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Die Stille in der fensterlosen Krypta wurde nur durch leise gemurmelte Gebete unterbrochen. Plötzlich, völlig unerwartet, ging die Beleuchtung aus. Lediglich zwei brennende Kerzen spendeten noch dürftiges Licht. Die wenigen Anwesenden waren völlig verwirrt und suchten tastend nach Orientierung … Was hat die Schreibblockade eines Thriller-Bestsellerautors, Erich Rottmanns Einsatz als Fremdenführer und eine erschütternde Bluttat am Schrein der Frankenapostel mit der Rückkehr der Kreuzbergwallfahrer zu tun? Rottmann wird in den Strudel eines verbrecherischen Frevels hineingezogen, dessen Täter ein unerklärliches Ende nehmen. Lebt der Fluch der Kilians-Mythologie noch immer?
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Seitenzahl: 296
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Günter Huth
Foto: Christian Hörl
Die Handlung und die handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.
Der Autor:
Günter Huth wurde 1949 in Würzburg geboren und lebt seitdem in seiner Geburtsstadt. Er kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Stadt zu leben.
Er war Rechtspfleger (Fachjurist), ist verheiratet, hat drei Kinder und sieben Enkelkinder. Geadelt wird die Familie durch die Dackelhündin Belladonna von Mönibuch, genannt Bella, die sich ihres blaublütigen Standes durchaus bewusst ist. Seit 1975 schreibt er in erster Linie Kinder- und Jugendbücher sowie Sachbücher aus dem Hunde- und Jagdbereich (ca.70 Bücher). Außerdem hat er bisher Hunderte Kurzerzählungen veröffentlicht. Zu Beginn der 2000er-Jahre hat er sich dem Genre Krimi zugewandt. 2003 kam ihm die Idee für einen Würzburger Regionalkrimi um den pensionierten Leiter der Würzburger Mordkommission Erich Rottmann. „Die Schoppenfetzer-Reihe“ war geboren, die heute bereits mit dem zweiundzwanzigsten Band vorliegt.
2013–2018 erschien seine Mainfrankenthriller-Reihe um den Staatsanwalt und späteren Richter Simon Kerner, mit der er eine völlig neue Facette seines Schaffens als Kriminalautor zeigt.
2022 entwickelte er die Idee für eine neue Mainfrankenthriller-Reihe um den SEK-Scharfschützen Adam Rumpel, die 2023 mit dem Pilotband „Posttraumata“ eröffnet wurde und in zweijähriger Taktung geplant ist.
Der Autor ist Mitglied der Kriminalschriftstellervereinigung „Das Syndikat“.
Günter Huth
Der zweiundzwanzigste Fall des Weingenießers Erich Rottmann
Der Umwelt zuliebe verzichten wir bei diesem Buch auf die Folienverpackung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Günter Huth
Der Schoppenfetzer und die Nacht des Frevels
© Echter Verlag, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Konzept Peter Hellmund
Ausführung: Tobias Klose, Würzburg
Gestaltung Innenteil: Crossmediabureau, Gerolzhofen
Lektorat: Monika Thaller, Dr. Ursula Ruppert, Würzburg
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
1. Auflage 2024
ISBN 978-3-429-05988-0
ISBN 978-3-429-06698-7 (PDF)
ISBN 978-3-429-06699-4 (ePub)
www.echter.de
Prolog
UNKNOWN – Irgendwo im hohen Norden Deutschlands
Republik Irland – Loch Mullagh
Dienstag, erster Tag der Kreuzberg-Wallfahrt
Ein Geständnis
Euerdorf – Tagesziel des ersten Wallfahrtstages
Mittwoch, zweiter Tag der Kreuzberg-Wallfahrt
Maritim Superior-Zimmer 4.024
Maritim Suite 3.001 – Vor dem Treffen mit Erich Rottmann
Donnerstag, dritter Tag der Kreuzberg-Wallfahrt
Freitag, vierter Tag der Kreuzberg-Wallfahrt
Samstag, fünfter und letzter Tag der Kreuzberg-Wallfahrt
Der Damm des Vergessens bricht …
Republik Irland – Loch Mullagh
Epilog
Im Sommer des aktuellen Jahres im Arbeitszimmer von UNKNOWN, einer der bekanntesten Erscheinungen der letzten zehn Jahre im internationalen Thriller-Geschäft:
Begleitet von einem unbeherrschten Wutschrei flog der Laptop in einer bogenförmigen Flugbahn quer durchs Arbeitszimmer und durch die geöffnete Terrassentür. Scheppernd landete er auf den grauen Betonplatten der Veranda. Die Gelenke zwischen Bildschirm und Gehäuse barsten. Jäh verlöschte das Bild des geöffneten Schreibprogramms auf dem splitternden Display. Es folgten mit der gleichen Dynamik die externe Tastatur und die Funkmaus. Der Laptop war unwiederbringlich zerstört.
Der Ausbruch milderte die Wut der Person nur unwesentlich. Mit einer ausholenden Bewegung des rechten Armes fegte er einen Stapel Papiere, mehrere Bücher und diverse Büroutensilien vom Schreibtisch. Eine Stehlampe erhielt einen Tritt, so dass sie polternd umkippte. „So ein gottverdammter Mist!“, wütete die Person hemmungslos in das etwa fünfundzwanzig Quadratmeter große Zimmer hinein.
Einen Großteil der Zimmerwände bedeckten bis zur Decke reichende Bücherregale. Eine große Anzahl zeitgenössischer Kriminalliteratur und antiquarischer Erstdrucke des gleichen Genres füllte die Bretter. An den Wänden dazwischen hingen wertvolle Gemälde, darunter ein Original von Salvator Dalí, vom Meister persönlich signiert. Auf einem separaten Regalboden standen die siebzehn Bestseller der Person, links und rechts gehalten von Buchstützen aus Speckstein in Form von zwei Pferdeköpfen. Diese Thriller hatten wegen ihrer realistischen, oft sehr harten Schilderungen die Person in den Olymp deutscher Real-Crime-Literatur katapultiert. Die Auflagen erreichten enorme Zahlen, die Übersetzung der Werke in viele Sprachen sorgte für eine riesige Popularität.
