als Erich Anstalten machte, sich ihr zu nähern, fauchte sie: „Bleib stehen und rühr mich nicht an! Die Neuberts Moni hat mir alles erzählt, Du kannst Dir Deine Lügengeschichten also sparen.“

„Aber … ich …“, wollte er einen Einwurf machen, aber sie schnitt ihm das Wort ab.

„Halt einfach den Mund! Mit uns zwei ist es aus! Kannst ja zu dieser Tussi von gestern! Schreib mir keine Briefe und ruf mich nicht an …!“

Ehe Erich noch etwas stammeln konnte, drehte sie sich abrupt auf dem Absatz herum, schnappte sich wieder ihr Fahrrad und trat kurz darauf heftig in die Pedale. Einen Moment später entzog der Wald sie seinen Blicken. Erich trat wütend gegen einen Ast, der durch die Gegend flog. – Von nun an lebten beide ihr jeweils eigenes Leben.

Elvira entschied sich um und begann einige Zeit später eine Ausbildung zur Altenpflegerin in einem Seniorenheim in Schweinfurt, die sie auch erfolgreich abschloss. Im Heim lernte sie Dr. Eduard Rodenstock kennen, einen jungen Assistenzarzt aus Schweinfurt, und bald waren sie ein Paar. Sie lösten jedoch beide diese Verbindung im gegenseitigen Einvernehmen, als Rodenstock nach der Wende die Hausarzt-Praxis seines Onkels in Dresden übernahm, der altersbedingt in den Ruhestand trat. Die beiden hielten über die Jahre lockeren Kontakt. Einmal besuchte Elvira sogar Dresden und ließ sich von der mittlerweile vierköpfigen Familie ihres ehemaligen Freundes die Stadt zeigen. Bei dieser Gelegenheit erwähnte er ihr gegenüber auch die Tatsache, dass er immer auf der Suche nach rentablen Kapitalanlagen war. Elvira selbst blieb ledig und stieg innerhalb der Hierarchie des Altenheims bis in die Leitungsebene auf. Sie musste allerdings nach vielen Jahren diese Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen aufgeben, weil ihr Rücken den Belastungen des Berufs nicht mehr gewachsen war. Sie übernahm dann ein paar Bürojobs, wollte aber gerne nach Würzburg ziehen, ihr Heimatdorf Rimpar war ihr einfach zu klein. Als im Würzburger Rathaus die Stelle einer Chefreinemachefrau in verantwortungsvoller Position ausgeschrieben wurde, bewarb sie sich und wurde angestellt.

Erich Rottmann machte bei der Polizei Karriere, stieg mit den Jahren zum Ersten Kriminalhauptkommissar auf und wurde irgendwann zum Leiter der Würzburger Mordkommission befördert. Eine Position, die er bis zu seiner Pensionierung behielt.

Gegen Ende des letzten Jahrhunderts …

Am 17. Mai 1997 wurde vor dem Notar Hinnerk Johansson, Dresden, zwischen Professor Dr. Rigobert Fronhofer, Würzburg (Verkäufer) und Dr. Eduard Rodenstock, Dresden (Käufer), ein Kaufvertrag über eine Eigentumswohnung in dem Anwesen Würzburg, Rosengasse 23, geschlossen. Die Parteien waren sich darin einig, dass die Wohnung zum Zeitpunkt des Kaufes unbefristet an Herrn Erich Rottmann vermietet ist. Der Käufer war über den Rechtsgrundsatz „Kauf bricht nicht Miete“ informiert, also darüber, dass durch den Kauf kein außerordentlicher Kündigungsgrund vorliegt. Der Verkäufer erklärt, dass er die Eigentumswohnung als reine Kapitalanlage betrachtet hat. Der Notar wurde beauftragt, die Mietpartei von dem Eigentümerwechsel in Kenntnis zu setzen. Die fälligen Mietzinsen hatte der Mieter, nebst Nebenkosten, ab Juni 1997 auf ein noch einzurichtendes Mietkonto jeweils monatlich im Voraus zu entrichten.

Zwei Wochen später ging auf dem Konto von Elvira Stark eine Prämie für die Vermittlung einer Eigentumswohnung in Höhe von 5.000 DM ein.

