Posttraumata - Günter Huth - E-Book

Posttraumata E-Book

Günter Huth

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Beschreibung

Das Gesicht im Zielfernrohr verzerrte sich zu einem lautlosen Lachen, dann spritzte eine Wolke Blut auf das Objektiv und machte ihm die Sicht unmöglich. Eine Geiselnahme im Amtsgericht Kitzingen wird zum schwärzesten Tag im Leben des SEK-Scharfschützen Adam Rumpel. Ein Fehler von ihm verursacht ein Blutbad, bei dem mehrere Menschen, darunter auch ein Baby, sterben. Von einer Sekunde zur anderen stürzt Rumpel in eine tiefe Identitätskrise. Es dauert Monate ehe er wieder soweit hergestellt ist, dass er im Innendienst des Polizeipräsidiums Würzburg eine Aufgabe übernehmen kann. Unterstützung findet er durch seine Riesenschnauzer-Hündin Eva und bei Lena, einer jungen Rechtsmedizinerin, die ebenfalls an einem schweren persönlichen Schicksalsschlag zu tragen hat. Und gerade, als Rumpel sein Leben wieder in den Griff zu bekommen scheint, erhält er aus unbekannter Quelle mehrere rätselhafte Botschaften: "Leben für Leben", "Auge für Auge", "Zahn für Zahn". Da wird ihm klar, dass jemand aus dem Umfeld seines letzten Einsatzes nach Vergeltung trachtet. Der erste Band einer spannenden Thriller-Reihe rund um den ehemaligen Scharfschützen Adam Rumpel.

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GÜNTER HUTH

Posttraumata

Günter Huth wurde 1949 in Würzburg geboren und lebt seitdem in seiner Geburtsstadt. Er kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Stadt zu leben.

Er war Rechtspfleger (Fachjurist), ist mittlerweile in Pension, verheiratet und hat drei Kinder.

Seit 1975 schreibt er in erster Linie Kinder- und Jugendbücher sowie Sachbücher aus dem Hunde- und Jagdbereich (ca. 60 Bücher).

Außerdem veröffentlichte er bisher Hunderte Kurzerzählungen.

In den letzten Jahren hat er sich vermehrt dem Krimi-Genre zugewandt. 2003 kam ihm die Idee für einen Würzburger Regionalkrimi.

„Der Schoppenfetzer“ war geboren, der heute bereits mit dem zwanzigsten Band vorliegt.

2013 erschien sein Mainfrankenthriller „Blutiger Spessart“, mit dem er die Simon-Kerner-Reihe eröffnete, die eine völlig neue Facette seines Schaffens als Kriminalautor zeigt. Durch den Erfolg des ersten Bandes ermutigt, brachte er in den darauffolgenden Jahren mit den Titeln „Das letzte Schwurgericht“, „Todwald“, „Die Spur des Wolfes“, „Spessartblues“ und „Jenseits des Spessarts“ weitere Bände dieser Reihe auf den Markt. Parallel konzipierte er das Konzept für die neue Frankenthriller-Reihe „Adam Rumpel“, die mit dem ersten Band hier vorgestellt wird.

Der Autor ist Mitglied der Kriminalschriftstellervereinigung „Das Syndikat“.

Die Handlung und die handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.

GÜNTER HUTH

POSTTRAUMATA

Ein Adam-Rumpel-Thriller

Für Thomas

Inhalt

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

Neununddreißig

Vierzig

Einundvierzig

Zweiundvierzig

Dreiundvierzig

Vierundvierzig

Fünfundvierzig

Sechsundvierzig

Siebenundvierzig

Achtundvierzig

Neunundvierzig

Epilog

Fünfzig

Prolog

16. Juni des Schicksalsjahres

Der Scharfschütze betrat mit einem schwarzen Waffenkoffer in der Hand die Wohnung im ersten Stock des Wohnhauses. Die Mieter waren für die Dauer dieses Polizeieinsatzes im Warteraum des nahegelegenen Bahnhofs untergebracht. Den Wohnungsgrundriss hatte er vor ein paar Minuten vom Einsatzleiter auf dem Tablet gezeigt bekommen und ihn sich eingeprägt.