Das großflächige Anwesen mit Park, an einem Binnensee auf der Mecklenburgischen Seenplatte gelegen, umgab eine hohe Mauer, die mit umfangreicher Sicherheitstechnik ausgestattet war. Es gab in der Bevölkerung zahlreiche Gerüchte und Vermutungen, wem dieses Anwesen tatsächlich gehören mochte. Aber selbst die Recherchen der besten investigativen Boulevard-Journalisten, die sonst jeden Pickel auf dem Hintern einer prominenten Persönlichkeit mit Vornamen kannten, kamen nicht weiter als bis zum Eigentümereintrag im zuständigen Grundbuch. Eigentümerin war demnach die Buchagentur Elisa GmbH, Frankfurt am Main, vertreten durch die Geschäftsführerin Megan Wolf-Darling. Bei der Agentur anfragende Journalisten erhielten zwar die freundliche, aber knappe Auskunft, dass ihr die Betreuung von UNKNOWN anvertraut wäre, dass dieses Pseudonym aber gesetzlich geschützt und eine Offenlegung nicht möglich sei. Damit war immer das Ende der informativen Fahnenstange erreicht. Nachdem einige Versuche von Paparazzi, das Anwesen mit einer Drohne zu überwachen, wegen des Einsatzes eines privaten Sicherheitsdienstes gescheitert waren, wurden auch diese Versuche eingestellt. Die Agentur erklärte, dass man jederzeit vom Hausrecht Gebrauch machen würde.
Hierdurch steigerte sich der Mythos UNKNOWN von Thriller zu Thriller ständig und damit auch die Auflagenzahlen. Keiner wusste, wer UNKNOWN war, wie UNKNOWN aussah, ob die Person sich dem männlichen, dem weiblichen oder irgendeinem anderen sozialen Geschlecht zugehörig fühlte. Obwohl UNKNOWN nie persönlich in Talkrunden erschien, sich in Ausnahmefällen höchstens mal durch die Agentur vertreten ließ, war UNKNOWN dort häufig Gegenstand des Gesprächs. Veranstalter boten der Agentur Lesungen in großen Arenen an, erhielten aber stets eine Absage. Stattdessen erschien Jahr für Jahr ein Thriller, der noch vor dem Druck enorme Verkaufszahlen versprach und um dessen Lizenzen sich bereits im Vorfeld internationale Verlage rissen.
Im Augenblick war UNKNOWN allerdings auf hundertachtzig und vor Wut außer Rand und Band. Das Ergebnis war die elektronische Trümmerwüste auf der Terrasse.
Zwei Stunden zuvor hatte der Cursor des Schreibprogramms mit stoischer Beständigkeit auf derselben leeren Stelle geflimmert und kein einziger Buchstabe, geschweige denn ein Satz trat an seine Stelle. In UNKNOWNs Gehirn existierte im Moment eine erschreckende Leere. Das Gespenst der Schreibblockade schwebte im Raum!
Die Konkurrenz auf dem Büchermarkt war groß und der harte Kern der mit UNKNOWN vergleichbaren internationalen Autorinnen und Autoren kämpfte jedes Jahr um die neuesten, Auflagen sprengenden Ideen.
Der Ärger begann damit, dass die im Norden bekannte Buchagentur STÖRTEBEKER einen gewissen Olav Schultze, Newcomer im Thriller-Geschäft, unter Vertrag nahm. Die Gerüchteküche brodelte. In einschlägigen Kreisen munkelte man, dass dieser Autor eine bekannte Größe im bundesrepublikanischen Politikbusiness gewesen sei. Er habe sich daraus zurückgezogen, weil er das ständige Redenmüssen nicht mehr ertragen konnte. Für seinen Debütroman hatte Schultze ausgerechnet ein Thema aufgegriffen, das sich auch UNKNOWN für seinen nächsten Thriller auserkoren hatte: Mord an einem bekannten Politiker während seines Wahlkampfes. Mit diesem Vorhaben wurde Olav Schultze, der natürlich über Insiderkenntnisse verfügte, durch Vermittlung seiner Agentur von einem großen Verlag mit Handkuss unter Vertrag genommen. Dadurch waren UNKNOWNs Pläne obsolet geworden.
Jetzt drängte die Agenturchefin natürlich auf ein neues Konzept. Problem war nur, in UNKNOWNs Hirn herrschte augenblicklich nur große Leere! Nichts von der Leichtigkeit, mit der sonst die Gedanken flossen. Kein elegantes Spiel mit Ideen und kryptischen Formulierungen, die die Leser so schätzten. UNKNOWN schob den Bürostuhl zur Seite und ging hinaus auf die Veranda, an die fast ebenerdig eine große Rasenfläche angrenzte. Wütend erhielt die herumliegende Computermaus einen heftigen Tritt und landete in einer gepflegten Rosenrabatte. Immer noch voller Zorn erreichte UNKNOWN den Rand der Rasenfläche, die sich mit leichtem Gefälle bis zu einem See erstreckte. Dort stand unter einer hochgewachsenen Trauerweide eine bequeme Bank, die zum Entspannen einlud. Davon konnte im Augenblick allerdings keine Rede sein. Der Puls war auf hundert und der Blutdruck wahrscheinlich gar nicht mehr messbar. UNKNOWN ließ sich nieder. Der Auslöser für den Ausraster war ein Telefonat von heute Morgen gewesen. Agenturchefin Megan Wolf-Darling hatte ihn angerufen und auf ihre sehr direkte Art sehr nachdrücklich darauf hingewiesen, dass es jetzt keinen Aufschub mehr geben könne. Sie würde zumindest das Exposé des alternativen Thrillers bis spätestens in drei Wochen benötigen, weil der Verlag, in dem UNKNOWNs Bücher erschienen, massiven Druck machte. Bis jetzt stünde ja noch nicht einmal ein Arbeitstitel fest! Die Werbekampagne für den neuen Thriller müsste anlaufen, Titelbild und Texte für das Cover vorbereitet werden et cetera. Hierfür müsste zumindest grob der Inhalt des neuen Werkes skizziert werden … und UNKNOWN saß da und hatte keinerlei Plan! Das konnte man aber einer Agentin so nicht sagen.