Heute

#FFFFB – Freie Fahrt für freie Bürger

Das streng vertrauliche, konspirative Treffen der Gruppe #FFFFB – Freie Fahrt für freie Bürger fand an einem geheim gehaltenen Ort innerhalb eines verschwiegenen Hauses in einem abgeschlossenen Chambre séparée statt. Heute war dort Ruhetag und die dort üblicherweise im zwischenmenschlichen Dienstleistungsgewerbe tätigen Damen nicht im Einsatz. Lediglich die Besitzerin war anwesend und kredenzte auf einem Tablett kühle Getränke. Die sechs Teilnehmer, neben der Gastgeberin weitere drei Männer und drei Frauen, hatten ihre Einladung in verschlüsselter Form über einen Twitter-Account mit dem Hashtag #FFFFB erhalten, den einer der Beteiligten eingerichtet hatte und dem die anderen folgten.

Der Sprecher, ein mittelalter Mann mit einem dunklen Vollbart und einer Totalglatze, ergriff das Wort, nachdem alle zur Begrüßung kurz miteinander angestoßen hatten.

„Liebe Ramona“, wandte er sich an die Gastgeberin, „vielen Dank, dass Du uns die Gelegenheit gibst, uns hier in vertraulicher Runde zu treffen. Du hast mir versichert, dieser Raum hier ist absolut abhörsicher …?“

„Dafür lege ich meine Hand ins Höllenfeuer!“, erwiderte sie lachend. „Wenn die Wände dieses Hauses plaudern könnten …“ Sie verdrehte die Augen. „Da wäre so manche Karriere, die eine oder andere Geschäftsverbindung … oder auch Ehe erledigt. Vertraulichkeit und Verschwiegenheit sind fester Bestandteil meines Geschäftsmodells. – Deshalb lege ich auch größten Wert darauf, den Gästen die Nutzung meiner … sozialen Einrichtung so bequem und sicher wie möglich zu machen. Deswegen ist es auch ein No-Go, dass in Zukunft die Kfz-Kennzeichen unserer Gäste auf irgendwelchen Kameras eines überwachten Parkplatzes landen sollen.“

Alle Anwesenden nickten zustimmend zu diesem Eingangsstatement.

„Womit wir beim Thema wären“, stellte der Sprecher fest. Im wahren Leben leitete er ein großes Kaufhaus. „Die Angelegenheit spitzt sich politisch immer mehr zu und hat mittlerweile ein Stadium erreicht, das uns zwingt, massiv steuernd einzugreifen, wollen wir uns nicht der Willkür einer Stadtratsmehrheit beugen, die heute so und morgen wieder anders entscheidet – unterm Strich aber den Ausverkauf von uns Geschäftsleuten betreibt!“

„Ich weiß wirklich nicht, was sich die Mehrheit unserer Stadträte davon verspricht, in Kauf zu nehmen, dass jeglicher Individualverkehr in der Innenstadt erheblich erschwert wird, indem man alle Parkplatzmöglichkeiten extrem verteuert. … Und das in Zeiten, in denen die Benzinpreise und die Lebenshaltungskosten ins Astronomische klettern, dazu noch die explodierende Inflation …! Das ist extrem unsozial!“ Ein Jungunternehmer aus der Pleich schüttelte den Kopf.

Eine junge Frau mit politischem Einfluss – ihr Mann saß im Stadtrat – schüttelte verständnislos den Kopf. „Wenn ich mir überlege, was alleine die Plakataktion für das Bürgerbegehren 1 an Finanzmitteln verschlingt … Da heißt es immer, die Kommune hat kein Geld und muss deshalb die Parkgebühren massiv anheben, und dann fluten sie die Stadt mit Plakaten. Über die Öko- und CO2-Bilanz dieser Aktion möchte ich gar nicht nachdenken!“

„Ihr habt mir versprochen, dass Ihr Euch massiv für eine weiterhin gebührenfreie Talavera einsetzt“, brachte Ramona nochmals ihr Anliegen zu Gehör. „Meine Kundschaft generiert sich aus Berufstätigen, überwiegend aus dem Landkreis, die sich nach der Arbeit noch für ein, zwei Stündchen von einer meiner Damen verwöhnen lassen wollen, um dann gut gelaunt nach Hause zu kommen. Da kann ich kein Parküberwachungssystem auf dem Platz brauchen, das Kennzeichen erfasst und damit die Gefahr der Kompromittierung meiner Kunden birgt.“