Mit einem Blick ins Wohnzimmer überzeugte er sich davon, dass das rechte Fenster für seine Zwecke geeignet war. Es wies auf ein gegenüberliegendes, knapp hundert Meter entferntes Fenster des Gerichtsgebäudes des unterfränkischen Amtsgerichts Kitzingen und gewährte freie Sicht auf den Tatort. Mit einer zügigen Bewegung zog er sich die Sturmhaube vom Kopf. Hier war er alleine, seine Anonymität blieb damit gewahrt. Das Sondereinsatzkommando, dem er als Scharfschütze angehörte, war vor wenigen Minuten mit dem Hubschrauber auf dem Bahnhofsvorplatz gelandet. Vom Polizeipräsidium Würzburg war es von seinem Standort in Nürnberg angefordert worden, da nach seiner Kenntnis aktuell in dem angepeilten Raum, einem Richterzimmer, eine Geiselnahme stattfand. Er wusste, dass das für derartige Lagen ausgebildete Verhandlungsteam mit dem Geiselnehmer in Verbindung stand und versuchte, die Situation zu deeskalieren. Über ein Headset war er ständig mit der Einsatzleitung verbunden. Mit wenigen kurzen Sätzen meldete er sich einsatzbereit.

Die Alarmierung des SEK war notwendig geworden, da ein bewaffneter Mann mittleren Alters seit dem Morgen in einem Richterzimmer des Amtsgerichts eine Richterin, eine Protokollführerin und eine Mutter mit einem Kleinkind mit einer Schusswaffe bedrohte. Offenbar befand sich der Mann in einem psychischen Ausnahmezustand und es bestand die akute Gefahr, dass er von der Schusswaffe Gebrauch machte, wenn seine Forderungen nicht erfüllt würden. Weitere Einzelheiten spielten für den Scharfschützen keine Rolle. Er war einzig und allein dafür zuständig, im Falle einer weiteren Eskalation der Geiselnahme den finalen Rettungsschuss auszuführen, wenn die Einsatzleitung ihn als Ultima Ratio anordnete. In solch einem Fall kam es auf absolute Präzision an, so dass der Straftäter nicht mehr in der Lage war, einen Schuss abzugeben. Der Beamte musste sich beeilen, durfte dabei aber keine Hektik aufkommen lassen, die seinen Puls in die Höhe getrieben und womöglich eine sichere Schussabgabe beeinträchtigt hätte. Er legte den Hartschalenkoffer auf die Couch, öffnete ihn und entnahm der formgerechten Schaumgummipolsterung das Präzisionsgewehr, auf dem ein Hochleistungszielfernrohr montiert war. Dabei warf er einen Blick zu dem gegenüberliegenden Richterzimmer, in dem sich die Geiselnahme abspielte. Das Fenster dort war geöffnet. Er nickte zufrieden. Seine Aufgabe würde dadurch wesentlich erleichtert, weil er nicht durch die Scheibe schießen musste. Bei derartigen Schüssen bestand immer die Gefahr, dass die Flugbahn des Geschosses beeinträchtigt wurde. Es herrschten draußen aktuell 38 Grad Celsius. Offenbar war es dem Geiselnehmer in dem Raum zu heiß. Sehr vorsichtig entriegelte er nun sein Fenster und öffnete es lautlos. Die Sonne stand günstig, so dass es keine Spiegelung gab. Auf keinen Fall durfte der Täter dort drüben auf ihn aufmerksam werden. Dann zog er den Tisch und einen Stuhl vor das Fensterbrett und legte ein auf der Couch liegendes Kissen darauf. Die beiden schlaff herabhängenden Gardinen verschob er ganz vorsichtig, bis er dahinter gut getarnt war. Jetzt hatte er perfekte Sicht auf den Geiselnehmer. Der aber, sollte er zufällig herübersehen, würde den Gewehrlauf nicht erkennen können. Er führte das geladene Magazin in sein Gewehr ein, lud durch und sicherte die Waffe. Mit einem Lasermessgerät überzeugte er sich davon, dass die Entfernung zum Ziel achtundneunzig Meter betrug. Für seine Fähigkeiten als Scharfschütze keine sehr anspruchsvolle Distanz. Alle diese Vorbereitungen liefen routiniert ab und nahmen nur wenige Minuten in Anspruch. Während der ganzen Zeit konnte er über den Kopfhörer die Verhandlungen des Polizeipsychologen mit dem Straftäter mitverfolgen. Er zog den Schaft der Waffe an die Schulter und sah durch das Okular des Zielfernrohrs. Die sechsfache Vergrößerung ermöglichte ihm einen genauen Blick auf das Geschehen am Tatort. Der Geiselnehmer hielt ein Telefon in der Hand und sprach hastig hinein, während er gut erkennbar mit einer Pistole wild herumgestikulierte. Sein Erregungszustand war ihm deutlich anzusehen. Er stand keine Sekunde still. Und ein weiterer Umstand konnte dem Scharfschützen Probleme bereiten. Der Mann hatte alle Geiseln dicht um sich geschart, was einen Schuss erheblich erschwerte, da er ja auf keinen Fall die Geiseln gefährden durfte. Sofort setzte er eine entsprechende Meldung ab.