Auf der Denkerbank ruhte sich UNKNOWN etwas aus. In der Ferne erklang das Schreien von Blesshühnern, die im Schilfgürtel lebten. Der Atem der Person beruhigte sich langsam. Der Himmel spiegelte sich im See, das klare Wasser strahlte Ruhe und Energie aus. Allmählich kamen die Gedanken wieder in Gang. Es war an der Zeit, auf eine Idee zurückzugreifen, die UNKNOWN schon lange mit sich herumtrug, wofür es aber angeblich nie den erforderlichen Markt gab. Jetzt, in der gegenwärtigen Zwangslage, war der Verlag sicher dankbar für einen solchen Plan.
Mit frischem Elan erhob sich UNKNOWN und schlenderte ein Stück am Ufer entlang, bis hinter einer Biegung des Ufers ein kleiner Pavillon auszumachen war. Das Seehaus in Form eines Oktogons, eines Achtecks, war so geräumig, dass es ein vollständiges Arbeitszimmer mit allem erforderlichen technischen Equipment enthielt. Hierher zog sich UNKNOWN beim Wunsch nach Abgeschiedenheit zurück. Ein Code öffnete das Zahlenschloss an der Tür. Ein leistungsfähiger Rechner machte es möglich, auf alle Texte von UNKNOWN zuzugreifen, die in einer Cloud der Agentur gespeichert waren. UNKNOWN war technisch gerne flexibel. Alle Wände des Baus waren ab Hüfthöhe verglast, so dass sich ein wunderbarer Blick auf den See ergab. Megan Wolf-Darling musste einen neuen Laptop schicken, da der alte ja wohl nur noch Schrott war. Aus der heutigen Nachricht würde die Agentin schließen können, dass UNKNOWN wieder aktiv war, und fiele nicht ständig mit Nachfragen auf den Geist. Mit einem Knopfdruck startete der PC. Der Rechner verfügte über das neueste Verschlüsselungsprogramm, das ihn gegen alle Angriffe von außen schützte. Diese Firewall war notwendig geworden, nachdem vor ein paar Jahren Hacker versuchten, auf die Manuskriptdaten zuzugreifen. In der Branche wurde gelegentlich mit harten Bandagen gearbeitet. Konkurrenten interessierten sich immer dafür, woran die anderen gerade arbeiteten.
Zu Beginn von UNKNOWNs Karriere stand die Idee eines Historien-Thrillers im Raum, wurde aber auf Anraten der Agentur von einem anderen Stoff verdrängt, der dann zum ersten Bestseller führte. Seitdem folgten Bestseller am laufenden Band und die frühere Idee eines historischen Thrillers schlummerte irgendwo abgespeichert auf dem Server. Mit der Begriffseingabe „Würzburg“ ploppte ein gleichnamiges Dateiverzeichnis auf. Beim Blättern durch die verschiedenen Aufzeichnungen kehrte allmählich die Erinnerung an frühere Gedankengänge zurück. Der Entschluss war sofort gefasst: Diesmal würde es ein Historien-Thriller sein! Ohne Zweifel würde der Verlag diesen Stoff mit Handkuss annehmen – wegen des bestehenden Zeitdrucks konnte er gar nicht anders. Der Name UNKNOWN bot zwischenzeitlich die Gewähr für einen Publikumserfolg, auch in diesem Genre. Es würde die Gemüter schnell beruhigen, wenn erst einmal ein paar Seiten Exposé vorlägen.
UNKNOWNs Hand klatschte auf die Schreibtischunterlage. Es war an der Zeit, wieder einmal ein paar spezielle Verbindungen zu aktivieren, die nützlich waren, wenn bestimmte Recherchen und Hilfestellungen benötigt wurden. Manche hatten sich bei Lichte betrachtet häufig in einer Grauzone zwischen Recht und Unrecht bewegt. Wenn man sich, wie UNKNOWN, literarisch im Bereich True Crime betätigte, galt es zwangsläufig, True Crime, also reale Stoffe, zu finden. Gab es hierbei Schwierigkeiten, musste man sie halt provozieren beziehungsweise generieren.
Ganz hinten in einer Schreibtischschublade war eine Schachtel zu ertasten, die ein Prepaid-Handy enthielt. UNKNOWN zog sie heraus und öffnete sie. Neben dem Mobiltelefon älterer Bauart lag eine SIM-Karte. Nachdem sie in den dafür vorgesehenen Slot eingeführt war, startete das Handy. Es war kein Smartphone, besaß also keine Verbindung zum Internet. Im Telefonspeicher stand nur eine Nummer unter der Bezeichnung HYDRA. Nach dem dritten Klingelton meldete sich eine raue männliche Stimme.
„Ja?“
„HYDRA 6625, ich habe wieder mal einen Job. Treffen heute dreiundzwanzig Uhr an bekannter Stelle möglich?“
„Einen Moment.“ Nach kurzer Pause: „Sie sind für HYDRA autorisiert. – Treffpunkt geht in Ordnung.“ Das Gespräch wurde unterbrochen.
UNKNOWN öffnete das Mobiltelefon, fummelte die SIM-Karte heraus, dann verschwand beides wieder in der Schublade. Für das nächtliche Gespräch waren noch einige Vorbereitungen zu treffen.
Die mit den unterschiedlichsten Gräsern dicht bewachsene Waldlichtung im Buchenforst, etwa dreißig Kilometer vom Anwesen entfernt, lag in völliger Finsternis. Der in einen schwarzen Motorraddress gekleidete Mensch auf dem gleichfarbigen Quad wartete, bis der Motor verklungen war, dann öffnete sich das getönte Visier des Helms und der Mensch darunter genoss den erfrischenden leichten Luftzug. Reichlich vor dem Termin war UNKNOWN am Treffpunkt im Wald angekommen und positionierte sich gut getarnt hinter einer Buschgruppe. Bereits in zwei früheren Fällen war diese Stelle als Treffpunkt genutzt worden. Wie damals war das Kennzeichen des Quads mit feuchter Erde beschmiert und somit nicht erkennbar. Beide Parteien legten Wert auf Anonymität. UNKNOWN übte sich in Geduld. Es war kurz vor dreiundzwanzig Uhr. Auch beim letzten Treffen vor über einem Jahr war der Gesprächspartner genau auf die Minute erschienen. In der Ferne hörte man das Heulen eines Waldkauzes. Immer wieder zeugte vereinzeltes Knacken im Unterholz davon, dass kleinere Waldbewohner aktiv waren.