Eine dunkelhaarige Endvierzigerin mit politischem Einfluss, Mitbegründerin von #FFFFB, schüttelte heftig den Kopf. „Da kann ich Dir nur zustimmen! Keine faulen Kompromisse! Es darf keine Entmündigung des Bürgers stattfinden, der von einem als Alibi vorgeschobenen Öko-Gedanken gegängelt werden soll! Das ist nur der Anfang! In Wirklichkeit sollen wir Bürger immer mehr gegängelt werden! Man sollte vielmehr dafür sorgen, dass überall in der Stadt kostengünstig E-Autos betankt werden können. Wir sollten auf jeden Fall bei unserer radikalen Linie bleiben und dafür sorgen, wenn es sein muss, auch mit … ungewöhnlichen Aktionen, dass dieser Stadtratsbeschluss von den Bürgern von Würzburg beim Bürgerentscheid vom Tisch gefegt wird! Ich habe da auch schon eine Idee entwickelt! Sie verlangt zwar etwas Zivilcourage und wir gehen das Risiko ein, Ärger mit der Staatsanwaltschaft zu bekommen …, allerdings nur dann, wenn wir uns blöde anstellen!“ Sie setzte sich zurecht und begann ihre Vorstellungen zu erläutern … Einige der Teilnehmer bekamen große Augen.

Hangover …

Öchsle hob den Kopf und lauschte in die Stille der dunklen Wohnung. Aus der nur angelehnten Tür des Schlafzimmers seines Menschen war ein Laut gedrungen, der sich deutlich von den Schnarchgeräuschen, die dem Rüden schon seit ewigen Zeiten vertraut waren, unterschied. Öchsle verließ sein Körbchen und tapste in die Richtung des ungewohnten Lautes, der sich mittlerweile einige Male wiederholt hatte. Seine Krallen verursachten auf dem Teppichboden keine Geräusche. Vorsichtig stieß er mit der Nase die Tür ein Stück weiter auf und machte einige Schritte in das abgedunkelte Zimmer hinein. Deutlich konnte er unter der Bettdecke die Skyline seines Menschen erkennen, die sich mit figürlichen Höhen und Tiefen darunter abzeichnete. Gerade stieß der Schläfer wieder dieses beängstigende Geräusch aus, das zwischen Stöhnen und Jammern changierte. Der Rüde blieb mit schief gelegtem Kopf stehen und lauschte. Schließlich gab er sich einen Ruck, trat näher und setzte seine beiden Vorderpfoten neben dem Kopfkissen auf die Matratze. Blitzschnell fuhr er Erich Rottmann mit der Zunge mehrmals quer über das Gesicht, wobei er den Vollbart nachhaltig vollsabberte, was schlagartig Wirkung zeigte.

„Äh, pfui Deifel!“, grantelte der so unsanft aus den Träumen gerissene Schoppenfetzer und richtete sich auf. Mit dem Ärmel des Schlafanzugs fuhr er sich über das Gesicht. „Öchsle, was soll der Mist? Raus aus meinem Bett!“

Der Rüde sprang ein Stück rückwärts und bekundete durch heftiges Schwanzwedeln und freudiges Fiepen seine Freude darüber, dass sich sein Mensch endlich erheben wollte. Dessen Unmut ignorierte er völlig. Ächzend warf Erich Rottmann die Zudecke zur Seite und schwang die Beine über den Bettrand. Da saß er nun und stierte etwas schlaftrunken vor sich hin. „Ich bin wirklich gespannt, wann Du endlich mal aufhörst, mich zu dieser unchristlichen Zeit zu wecken … Wir sind beide Pensionisten und können so lange pennen, wie wir wollen!“