„Freie Sicht auf den Täter, allerdings hält er die Geiseln dicht bei sich!“

„Machen Sie sich schussbereit! Die Situation eskaliert wahrscheinlich. Mit der Anordnung des finalen Rettungsschusses ist zu rechnen!“, kam die Stimme aus dem Kopfhörer.

Der Einsatzleiter hatte seinen Satz kaum zu Ende gesprochen, als aus dem Richterzimmer gegenüber ein heiserer Wutschrei ertönte, dem der scharfe Knall eines Schusses folgte. Sofort kam aus dem Kopfhörer der hastige Befehl des Einsatzleiters: „Finaler Rettungsschuss frei, sobald freie Sicht besteht!“

Der Schütze konnte nicht erkennen, was sich drüben ereignet hatte. Das durfte ihn im Augenblick auch nicht ablenken. Er schaltete alle Nebengeräusche und Ablenkungen aus und konzentrierte sich allein darauf, das Fadenkreuz auf den Kopf des Geiselnehmers auszurichten, der bildfüllend im Okular zu erkennen war. Die Geiseln befanden sich in dieser Sekunde nicht in der Schussbahn. Gleichmäßig krümmte er den Zeigefinger, der Schuss brach. Noch während er den Abzug betätigte, ahnte er mehr, als dass er sie sah, eine Bewegung des Geiselnehmers! Der Schuss war aber nicht mehr umkehrbar. Durch das Zielfernrohr konnte er erkennen, dass er den Geiselnehmer nicht tödlich getroffen und damit auch nicht ausgeschaltet hatte. Er konnte nicht erkennen, wo sein Treffer saß. Der Mann schien aber im Bereich des Halses heftig zu bluten und taumelte. Daher verlor er ihn aus der Optik. Ein Nachschuss war nicht möglich. Drüben wurden in kaum messbaren Abständen mehrere Schüsse abgefeuert, die wohl aus der Waffe des Geiselnehmers stammten. Dann hörte er das laute Gebrüll der SEK-Kräfte, die den Tatort stürmten. Wieder knallten zwei Schüsse … dann war Stille … tödliche Stille!

Der Scharfschütze versuchte sich mit Hilfe des Fernglases, das zu seiner Ausrüstung gehörte, Klarheit zu verschaffen. Aber die Situation drüben war durch die vielen durcheinanderschreienden Menschen, die sich plötzlich im Raum befanden, völlig chaotisch. Selbst die Einsatzleitung konnte ihm im Moment keine Aufklärung verschaffen. Sie ordnete seinen Abzug an. Er packte die Utensilien zusammen und stellte den ursprünglichen Zustand des Wohnzimmers wieder her. Nachdem er seine Haube wieder übergezogen hatte, schnappte er sich den Waffenkoffer und verließ das Wohnhaus. Er konnte hier nichts mehr tun. Sein Einsatz war beendet, auch wenn das Ergebnis vermutlich katastrophal war. Er hatte versagt mit noch nicht absehbaren Folgen. Während er sich dem Transporthubschrauber näherte, gellten ihm die Sirenen der am Tatort zusammengezogenen Notarztwagen und der Rettungsfahrzeuge in den Ohren, die die Opfer seines Scheiterns versorgten. Wenig später saß er wieder im Helikopter und wartete auf seine Kameraden und den Rücktransport nach Nürnberg. Scharfschützen blieben nach dem Schuss niemals am Tatort. Er wusste, dass ihn und seine Kameraden eine genaue Untersuchung des Einsatzes erwartete. Dabei würden sein Schuss und die Folgen einer genauen und gnadenlos kritischen Bewertung unterliegen. Das war vorgeschriebene Routine.