Eine Minute vor der vereinbarten Zeit sah man durch den Bewuchs am Rand der Staatsstraße näherkommendes Scheinwerferlicht. Kurz vor dem Waldweg, der zu der Lichtung führte, erloschen die Lichter und ein großer dunkler Schatten näherte sich auf dem vergrasten Weg mit dem typischen Singen eines Elektromotors. Das Kennzeichen des Wagens war ebenfalls nicht zu erkennen. Er erreichte die Lichtung und stoppte, der Motor erlosch. Das Fahrzeug stand nur eine Armlänge von UNKNOWN entfernt. Fast lautlos wurde das Fenster auf der Fahrerseite geöffnet, dann trat Ruhe ein. Das Innere des großen schwarzen SUVs lag in Dunkelheit und nur schemenhaft waren die Umrisse einer Gestalt hinter dem Steuer zu erkennen. Die Person auf dem Quad wartete einen Moment, ob sich auch niemand auf der Straße näherte, der das Treffen stören könnte. Schließlich gab UNKNOWN ein leises Räuspern von sich, sagte „HYDRA“ und nannte dazu den zugeteilten Zahlencode „6625“.
„HYDRA bestätigt“, antwortete eine tiefe Männerstimme, dann die Frage:. „Was liegt an?“
UNKNOWN formulierte die Wünsche knapp und präzise. Am Ende wollte der Mann am Steuer wissen: „Der Auftrag kann auch robust durchgeführt werden?“
UNKNOWN überlegte einen Augenblick. Robust war ein Terminus technicus und stand für die Option, bei Erfüllung des Auftrags Gewalt anzuwenden.
„Keine unnötige Gewaltanwendung!“ Wobei die Betonung auf „unnötige“ lag. „Ein erstes Konzept und einen groben Ablauf benötige ich spätestens in vierzehn Tagen!“
„Okay“, erwiderte der Mann zustimmend, „bekommen wir hin. Honorar in bekannter Höhe, wie üblich in Bitcoins, die Hälfte als Anzahlung bis morgen, zwölf Uhr, der Rest nach Erledigung. Spesen werden gesondert in Rechnung gestellt. Man wird für den Job etwas Personal benötigen. Unsere Ergebnisse erhalten Sie auf dem bekannten Weg.“
„Alles klar“, gab UNKNOWN zurück. Der Unbekannte startete den Motor seines Fahrzeugs und verließ, ohne Licht zu machen, den Treffpunkt. Erst nachdem er sich ungefähr hundert Meter auf der Straße entfernt hatte, flammte die Beleuchtung des Wagens auf, der sich jetzt schnell entfernte. UNKNOWN wartete eine geraume Zeit und überdachte währenddessen das Gespräch. Die Organisation, die gerade ihre Dienste zugesagt hatte, war extrem zuverlässig und lieferte reale Ereignisse, die in den Thrillern verwertbar waren. Trotzdem waren natürlich auch eigene Recherchen erforderlich. Nachdem so gut wie niemand die Privatperson kannte, die hinter UNKNOWN steckte, war es ihr möglich, sich überall frei zu bewegen. Keiner der ausgespähten Menschen ahnte, wer sich da unerkannt in seinem Umfeld bewegte. Wenig später gab UNKNOWN Gas und lenkte das Quad auf die Landstraße, dann erst flammte das Fahrlicht auf. Noch heute würde die erste Rate des vereinbarten Honorars über mehrere Relaisstationen nicht rückverfolgbar am Ziel eingehen.
Nachdem alle Vorbereitungen erledigt waren, verließ UNKNOWN das Seegrundstück ein zweites Mal, diesmal zu Fuß, schaltete alle Sicherheitsvorrichtungen ein und suchte einen nahen Waldparkplatz auf. Wenig später rollte ein neutraler Mittelklassewagen vom Parkplatz. Fünf Stunden später wurde dieses Fahrzeug auf ein Grundstück in Frankfurt am Main gelenkt, auf dem zwei Dutzend neutrale Mietgaragen standen, die von jedermann angemietet werden konnten. Über einen Funkgeber öffnete sich die Garage mit der Nummer 13 und der Wagen rollte hinein. Von hier aus waren es nur zehn Gehminuten bis zu einem mehrstöckigen Haus, in dem sich ausschließlich Eigentumswohnungen befanden. UNKNOWN betrat den Lift des Gebäudes, die Beleuchtung schaltete sich automatisch ein. UNKNOWN verließ den Aufzug im vierten Stock, wo sich wie auf den übrigen Stockwerken jeweils zwei Wohnungseinheiten befanden. Geräuschlos öffnete sich die Tür eines dieser Apartments und UNKNOWN trat ein. Damit schlüpfte die Person in eine andere bürgerliche Existenz.
Loch Mullagh, ein See im östlichen Teil der Republik Irland, wurde schon seit Tagen von heftigen Stürmen und Unwettern gepeitscht. Bleierne Wolken lasteten über dem Tal und versetzten diesen Teil der Grafschaft seit Stunden in eine Art biblische Finsternis. Blitze fuhren hernieder, von heftigem Donner begleitet. Obwohl erst später Nachmittag, waren in der Burg die fünfundzwanzig Lampen des riesigen Lüsters, der von der Decke des größten Raumes der Burg hing, schon eingeschaltet und wehrten sich erfolgreich gegen das herrschende Zwielicht.