Rottmann stand auf und dehnte sich ausgiebig. Dann zog er die Rollläden vor den Fenstern hoch und ließ Helligkeit in die Wohnung. Mit einem Blick auf den verregneten Morgen draußen stellte er fest, dass er eindeutig nichts versäumte und durchaus noch etwas hätte schlafen können. Wenn da nicht ein gewisser Vierbeiner gewesen wäre … Er fuhr sich mit den Fingern durch die Kurzhaarfrisur und kratzte sich am Bart, wobei er in die feuchten Rückstände von Öchsles Morgenkuss geriet. Er verzog das Gesicht und marschierte in Richtung Bad. Öchsle war über den Erfolg seiner Weckaktion durchaus zufrieden und legte sich in seinen Korb zurück. Er wusste aus Erfahrung: Bis sein Mensch einsatzbereit war, würde es noch dauern und er konnte sich noch ein Nickerchen gönnen.

Rottmann entledigte sich seines Schlafanzugs, stieg in die Dusche und schloss den Vorhang, dann drehte er den Wasserhahn auf. Da er noch immer etwas tranig war, entging ihm dabei die Stellung der Mischarmatur. Der Hebel stand auf kalt mit dem Ergebnis, dass ein eiskalter Wasserstrahl auf den noch immer bettwarmen Schoppenfetzer herunterprasselte! Dadurch geschah zweierlei: Rottmann stieß einen tierischen Schrei aus und sprang wie von der Feder geschnellt rückwärts aus der Dusche. Dabei schoben seine nassen Sohlen den Badvorleger zur Seite und Rottmann knallte mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür. Es klang wie Donner durch die Wohnung und Öchsle fuhr erschrocken aus seinem Körbchen hoch. Zum Glück war die Tür massive Schreinerarbeit und hielt dem Rammstoß problemlos stand. Erich Rottmann fand sein Gleichgewicht wieder, stellte den Mischhebel der Dusche auf mittlere Hitze und wagte neuerlich den Schritt unter die reinigenden Wasserstrahlen. Während er großzügig Duschmittel auf seinem Körper verteilte, musste er an den gestrigen Abend denken. Beim Stammtisch waren sie durch eine beiläufige Frage des neuen Stammtischbruders Andy Farmer auf die Frage gestoßen, wie lange denn der Stammtisch DIE SCHOPPENFETZER nun eigentlich schon bestand. Hierbei waren natürlich die Gründungsmitglieder Erich Rottmann, Ron Schneider, Dr. Horst Ritter und Xaver Marschmann in erster Linie zur Beantwortung berufen. Bei der nachfolgend angeregten Diskussion stellte man fest, dass es von den Schoppenfetzern versäumt worden war, die Historie des Stammtisches aufzuzeichnen. Eigentlich ein bedauerlicher Fehler!

„Es muss auf jeden Fall kurz nach der Jahrtausendwende, nach der Pensionierung von Erich, gewesen sein“, stellte Ron Schneider fest.

„Erich und ich sind ungefähr zur gleichen Zeit aus unseren Ämtern geschieden“, warf Horst Ritter ein.

„Ja, ich erinnere mich, das war im Frühjahr, irgendwann im Mai“, ergänzte Xaver Marschmann. „Erich hat mich auf einen Schoppen hier in den Maulaffenbäck eingeladen. Dabei sind wir auf Horst gestoßen, der hier seinen Abschied als Leiter der Würzburger Staatsanwaltschaft begossen hat.“

„Genau, es war kurz vor Mitternacht, als alle seine Gäste gegangen waren, Horst aber noch nicht nach Hause wollte und sich zu uns setzte. Wir haben uns dann einige Runden gegönnt …“, erinnerte sich Xaver Marschmann.

„Mann, was waren wir betrunken!“, warf Horst Ritter ein. „Keine Ahnung, wer dann auf die glorreiche Idee gekommen ist, einen Stammtisch zu gründen.“

„Männer, Ihr könnt sagen, was Ihr wollt, mit ein paar ordentlichen Schoppen in den Gehirnwindungen entstehen die besten Ideen!“, stellte Andy Farmer fest. Keiner zweifelte seine Expertise an.

„Also, liebe Schoppenbrüder, für mich steht auf jeden Fall fest, dass wir dieses Jahr mit bestem Gewissen einen runden Geburtstag begehen können“, erklärte Xaver Marschmann.