Im Rahmen der nachfolgenden Einsatzbesprechung erfuhr der Scharfschütze, Polizeioberkommissar Adam Rumpel, dass die Kollegen des Sondereinsatzkommandos sofort nach seinem Fehlschuss das Büro der Richterin stürmten und den Täter erschossen. Trotzdem gelang es diesem noch, auf die Geiseln und einen SEK-Beamten mehrere Schüsse abzugeben.

Trauriges Ergebnis der Geiselnahme: Die Richterin verstarb durch einen Treffer in die Brust noch am Tatort, kurz nach Eintreffen der Rettungskräfte.

Die Protokollführerin wurde lebensgefährlich verletzt, genas zwar Monate später, war aber auf Dauer vom Becken abwärts querschnittgelähmt und an den Rollstuhl gefesselt.

Das Baby wurde von der Kugel getroffen, die der Geiselnehmer eigentlich seiner Mutter zugedacht hatte. Seine Wirbelsäule wurde dabei zertrümmert, es war auf der Stelle tot. Da das Projektil von seinem kleinen Körper zwar abgeschwächt wurde, ihn aber trotzdem durchschlug, erlitt die Mutter einen Lungensteckschuss. Sie konnte operativ wiederhergestellt werden.

Der Leichnam der Richterin und des Babys wurden noch am selben Tag in das Institut für Rechtsmedizin der Uni Würzburg überstellt. Die amtliche Leichenöffnung war angeordnet und sollte umgehend erfolgen.

Der 16. Juni grub sich unauslöschlich in die Gehirne der Beteiligten ein.

Der verantwortliche Scharfschütze Adam Rumpel brach kurz nach den Ereignissen unter der Last der Verantwortung zusammen. Die Ärzte stellten eine massive posttraumatische Belastungsstörung fest und schrieben ihn krank. In den folgenden Monaten unterzog er sich mehrerer Psychotherapien und einem längeren Kuraufenthalt in einer entsprechenden Klinik. Sein Arbeitgeber, der Freistaat Bayern, gewährte ihm nach Rückkehr aus der Therapie einen längeren Wiedereingliederungsprozess als Leiter einer neu gegründeten Abteilung für die digitale Erfassung von abgeschlossenen Polizeiakten. Nach vollständiger Gesundung sollte er entsprechend seinen Fähigkeiten wieder in einer Abteilung der Kriminalpolizei eingesetzt werden. Durch Zufall erfuhr Rumpel vom Leiter der Polizeihundestaffel, mit dem er befreundet war, dass Eva, eine junge Riesenschnauzer-Hündin, für den Polizeidienst als nicht tauglich befunden wurde, weil sie die erforderlichen Prüfungen nicht bestanden hatte. Rumpel empfand sofort so etwas wie eine Art Seelenverwandtschaft mit der Hündin: Adam und Eva, wenn das kein Zeichen war! Ohne zu zögern, nahm er sie bei sich auf. Ein langer, gemeinsamer Weg begann …

Eins

Am darauffolgenden Tag …

Der Sektionsassistent hatte die tote Frau entkleidet und die teilweise durchbluteten Kleidungsstücke in einem großen Asservatensack sichergestellt. Die Leiche lag bereits auf dem Sektionstisch. Am Lichtkasten hingen Röntgenaufnahmen, die routinemäßig vor der Obduktion von der Leiche angefertigt worden waren. Dr. Kohlhepp, die zuständige Rechtsmedizinerin, die erst vor wenigen Wochen in das Team der Rechtsmedizin der Uni Würzburg eingetreten war, hatte sich bereits umgezogen. Sie trat an den Edelstahltisch heran und drückte den Fußschalter, der das Diktiergerät einschaltete. Bei der äußeren Begutachtung der Leiche, bei der die Tote auch abwechselnd auf die Seiten gedreht wurde, stellte sie für das Protokoll fest, dass es im Oberkörper der Leiche zwar eine Eintritts-, aber keine Austrittswunde gab. Das Projektil steckte also noch im Körper, wie auch die Röntgenaufnahmen belegten. Ihre Aufgabe war es, die Todesursache wissenschaftlich festzustellen und unter anderem das Projektil zu sichern, damit die Kriminaltechnik die tödliche Kugel einer Waffe zuordnen konnte. Nur so war eindeutig festzustellen, ob der Geiselnehmer die Frau tödlich getroffen hatte oder einer der SEK-Beamten einen Fehlschuss abgegeben hatte.