Cillian L. O’Reilly, der Burgherr, stand an einem der mit Blei verglasten Bogenfenster im Kaminzimmer von Mullagh Castle, der Burg seiner Vorfahren, die schon seit vielen Generationen im Besitz seiner Familie war. Er beobachtete die schäumenden Wellenkämme, die dreihundert Meter entfernt gegen das Ufer peitschten. Vermutlich würde der düstere Nachmittag übergangslos in einen ungemütlichen Abend übergehen. Er streichelte Kim, der irischen Wolfshündin, die neben ihm stand und sich leicht zitternd gegen seine Hüfte drückte, beruhigend über den mächtigen Kopf. Die Hündin war bei derartigem Wetter immer nervös. O’Reilly drehte sich um und trat an einen offenen Kamin, in dessen mannshohem Inneren ein Feuer flackerte. Es zog nicht richtig, weil der Sturm oben über dem Dach gegen den Abzug drückte. Es war Sommer in Irland. Nicht ungewöhnlich, dass man auch zu dieser Jahreszeit ein Kaminfeuer vertragen konnte. O’Reilly ließ sich in einen Ohrensessel fallen und griff nach einem mit irischem Highland-Whiskey gut daumenbreit gefüllten Tumbler. Kim ließ sich mit einem Seufzer neben ihm auf einem Hirschfell nieder und legte den Kopf auf die Vorderpfoten. Nachdenklich ließ der Burgherr das goldgelbe Destillat im Glas kreisen. Es hatte Zimmertemperatur und er genoss es ohne Wasser und Eis. Langsam ließ er den ersten kleinen Schluck auf der Zunge vergehen, ehe er ihn hinunterschluckte und sich der herrlichen Wärme im Abgang hingab. Er musste nachdenken. Vor wenigen Minuten hatte er einen schon länger erwarteten Anruf auf sein Handy bekommen.
„Call HYDRA!“, tönte eine Computerstimme aus dem Hörer. Eine Nummer wurde nicht angezeigt. O’Reilly wunderte sich keineswegs über diese kryptische Kontaktaufnahme. In diesem speziellen Metier war Sicherheit oberste Prämisse. O’Reilly würde genau um 12 a. m. (also um Mitternacht) den Rückruf tätigen. Das war der für ihn von HY-DRA reservierte Zeit-Slot. Obwohl er äußerlich ruhig wirkte, tobte in seinem Inneren Aufruhr. Der erwartete Inhalt des Gesprächs war für ihn möglicherweise die Erfüllung seines Herzenswunsches.
Der sechsundfünfzigjährige Ire bewohnte den Westflügel dieser Burg ohne familiären Anhang, allerdings mit seinem Stand entsprechendem Personal. Seine Frau und die beiden Kinder hatten ihn schon vor Jahren verlassen und lebten, finanziell wohlversorgt, in Dublin. Das Personal bestand aus Roger, einem älteren Butler, der sich auch um die Hündin kümmerte, Mary, der Köchin, sowie Lizzy und Dorothy, zwei Reinigungskräften, die täglich damit beschäftigt waren, die unzähligen Zimmer, Flure und Treppenhäuser sauber zu halten. Mehrere Zimmer im Ostflügel waren dem Personal zugeteilt. Dort lebten auch Jo, der Gärtner, und Rick, ein Techniker, der für das Haus und den Fuhrpark verantwortlich war. Letzterer fungierte auch als Bodyguard, Chauffeur und Pilot für den Hubschrauber, den der Hausherr regelmäßig für seine weiteren Reisen in Anspruch nahm. O’Reilly war der Erbe eines großen Vermögens, das seine Vorfahren angehäuft hatten.
Es klopfte dezent an der schweren, zweiflügeligen Eichentür. Auf O’Reillys „Ja bitte!“ trat Roger leise ein. Kim hob aufmerksam den Kopf und wedelte beim Anblick des Butlers freudig mit dem Schwanz. Auf Wunsch des Hausherrn trug Roger keine typische Butler-Uniform, sondern Freizeitlook. Auch für die übrigen Angestellten galt kein Dresscode. Solche Förmlichkeiten waren dem Hausherrn zuwider.
Roger machte einige Schritte in den Raum hinein. „Sir, wann wünschen Sie das Dinner? Und was dürfen wir Ihnen kredenzen?“
O’Reilly warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „In einer guten Stunde. Mary soll sich etwas Leichtes einfallen lassen. Gedünsteter Fisch und Pfannengemüse vielleicht.“ Er nahm den letzten Schluck Whiskey, dabei erhob er sich. „Ich bin jetzt eine Weile in der Kapelle und möchte nicht gestört werden.“
Der Butler nickte, dann verließ er das Kaminzimmer. Er wusste wie das übrige Personal, was O’Reilly mit der Bezeichnung Kapelle meinte. Er kannte die Obsession, die Besessenheit seines Arbeitgebers. Der Hausherr winkte Kim, die sich erhob und ihm anschloss. O’Reilly verließ den Raum mit der hohen Decke aus Eichenbalken, die im Laufe der Zeit eine dunkle, fast schwarze Färbung angenommen hatten, durch die Tür auf der Gegenseite. Kim trottete ihrem Herrn hinterher bis zu einer Wand, die bis zur Decke aus groben Steinen gemauert war. Sie umschloss die Doppeltür eines modernen Aufzugs. Rechts neben dem Rahmen war eine silberfarbene Schalttafel eingelassen, die nur den Rufknopf besaß. O’Reilly drückte ihn und die Tür öffnete sich. Der Hausherr gab Kim ein Zeichen, dass sie zurückbleiben sollte, dann betrat er die Kabine. Dort befanden sich linker Hand vier Knöpfe mit den Wahlmöglichkeiten 1., 2. und 3. Stock. Der unterste Knopf war unbeschriftet, allerdings befand sich neben ihm ein Sicherheitsschloss. O’Reilly steckte einen Schlüssel, den er an einer Kette am Gürtel trug, in das Schloss und drehte kurz um. Damit gab er den Schalter für