„… und das sollten wir entsprechend feiern“, ergänzte Ron Schneider, der für jede Feier aufgeschlossen war.

DIE SCHOPPENFETZER hatten beschlossen, die Angelegenheit nicht übers Knie zu brechen, sich vielmehr Zeit zu lassen und eine Bündelung von Ideen vorzunehmen.

Nachdem sich Erich Rottmann ausgiebig gereinigt hatte, trat er aus der Dusche und trocknete sich mit einem grünen Saunatuch ab, das sowohl hinsichtlich Saugkraft als auch in Bezug auf die zu umschlingenden Körpermaße seinen Anforderungen entsprach. Als er die eingestickte Inschrift: „Silvaner formte diesen Körper“ wieder einmal bewusst las, musste er schmunzeln. Er konnte sich noch gut daran erinnern, dass Elvira ihm das Tuch irgendwann einmal schenkte, der Anlass war ihm allerdings entfallen. Jedenfalls war es als boshafte Anspielung auf die Ausmaße seines strammen Körperbaus gedacht, das hatte er nicht vergessen. Apropos Elvira! Ihm fuhr es wie ein Blitz durch den Kopf: Wenn die Dame im Nachbarhaus erfuhr, dass der Stammtisch über ein rundes Jubiläum nachdachte, kam sie sicher auf die Idee, auch über das Bestehen ihrer beider Bekannt-/Partner-/Freundschaft nachzudenken. Plötzlich wurde es Erich Rottmann vor dem beschlagenen Spiegel seines Badezimmers richtig heiß und daran war nicht die Wassertemperatur schuld!

Gedanklich reiste er in die Vergangenheit zurück. Es musste in einem Herbst kurz nach der Jahrtausendwende gewesen sein, als das Schicksal aus heiterem Himmel zuschlug und ihm Elvira Stark auf dem Flur der Chefetage des Würzburger Rathauses über den Weg führte. Er ermittelte dort auf Wunsch der damaligen Stadtregierung im Rahmen eines verworrenen Todesfalles. Elvira arbeitete dort als Reinemachefrau. Rottmann konnte sich noch ziemlich genau an diese Szene erinnern, da dieses Ereignis sein Leben seither maßgeblich beeinflusst hatte. Es dauerte einen Moment, bis sie sich erkannten, dann war die Freude von Elvira groß gewesen, während er in Erinnerung an den Grund ihrer damaligen Trennung eher etwas beklommen war. Elvira zeigte aber keinerlei Ressentiments. Sie wechselten einige Sätze und stellten fest, dass es schön wäre, sich bei einem Schoppen über frühere Zeiten zu unterhalten. Sie verabredeten sich einige Tage später im Weinhaus Schnabel. Das Treffen fand dann auch wie verabredet statt. Ihm war es dabei gelungen, Elvira als Undercover für seine Ermittlungsarbeit im Rathaus einzuspannen, und sie verstand es geschickt, dadurch den Grundstein für eine Erneuerung ihrer Bekanntschaft zu legen. Heute würde man das eine beiderseitige Win-win-Situation nennen. In der Rückschau musste er sich eingestehen, dass er schon damals, ganz in der Ferne, sehr leise, das Klirren von Ketten vernommen hatte. Auch wenn er damals dieses Geräusch in seiner Bedeutung für seine Zukunft noch nicht richtig einordnen konnte.

Aktuell musste er sicherstellen, dass Elvira nicht auf die Idee kam, in irgendeiner Weise aus dieser langen – für sich nannte er es einmal eine „modifizierte Bekanntschaft“ – eine persönliche Jubiläumsgeschichte zu konstruieren. Sie lauerte nur auf eine solche Chance! Nachdem Rottmann seinen Bad-aufenthalt beendet hatte, er in seine Wohlfühl-Breitcordhose geschlüpft war und sein Holzfällerhemd hineingesteckt hatte, ging er in die Küche und füllte Öchsles Napf mit einer Portion Futter. Während der Rüde es sich schmecken ließ, bereitete er sich eine schnelle Tasse Kaffee zu, um den Kreislauf richtig in Schwung zu bringen und den ohne Zweifel vorhandenen Kater zu verscheuchen. Er plante einen längeren Spaziergang in Richtung Randersacker, um Öchsle den erforderlichen Auslauf mit Morgenhygiene zu ermöglichen, damit er dann rechtzeitig beim Frühschoppen am Stammtisch sitzen konnte. Sein eigentliches Frühstück würde er dort in Form einer ordentlichen, tellerüberlappenden Portion Leberkäs, einer Laugenstange und einem erfrischenden Silvaner einnehmen.