Dr. Kohlhepp konzentrierte sich und machte sich frei von dem Gedanken, dass diese zu Lebzeiten sicher gutaussehende Frau im besten Alter nun zu einem Studienobjekt der Rechtsmedizin wurde. Gekonnt setzte sie den Y-Schnitt und öffnete dadurch den Körper der Toten.

Beruflich war sie ein rational denkender Mensch. Zu Emotionen musste man auf ihrem Arbeitsgebiet eine gesunde Distanz wahren. Sie war sich dessen bewusst, dass sie oftmals die letzte Instanz war, die Verbrechensopfern durch die Aufdeckung von Fakten posthum Gerechtigkeit widerfahren lassen konnte. Sie durchtrennte das Brustbein und beiderseits die vorderen Rippen, dann klappte sie den Brustkorb auf, so dass die inneren Organe nun frei zugänglich vor ihr lagen. Ihr Assistent saugte das stehende Blut ab, damit sie gut sehen konnte. Vorsichtig schob sie die lange Pinzette in den gut sichtbaren Schusskanal, der Teile der Lunge durchschlagen und vermutlich auch das Herz getroffen hatte. Sie stieß schnell auf einen festen Widerstand. Mit Gefühl fasste sie mit der Pinzette zu, griff den Gegenstand und zog ihn langsam heraus. Klappernd fiel das Projektil in eine Petrischale. Kritisch begutachtete sie das blutige Vollmantelgeschoss, das das Leben der Frau vor ihr ausgelöscht hatte.

„Gut erhalten …“, brummelte sie vor sich hin, laut diktierte sie in das vor ihr auf Kopfhöhe hängende Mikrofon: „Extraktion eines augenscheinlich kaum deformierten Vollmantelgeschosses, vermutlich Kaliber 9 mm.“

Sie gab dem Sektionsassistenten einen Wink, woraufhin er das Beweisstück behutsam unter fließendem Wasser reinigte, es dann in eine Asservatentüte einlegte, verschloss und beschriftete. Es würde später der Kriminaltechnik übergeben werden, die weitere Untersuchungen zur Herkunft vornehmen würde. Sie war keine Expertin, konnte aber aufgrund ihrer Erfahrung sagen, dass es sich bei dem Geschoss nicht um ein Projektil handelte, das von Sondereinsatzkommandos eingesetzt wurde. Dieses wäre wesentlich stärker deformiert gewesen, da diese Munition stark aufpilzte, um im Ernstfall gefährliche Durchschüsse zu vermeiden. Dr. Kohlhepp fuhr mit der Untersuchung der inneren Organe fort.

Nach dem Einsatzplan des rechtsmedizinischen Instituts für diese Woche war sie zuständig für die Obduktion dieser weiblichen Leiche, die gestern Mittag zusammen mit dem Leichnam eines Kleinkindes, das bei derselben Geiselnahme getötet wurde, eingeliefert worden war. Die dramatischen Ereignisse im Amtsgericht Kitzingen hatten sich wie ein Lauffeuer in Würzburg und Umgebung verbreitet und waren selbstverständlich auch bis in die Gerichtsmedizin vorgedrungen. Dem Protokoll der Polizei und der Anordnung der Staatsanwaltschaft konnte sie entnehmen, dass es sich bei dem Leichnam um die Richterin am Amtsgericht Anna-Luise Michel-McCallum handelte, die bei einer Geiselnahme erschossen worden war. Nach ihren Informationen war es bei dem polizeilichen Einsatz zu einem heftigen Schusswechsel gekommen, bei dem die Richterin tödlich getroffen wurde.

Dr. Kohlhepp beendete die Sektion eine gute Stunde später. Der Sektionsassistent machte Fotos, um den Schusskanal zu dokumentieren, in den man zu diesem Zweck eine Sonde eingeführt hatte. Hierdurch konnte man Schlüsse auf den Winkel ziehen, aus dem der Schuss abgefeuert wurde, und damit auch auf den Standort des Schützen.