das Untergeschoss frei. Die Aufzugtüren schlossen sich mit einem Gong und der geräumige Fahrkorb, der problemlos acht Personen hätte aufnehmen können, setzte sich mit einem singenden Motorgeräusch in Bewegung. Der Einbau dieses Lifts hatte ein Vermögen gekostet, stellte aber nur einen unwesentlichen Bestandteil des Aufwands dar, der erforderlich gewesen war, um die Vorstellungen des Hausherrn zu realisieren. Der Aufzug kam zum Stillstand und die Türen öffneten sich. Beim ersten Schritt hinaus flammte eine automatische Deckenbeleuchtung auf, die einen in den Felsen gehauenen, breiten Gang erleuchtete. O’Reilly durchschritt diese relativ lange unterirdische Verbindung zu einem Gebäudeteil an der Oberfläche des Burgareals, in dem sich früher der Pferdestall befand. Schon seit vielen Jahren besaß er keine Pferde mehr. Vom Gang aus betrat er einen Raum, der nichts mehr mit dem jahrhundertealten Baustil der Burg gemein hatte. Es handelte sich um einen Quader aus Stahlbeton mit einer Kantenlänge von dreizehn mal sieben und einer Höhe von sieben Metern, den sich O’Reilly Ende der Neunzigerjahre neu hatte einbauen lassen. Die Wände waren weiß gestrichen, der Boden davor mit einem antistatischen Belag versehen. Die vordere Wand wurde von einer dunkelgrauen Tresortür eingenommen. Ein großer Hebel ragte aus der Mitte der Tür. O’Reilly trat vor die Schalttafel, die rechts neben der Tür eingelassen war. Er drückte einen Knopf, dann hielt er sein Gesicht vor einen Scanner, der seine Iris kontrollierte. Gleichzeitig legte er seine Hand auf eine Glasplatte, die den Abdruck prüfte. Nach wenigen Sekunden erklärte eine Computerstimme „Autorisierung erfolgt!“ und es ertönte ein mechanisches Klicken. O’Reilly legte den Verschlusshebel neunzig Grad nach rechts um und die schwere Tresortür ließ sich mit einem saugenden Geräusch erstaunlich leicht öffnen. Lautlos schwang sie nach außen. Gleichzeitig ging im Inneren des sich öffnenden Raumes eine indirekte Beleuchtung an, die ein warmes, geheimnisvolles Licht verströmte. Leise setzte ein Motor ein, der dafür sorgte, unerwünschte Luftfeuchtigkeit abzusaugen. Der Burgherr überschritt die Schwelle, dann blieb er stehen. Von einem Moment zum nächsten befand er sich in einer anderen Welt. Es eröffnete sich ihm ein aus grauen Felssteinen gemauertes, etwa fünf Meter hohes Gewölbe, an dessen Wänden keltische Ornamentik prangte. Er befand sich im Nachbau einer keltischen Kirche, die in diesen Betonbunker so eingefügt worden war, dass man von der Betonhülle nichts mehr erkennen konnte. Jedes Mal, wenn er diesen Raum betrat, ergriff ihn ein ehrfürchtiger Schauder. Mit glänzenden Augen betrachtete er seine Schätze, die, auf Samt gebettet und von kleinen Scheinwerfern angestrahlt, in gläsernen Vitrinen ausgestellt waren. Es handelte sich um überaus wertvolle Devotionalien, durchwegs Reliquien von irischen Heiligen – meist Märtyrern –, die er in zwei Jahrzehnten gesammelt hatte. Gebeine, Schädel, Kelche, Schwerter und verblasste Stofffetzen zeigten sich dem Betrachter. Er hatte Millionen in die Beschaffung investiert und für die Gutachten ausgegeben, die die Echtheit seiner Schätze belegten. Langsam durchschritt er die etwa zwölf Meter lange und sechs Meter breite „Kapelle“, wie er den Ort nannte. Die Absätze seiner Schuhe erzeugten auf den rauen, unebenen Steinplatten aus dem 9. Jahrhundert ein klackendes Geräusch. Am Ende schloss eine gerade Mauer das Gewölbe ab. Davor befand sich ein Altar, auf dem ein siebzig Zentimeter hoher Schrein stand, dessen vergoldete Außenwände Szenen der Passion Christi zeigten. O’Reilly blieb andächtig stehen und studierte jede dieser Szenen genau. Obwohl er sie schon oft betrachtet hatte, erzeugten sie bei ihm jedes Mal ein ehrfurchtsvolles Frösteln, auch wenn es sich nicht um das Original handelte. Das einzige Ausstellungsstück der Sammlung, das diesen Makel aufwies. Seit Jahren versuchte O’Reilly den originalen Schrein und vor allen Dingen seinen Inhalt in die Hände zu bekommen. Beides befand sich in Deutschland, in der unterfränkischen Stadt Würzburg, in der Kilian und seine beiden Begleiter Kolonat und Totnan einst missionierten und im achten Jahrhundert den Märtyrertod fanden. Der Anruf von HYDRA konnte eigentlich nur eines bedeuten und trieb seinen Blutdruck in die Höhe. Der Burgherr schlenderte von Vitrine zu Vitrine und betrachtete seine Kunstschätze. Viele bedeutende Museen weltweit hätten alles dafür gegeben, wenn der eine oder andere Gegenstand in ihren Besitz gelangt wäre. O’Reilly verließ die Kapelle und schloss die wuchtige Tresortür. Mit einem saugenden Geräusch rastete sie ein. Der Burgherr wusste, dass sich im Inneren die Klimaanlage einschalten würde, um wieder die ideale Raumtemperatur herzustellen. Er fuhr nach oben, wo ihn Kim, die geduldig vor dem Lift gewartet hatte, freudig begrüßte. Jetzt würde er erst einmal dinieren und sich dann mühsam bis Mitternacht gedulden, bis das wichtige Telefonat stattfinden würde. Eine schwere Prüfung.