… dann war er weg

Der schlanke junge Mann im dunkelblauen Hoodie, der im normalen Leben auf den Vornamen Simon hörte, hatte die Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, dass es bereits aus kurzer Entfernung nicht mehr zu erkennen war. Er lehnte in der Semmelstraße gegenüber dem Kunsthaus Michel, einer kleinen, aber feinen Galerie im schönsten Innenhof Würzburgs, wie es hieß, an der Scheibe eines Tattoo-Studios und ließ den Eingang nicht aus den Augen. In der Galerie hatte ein einheimischer Pop-Art-Künstler zu einer Vernissage eingeladen, die die Person, auf die er angesetzt war, besuchte. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Kurz nach Mitternacht. Es wurde Zeit, dass Annamaria, die zweite Person, die an diesem Einsatz beteiligt war, endlich dafür sorgte, dass die Zielperson die Veranstaltung verließ, sonst würden sie den Zeitplan nicht einhalten können. Im gleichen Moment hörte er das Bing einer eingehenden Nachricht auf seinem Handy.

„Wir kommen jetzt raus …“

Simon antwortete mit dem Emoji „Daumen hoch“, dann sah er auch schon in dem Torbogen, der zum schummrig erleuchteten Innenhof führte, eine Bewegung. Das Ziel lief, sich mit Annamaria unterhaltend, neben ihr her. Sein Gang war eindeutig nicht ganz stabil und die junge Frau musste gelegentlich seinen Schwankungen ausweichen.

„Ich glaube …, ich hätte die … letzten beiden Cocktails nicht so schnell trinken sollen …“, stellte Markus Selig, seines Zeichens zweiter Bürgermeister der Mainmetropole, mit leichtem Zungenschlag fest.

„Macht ja nichts“, gab Annamaria zurück. „Sie können sich ja bei mir unterhaken, wenn Sie wollen.“

Er nuschelte etwas vor sich hin, dann nahm er ihr Angebot an und griff nach ihrem Arm.

Zufrieden nahm der Beobachter die Szene zur Kenntnis. Er hoffte nur, dass Annamaria die Dosierung des Mittels richtig gewählte hatte und er nicht zu früh ausgeknockt war. Er musste nur eine kurze Strecke durchhalten. Sie wandten sich von ihm aus nach rechts und bogen kurz darauf in die Handgasse ab, eine schmale, verkehrsberuhigte Verbindung zwischen Semmel- und Ludwigstraße. Simon hängte sich mit so viel Abstand an die beiden dran, dass die Zielperson nicht auf ihn aufmerksam wurde.

Simon wählte mit seinem Handy eine Nummer. Als abgenommen wurde, erklärte er knapp: „Sie sind auf dem Weg und müssten jede Sekunde bei Euch auftauchen.“

Etwa auf der Hälfte der Gasse befand sich ein kleiner Parkplatz für Anwohner. Annamaria atmete auf, als sie vor sich den grauen Caddy sah, der mit geöffneter Hecktür dort geparkt war. Es war immer schwieriger, ihr taumelndes Anhängsel vorwärtszubringen. Da sprang ein Mann aus dem Caddy und eilte ihr zu Hilfe.

„Ja Herr Bürgermeister, haben wir wohl etwas zu viel getankt …“, sagte er und fing Selig auf, der mittlerweile nicht mehr gerade stehen konnte. Simon kam herbei und unterstützte seinen Kollegen. „Wir bringen Sie jetzt erst mal in ein Bett“, erklärte er und mit vereinten Kräften bugsierten sie den schon im Stehen schlafenden Mann auf den Rücksitz des Caddys, wo sie ihn sorgfältig anschnallten. Er gab schnarchende Geräusche von sich. Die ganze Aktion dauerte nicht länger als zehn Sekunden.