Der Assistent zog die Kopfhaut, die für die Öffnung des Schädels nach vorne gezogen worden war, wieder an Ort und Stelle. Hierdurch erlangte die Tote wieder ein halbwegs normales Aussehen, was später durch den Bestatter weiter optimiert werden würde. Anschließend wurde der Körper zugenäht. Dr. Kohlhepp beendete das Diktat, wusch die Gummihandschuhe ab und zog Schürze und Gummistiefel aus dem gleichen Material aus. Nachdem sie dem Assistenten noch einige Anweisungen gegeben hatte, verließ sie den Raum. Auf dem Weg zu ihrem Büro kam sie am Kühlraum vorbei, hinter dessen Türen sie die Leiche des kleinen Mädchens wusste, das wenig später von einem Kollegen seziert werden würde. Die Obduktion eines Säuglings oder Kleinkindes stellte für sie eine rote Linie dar, die sie nur schwer überschreiten konnte. Diese Hemmung lag in traumatischen Erlebnissen ihrer Vergangenheit begründet. Sie war dem Leiter des Instituts sehr dankbar, dass er auf diese Einschränkung, wann immer es möglich war, Rücksicht nahm. Zum Glück kamen Obduktionen an Kindern relativ selten vor.

Sie betrat ihr Büro, griff zum Telefonhörer und rief den zuständigen Staatsanwalt an, um ihn über das vorläufige Ergebnis der Obduktion zu informieren.

Zwei Wochen danach …

Der hochgewachsene graumelierte, schlanke Mann mittleren Alters im graublauen Anzug, der sich seinem Gegenüber als Roland Michael McCallum vorgestellt hatte, beugte sich über den ovalen Besprechungstisch und fixierte seinen Gesprächspartner mit durchdringendem Blick.

„Herr Staatssekretär, sie wollen mir wirklich allen Ernstes sagen, dass Sie mir die Identität des Scharfschützen nicht verraten können? Der Mann hat den Tod meiner Frau und eines Babys verschuldet, weil er nicht in der Lage war, seinen Job ordnungsgemäß zu erledigen! Von den anderen Verletzten, die für ihr Leben gezeichnet sind, gar nicht zu sprechen! So ein Versagen muss doch geahndet werden! Der Mann ist ein Straftäter und gehört vor ein Gericht gestellt! Sie wissen, ich habe neben der deutschen auch die amerikanische Staatsbürgerschaft und ich habe die US-Botschaft über das Vorgehen der deutschen Behörden instruiert.“

Staatssekretär im bayerischen Justizministerium Anton Waggerl lehnte sich zurück und nickte verständnisvoll.

„Herr McCallum, Sie haben das volle Mitgefühl der bayerischen Staatsregierung, wie ich Ihnen schon mehrfach bekundet habe. Der tragische Tod Ihrer Frau hat uns alle sehr betroffen gemacht. Die Justiz des Freistaates verliert mit Ihrer Gattin eine fähige Juristin und erfahrene Richterin. Es ist uns natürlich klar, dass alles Mitgefühl Ihre Frau nicht wieder lebendig macht. Sie können aber sicher sein, der gesamte Polizeieinsatz in Kitzingen wurde im Rahmen einer internen Untersuchung in allen Details durchleuchtet. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass den gesamten Einsatzkräften vor Ort keinerlei Fehlverhalten vorzuwerfen ist. Der tragische Ausgang des Einsatzes ist die Folge einer Verkettung unkalkulierbarer Vorgänge, die bei derartigen Polizeiaktionen trotz aller Sorgfalt leider vorkommen können. Die Einsatzleitung musste als Ultima Ratio den finalen Rettungsschuss anordnen, da nur hierdurch die Wahrscheinlichkeit der Rettung der Geiseln gegeben war. Der eingesetzte Beamte war ein erfahrener Scharfschütze, der derartige Einsätze schon mehrmals gemeistert hat. Dass es im vorliegenden Fall zu einem Fehlschuss kam, mit den bekannten schwerwiegenden Folgen, ist bei derartigen Einsätzen leider nicht völlig auszuschließen …“ Der Staatssekretär hob bedauernd die Hand.