Nach dem Essen setzte sich O’Reilly in seiner Bibliothek an den mächtigen offenen Kamin und zündete sich zur Verdauung eine teure, handgerollte Havanna an, die er kurz zuvor dem Humidor auf seinem Schreibtisch entnommen hatte. Genüsslich entließ er den Rauch aus seinem Mund, der langsam, zunächst als dichte Wolke, dann sich immer mehr auflösend zur dunklen Holzdecke aufstieg. Mit geschlossenen Augen sog er den Duft des Tabaks ein, der den ganzen Raum ausfüllte. Er beugte sich vor, legte die Zigarre vorsichtig in einen Zigarrenhalter aus Keramik, der neben ihm auf einem Beistelltisch stand, und griff nach einem danebenliegenden Buch, dessen Inhalt er praktisch auswendig kannte. Es war eine in Leder gebundene Erstlingsausgabe einer Veröffentlichung aus dem achtzehnten Jahrhundert über irische Wandermönche. Fünf Minuten vor Mitternacht öffnete er eine Schublade des Beistelltischchens und entnahm ihr ein Prepaid-Handy – ein Gerät, das er nur für ganz bestimmte Zwecke nutzte. Es war mit modernster Sicherheitstechnik ausgestattet und konnte weder geortet noch gehackt oder abgehört werden. Es diente nur der Verbindung mit diesem speziellen Kontakt in London. Mit wenigen Handgriffen öffnete er das Telefon und führte eine SIM-Karte ein, die er aus seiner Westentasche holte. Eine Minute später war das Mobiltelefon hochgefahren und einsatzbereit. Unter den Kontakten war nur eine einzige Nummer abgespeichert. O’Reilly wählte. Die Verbindung kam umgehend zustande.
„Kennwort!“, forderte eine Stimme, die dem Klang nach technisch verfremdet war, so dass man nicht sagen konnte, ob die Person männlichen oder weiblichen Geschlechts war.
„HYDRA 10721“, antwortete O’Reilly.
Es dauerte einen Moment, in dem, wie O’Reilly wusste, seine Identität überprüft wurde, dann meldete sich die Stimme wieder: „10721, Sie sind überprüft. Nennen Sie mir bitte Ihr Anliegen.“
„Ich wurde aufgefordert zurückzurufen.“
„Einen Moment bitte“, antwortete die Stimme, dann trat für einen Augenblick Stille ein. O’Reilly tat einen kräftigen Zug an der Zigarre. Innerlich war er sehr angespannt.
„10721“, meldete sich unvermutet eine andere Person, „wir sind dem Erfolg sehr nahe. Wir haben mehrere Einsatzkräfte vor Ort, die diese Aufgabe meistern werden. Wir müssen allerdings sehr vorsichtig sein, da das Objekt gut abgesichert ist und die Aufmerksamkeit der Menschen vor Ort zu dieser Jahreszeit aus religiösen Gründen sehr stark darauf ausgerichtet ist. Wir werden noch etwas warten, bis sich das Interesse der dortigen Bevölkerung wieder auf andere Dinge richtet. Der Skandal wird aber auch dann immens sein und wir werden mit erheblicher Verfolgung zu rechnen haben. Wir müssen daher weitere fünfzigtausend Bitcoins als zweite Vorschussrate fordern.“
O’Reilly atmete tief durch. „Machen Sie, was erforderlich ist! Ich möchte endlich Ergebnisse sehen! Ich erwarte Ihre Nachricht bis spätestens in einer Woche!“
Er beendete die Verbindung, öffnete das Mobiltelefon und nahm die SIM-Karte heraus. Seit geraumer Zeit arbeitete er an der Erfüllung seiner Träume. Wie es schien, war er dem Ziel noch nie so nahe gewesen wie jetzt. Er blieb noch lange vor dem Kamin sitzen, bis das Feuer völlig heruntergebrannt war. Seine Gedanken gingen zurück zu jenem Moment, als er vor ein paar Jahren bei einer Studienreise nach Franken in Würzburg die Krypta mit den Gebeinen der drei Heiligen betreten hatte. Der Anblick des Schreins der Märtyrer berührte in tief in seiner irischen Seele. Er weckte in ihm den unlöschbaren Wunsch, diese wertvollen Reliquien in seinen Besitz zu bringen und sie gleichzeitig heimzuführen an die Stätte ihres missionarischen Aufbruchs. Koste es, was es wolle!
Die verschlüsselte Verbindung mit 10721 wurde unterbrochen. Die junge Frau am anderen Ende der Leitung schaltete den Stimmverzerrer aus, schob die Schreibtischschublade, in die er eingebaut war, zurück und drehte sich herum. Hinter ihr, in einem durch eine Glaswand abgetrennten Abteil, befand sich ein weiterer, größerer Büroraum, in dem ein bärtiger Mann mittleren Alters an einem Monitor saß und Eingaben machte. Als er bemerkte, dass die Frau ihn fixierte, richtete er sich auf und winkte sie zu sich. Sie erhob sich schwungvoll und betrat das Büro. Sie war etwa einen Meter achtzig groß und besaß einen schlanken, durchtrainierten Körper. Ihre durchdringenden blauen Augen nahmen jeden Menschen sofort gefangen. Niemand, der ihr begegnete, hätte vermutet, dass sie in der Lage war, blitzschnell und nur mit ihren Händen einen Menschen zu töten. Geschmeidig ließ sie sich in einen Sessel vor dem Schreibtisch gleiten. Mit gerunzelter Stirn sah ihr Gegenüber sie an.
„Gill, ich habe gesehen, Kunde 10721 hat angerufen. Gibt es irgendwelche Probleme mit seinem Auftrag? Wie ist der Sachstand dieses Projekts?“
Gill überlegte einen Moment, dann erklärte sie: „John, der Mann ist ziemlich ungeduldig. Sein Auftrag ist allerdings auch sehr besonders und, was sich erschwerend auswirkt, länderübergreifend.“
„Wo liegt das Problem bei dem Job?“
„Er ist ein fanatischer Devotionaliensammler, der, wie du weißt, schon mehrere einzigartige, sehr hochpreisige Objekte bei uns bestellt hat. Jetzt hat er sich die Beschaffung eines wertvollen Schreins mit Reliquien aus Deutschland in den Kopf gesetzt. Wir arbeiten bereits seit Wochen an dem Projekt, sind aber nicht wesentlich vorangekommen … Jetzt gibt es allerdings eine neue Situation, die uns der Lösung dieses Auftrags wahrscheinlich näherbringt. In ein paar Stunden haben wir einen Video-Call mit unserer Gruppe in Deutschland. Wie es scheint, haben die Kollegen dort einen Job angetragen bekommen, der sich mit dem Auftrag von 10721 in Einklang bringen lässt.“
„Sehr gut“, erwiderte John ruhig, „sieh zu, dass du die Probleme in Deutschland umgehend in den Griff bekommst. 10721 ist ein Kunde, den wir auf keinen Fall verärgern dürfen. Er ist noch für einige Aufträge gut.“ Er schob sich aus einer Tüte ein Pfefferminzbonbon in den Mund, dann nickte er ihr zu. Sie konnte gehen. Wortlos erhob sie sich und verließ das Büro.