„Schnell, schau in seinen Taschen nach dem Autoschlüssel“, verlangte Simon. Einen Moment später hielt ihm sein Kumpel den Funkschlüssel hin. Simon steckte ihn ein.

„Du kannst gleich los!“, erklärte er und sprang aus dem Wagen. Dabei fasste er einen großen Bergrucksack und warf ihn sich über die Schultern. Daraufhin gab der Fahrer Gas und fuhr davon.

Annamaria, die ihren Job erledigt hatte, blieb zurück und sah mit gemischten Gefühlen die Rücklichter des Fahrzeugs in die Ludwigstraße abbiegen. Hoffentlich geht das gut, dachte sie und winkte Simon zu, der davoneilte. Er hatte noch eine wichtige Aufgabe zu erledigen. Annamaria wählte im Gehen mit dem Handy eine Nummer. „Das Paket ist unterwegs!“, setzte sie kurz eine Voicemail ab, dann legte sie wieder auf. Sie warf einen vorsichtigen Blick in die Runde, es gab aber keinerlei Anzeichen dafür, dass jemand diese Aktion beobachtet hatte. Sie lief langsam weiter. Ihre Anspannung legte sich etwas, stattdessen erfasste sie Müdigkeit. Sie wollte nur noch nach Hause in ihr Bett. Morgen, um 8.00 Uhr, würde sie wieder an ihrem Schreibtisch im Bürgerbüro des Rathauses sitzen.

Wer schläft, sündigt nicht … meistens …

Morgendämmerung. Die Fußgängerzone in der Eichhornstraße in Würzburg kurz nach vier Uhr in der Früh desselben Tages. Ein Polizeistreifenwagen rollte gemächlich, vom Stadttheater kommend, im Schritttempo durch die Spiegelstraße in Richtung Eichhornstraße und Oberer Markt. Die Scheibenwischer des Fahrzeugs rieben quietschend über die Frontscheibe und beseitigten die wenigen gefallenen Tropfen. Das gemischte Team, bestehend aus der Fahrerin Agneta Schulz, einer jungen Polizeimeisterin, und Franz-Lothar Postler, dem Streifenführer, einem erfahrenen Polizeioberkommissar, kontrollierte die beiderseits der Straße vorhandenen Ladengeschäfte sowie die diversen Seitengassen. Das Streifenteam hatte noch vier Stunden Dienst vor sich und widmete sich seiner Aufgabe mit stark gebremster Einsatzfreude. Die jetzige Kontrollfahrt war die dritte dieser Art und ebenso öde und ereignislos wie die vorausgegangenen … dachten sie zumindest.

Agneta seufzte vernehmlich und gab etwas Gas, damit der Motor nicht absoff. „Franz-Lothar, langsam bekomme ich einen richtigen Hungerast. Können wir nicht kurz um die Ecke beim MäcRonalds vorbeifahren? Ich bräuchte dringend einen Kaffee to go! Ich denke nicht, dass wir heute hier noch kriminelle Elemente entdecken werden.“

POK Postler lümmelte sich tiefer in seinen Sitz und reagierte nicht auf die Nöte seiner Kollegin, da er an der Einmündung von der Herzogenstraße zur Fußgängerzone einen Pkw gehobener Marke musterte, der ihm schon bei ihrer letzten Kontrollfahrt aufgefallen war. Eigentlich waren sie nicht dafür da, Parksünder aufzuschreiben, aber sein Polizeiinstinkt sagte ihm, dass die Insassen dieser Karosse mit dunklen Absichten unterwegs sein könnten.

„Halt mal bitte an“, bat er und schnappte sich seine Uniformmütze, die vorne vor der Frontscheibe auf der Ablage lag. „Den will ich mir mal ansehen.“ Er öffnete die Tür. „Du kannst mittlerweile mal eine Halterfeststellung machen.“

„Geht klar“, entgegnete seine Kollegin, verdrehte aber hinter seinem Rücken die Augen. Ihr Kaffee war in weite Ferne gerückt. Über Funk gab sie aber dann das Würzburger Kennzeichen an die Zentrale durch.