„Ich werde mich mit dem Ergebnis der von Ihnen geschilderten internen Untersuchung nicht zufriedengeben! Das muss auf den Prüfstand eines ordentlichen Gerichts! Auf jeden Fall verlange ich eine Kopie des schriftlichen Untersuchungsergebnisses“, erwiderte McCallum scharf. „Ich erwarte weiter von Ihnen die Aushändigung der Kontaktdaten des Scharfschützen, damit mein Anwalt ihn persönlich zur Rechenschaft ziehen kann!“

Waggerl schüttelte entschieden den Kopf. „Die Identität unserer Beamten in den Sondereinsatzkommandos wird absolut geheim gehalten, ebenso vertrauliche Untersuchungsprotokolle über deren Einsätze. Diese Männer – und vermehrt auch immer mehr Frauen –, sind in rechtlichen Grenzbereichen der Ausübung der Staatsgewalt unserer Demokratie tätig und unterliegen einer sorgfältigen Auslese. Interne Untersuchungsergebnisse sind immer als geheim eingestuft und bleiben unter Verschluss. So auch in diesem Fall. Es tut mir wirklich sehr leid, ich kann Ihnen aber hierzu bedauerlicherweise nichts anderes sagen. – Daran wird auch eine Intervention der amerikanischen Botschaft nichts ändern.“ Er sah seinem Gegenüber in die Augen. „Nach meiner Kenntnis wird das in den USA in vergleichbaren Fällen nicht anders gehandhabt.“

Roland McCallum sah den Staatssekretär eine Zeit lang schweigend an, dann schob er entschlossen den Sessel zurück und stand auf.

„Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen jedenfalls dafür, dass Sie mich angehört haben. Sie werden verstehen, mit dieser Antwort kann und will ich mich nicht zufriedengeben. Meinen beiden Söhnen wurde die Mutter genommen und mir meine Lebenspartnerin. Das kann nicht ungesühnt bleiben!“

Waggerl erhob sich ebenfalls, zum Zeichen, dass das Gespräch für ihn beendet war. „Es ist sicher kein Trost für Sie, aber Ihre Gattin war innerhalb des Ministeriums aufgrund ihrer herausragenden Leistungen als Richterin in nächster Zukunft für höhere Aufgaben vorgesehen. Sie genoss unser aller Wertschätzung und ihr Ableben trifft auf unser tiefstes Bedauern und Mitgefühl!“

Er reichte Roland McCallum die Hand und begleitete ihn zur Tür. Wortlos verließ der Mann das Büro. Waggerl blieb noch einen Moment stehen und betrachtete nachdenklich die Bronzestatue der Justitia, der Göttin der Gerechtigkeit, die in einer Ecke seines Büros auf einem Marmorsockel stand. Hätte er dem Mann sagen sollen, dass Adam Rumpel, der Unglücksschütze, kurz nach dem Vorfall das SEK verlassen musste, weil er psychisch völlig abgestürzt war? Er schüttelte den Kopf. Was hätte das McCallum nutzen sollen?