Hunderte Kilometer Luftlinie von dem Treffpunkt mit UNKNOWN in einem deutschen Wald entfernt, trafen sich noch in der gleichen Nacht mehrere Personen des deutschen Ablegers von HYDRA in einer abseits gelegenen Villa in einer der Vorstädte von Hamburg. Die Villa war von einer gemeinnützigen Stiftung angemietet, die soziale Projekte in Norddeutschland förderte. Das Geheimnis des geschäftlichen Erfolges von HYDRA war die fast unbegrenzte Leistungsfähigkeit der Organisation – und ihre völlige Unbekanntheit. Ziel der jetzigen Besprechung war die Erstellung einer stringenten Einsatzplanung in Abstimmung mit der Zentrale in London, um den Auftrag von UNKNOWN und den eines weiteren Kunden von HYDRA zügig abzuarbeiten. Auch in diesem Business war es sinnvoll, Synergie-Effekte zu nutzen. Einer der anwesenden Männer sah auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten. Für vier Uhr deutscher und drei Uhr Londoner Zeit war eine verschlüsselte Videokonferenz mit der Zentrale vereinbart.
Nach der Konferenzschaltung mit den deutschen Kollegen war Gill klar, dass sich beide Aufträge gut miteinander verknüpfen ließen. Sie informierte John und buchte sogleich einen Flug nach Frankfurt am Main. Sie würde die beiden Unternehmen vor Ort vorantreiben! Ein paar Stunden später bestieg Gill den Flieger nach Deutschland.
Der August war noch relativ jung, doch schon hatten mehrere Hitzewellen zeitweise den Teer auf Würzburgs Straßen zum Kochen gebracht.
Elvira Stark stand am Fenster ihres Wohnzimmers und betrachtete mit besorgter Miene die Balkonpflanzen in den drei Kästen, die nebeneinander auf dem Fensterbrett standen. Sie würde sie wohl in das weniger der Sonne ausgesetzte Schlafzimmer bringen müssen, damit sie nicht eingingen, denn die Fensterscheiben wirkten wie ein Brennglas. Automatisch fiel ihr Blick hinunter auf die Rosengasse, wo sich gerade eine Frau dem Haus näherte. Elvira lächelte erfreut. Es handelte sich um Agnes, die Tochter von Erich Rottmann, die Würzburg offensichtlich wieder mal einen Besuch abstattete, um mit ihrem Freund Florian Deichler, dem Leiter der Würzburger Mordkommission, ein Wochenende zu verbringen. Anscheinend besuchte sie Erich Rottmann, ihren Vater und Elviras Nachbarn unten im Erdgeschoss. Als die sportliche, gut aussehende Frau in den besten Jahren einen Blick nach oben warf, winkte ihr Elvira freudig zu. Agnes entdeckte sie sofort und winkte heftig zurück. Dabei deutete sie mehrmals mit der Hand in Richtung des Obergeschosses, was nur bedeuten konnte, dass Agnes zu ihr hochkommen wollte. Elvira hob den Daumen. Sie wunderte sich. Wenn Erich das mitbekam, würde er sicher misstrauische Fragen stellen. Er hatte sich sowieso schon mehrmals spitz geäußert, weil sich Elvira und seine Tochter so gut verstanden. Irgendwie witterte er dabei immer die Gefahr eines femininen Komplotts. Es klingelte und Elvira drückte den Türöffner. Eilig packte sie die Blumenkästen und trug sie der Reihe nach zum Schlafzimmerfenster. Schöpple, ihr kleiner Hund, tauchte neugierig aus der Küche auf, wo er sich in seinem Körbchen niedergelassen hatte. Schwanzwedelnd stellte er sich vor die Wohnungstür. Er hatte natürlich schon wieder mitbekommen, dass irgendetwas im Busche war. Elvira öffnete rechtzeitig, um zu sehen, dass Agnes gerade die oberste Stufe überwunden hatte. Lächelnd, kaum schnaufend.
„Grüß dich, Elvira!“, rief Agnes und streichelte Schöpple, der sich zwischen die zwei Frauen drängte.
„Hallo Agnes“, freute sich Elvira, „schön, dass du mich mal besuchst. Komm doch rein!“ Sie drückten sich kurz, dann trat Agnes in die Wohnung. Sie trug eine weiße Jeans, die ihre schlanke Figur betonte, und ein hellblaues T-Shirt, das locker über die Hose hing. Ihre Sonnenbrille war nach oben ins blond getönte Haar geschoben und gab ihr gebräuntes Gesicht frei.
Sie ließ sich im Wohnzimmer auf die Couch nieder, was Schöpple veranlasste, an ihren rot lackierten Zehen zu schnüffeln, die vorne aus den halb offenen Sandalen herausschauten.
„Kann ich dir was zu trinken anbieten?“, wollte Elvira wissen. „Ich habe mir gerade frischen Eistee zubereitet.“
„Gerne“, freute sich Agnes, „bei diesen Temperaturen kann man ja gar nicht genug trinken.“
Während Elvira eine Karaffe mit Eistee aus dem Kühlschrank holte, pflegte sie ein wenig Smalltalk.
„Wie läuft das Schmöker Paradies, dein Buchladen in Lichtenfels? Hast du, wenn du heute in Würzburg bist, geschlossen?“