Roland McCallum trat vor dem Justizpalast, dem Sitz des Justizministeriums, auf die Straße. In ihm brodelte ein Vulkan. Er wollte Gerechtigkeit, aber auch Rache. Seine ursprünglich aus Schottland stammende Familie lebte seit Generationen in Texas auf einer Ranch, die einer seiner Vorfahren gegründet hatte. Die McCallums waren es gewohnt, derartige persönliche Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen. Die Tatsache, dass er schon lange in Deutschland lebte, änderte nichts an dieser Einstellung. Er arbeitete hier in München seit vielen Jahren als Repräsentant eines weltweit agierenden amerikanischen Ölunternehmens. Seine Frau hatte er vor über zwanzig Jahren bei einer Buchvorstellung im Rahmen der Frankfurter Buchmesse kennengelernt. Sie hatte dort einen international anerkannten Roman präsentiert, den sie über die teilweise kriminellen Machenschaften multilateral agierender Großkonzerne veröffentlicht hatte. Einige Monate später waren sie verheiratet, zwei Söhne kamen in schneller Folge. Seine Frau hatte die Richterstelle in Kitzingen gerne angenommen, da sie hierdurch Gelegenheit hatte, ihrer schriftstellerischen Passion nachzugehen. Eine Versetzung an das Oberlandesgericht mit höherwertigen Aufgaben und besseren Fortkommensmöglichkeiten hatte sie bis jetzt immer ausgeschlagen. Der Wohnsitz der Familie war in Repperndorf, einem kleinen Weindorf bei Kitzingen. Dienstags bis freitags wohnte Roland McCallum in einem Appartement in München, die Wochenenden lebte er in Repperndorf. Aufgrund seiner Position war er zwar weitgehend Herr seiner Zeit, befand sich aber häufig auf Geschäftsreisen. Die beiden Söhne James und Michael Jr. befanden sich auf einem Elite-Internat in England, wo sie eine hervorragende Ausbildung genossen. Sie hatten den Tod ihrer Mutter mit großer Erschütterung aufgenommen und waren erst seit zwei Wochen wieder in England. Solange hatte er abgewartet, ehe er Nachforschungen nach dem Verursacher des Unglücks seiner Familie unternommen hatte. Dass seine Frau und er sich im Laufe der Jahre etwas auseinandergelebt hatten und in vielen privaten und beruflichen Bereichen immer häufiger ihre eigenen Wege gegangen waren, änderte absolut nichts an seiner Einstellung. Sie war seine Frau gewesen, die Mutter seiner Kinder. Der Schutz der Familie ging ihm, wie schon seinen Vorfahren, über alles. McCallum warf einen Blick zum Himmel. Vor das Weiß-Blau hatte sich eine bleierne Wolkenfront geschoben, aus der es in der Ferne bereits blitzte. Er beeilte sich über die viel befahrene Straße zu kommen, um am Stachus in ein Taxi zu steigen. Als er sich in den Sitz sinken ließ, hörte er leisen Donner. Er nannte dem Fahrer sein Ziel und der Wagen reihte sich ziemlich rücksichtslos in den fließenden Verkehr ein, was ein kurzes Hupkonzert auslöste. Eine Reaktion, die der Taxifahrer stoisch ignorierte. Schon nach wenigen Metern fielen die ersten schweren Tropfen auf die Windschutzscheibe. McCallum nahm es nur beiläufig zur Kenntnis. Er dachte daran, dass der Leichnam seiner ermordeten Frau mittlerweile auf dem Weg in die Vereinigten Staaten war. Ein renommiertes Bestattungsunternehmen hatte die Überführung übernommen, nachdem die Staatsanwaltschaft die Leiche freigegeben hatte. Sie sollte dort auf dem Gelände ihrer Ranch, auf dem kleinen Friedhof seiner Familie, ihre letzte Ruhestätte finden. Morgen würde er nach London fliegen, seine Söhne vom Internat abholen und mit ihnen den Flieger nach Texas besteigen, um der Bestattung beizuwohnen. Bei dieser Gelegenheit würde er in den Staaten auch Dinge klären, die seine berufliche Zukunft betrafen. Jetzt musste er aber einige Telefonate führen …

Mehrere Monate später …

Am Morgen, beim Verlassen seines Wohnhauses im Würzburger Stadtteil Zellerau, entging Adam Rumpel das Augenpaar, das ihn aus einem unauffälligen Kastenwagen heraus beobachtete. Erst seit einer guten Woche war er aus der Reha zurück. Seitdem hatte er seine Wohnung nur verlassen, um den Hund Gassi zu führen. Das Auto mit dem Aufdruck einer Elektrofirma war so geparkt, dass der Mann hinter dem Steuer das Wohnhaus von Rumpel gut im Blick hatte, einschließlich der Ausfahrt der Tiefgarage. Er saß hier schon geraume Zeit. Immer wieder verließen Menschen das Hochhaus, die meisten davon wohl auf dem Weg zur Arbeit. Ihm war bekannt, dass seine Zielperson erst seit kurzem wieder in Würzburg war. Früher oder später würde sie das Haus verlassen. Seine Geduld wurde allerdings auf eine harte Probe gestellt. Doch plötzlich ging ein Ruck durch seine Gestalt. Er richtete sich auf und kniff die Augen zusammen. Da war der Mann, von dem er ein Bild in der Tasche trug! Zusammen mit einem großen schwarzen Hund verließ er das Haus, überquerte die Straße und marschierte davon. Er beobachtete den Typen jetzt schon seit einigen Tagen und kannte dessen übliche Morgenroutine. Der heimliche Aufpasser überlegte einen Moment. Besser war, wenn er sich nochmals vergewisserte, dass der Mann heute nicht von seinem üblichen Verhalten abwich. Er wartete geduldig, bis seine Zielperson um die Ecke verschwunden war, dann startete er den Elektromotor seines Fahrzeugs und fuhr langsam mit gehörigem Abstand hinterher. Immer wenn er das Gespann mit den Augen eine Strecke verfolgen konnte, setzte er den Blinker rechts und stoppte. Zufrieden brummte er, als er sah, dass beide in Richtung Main abbogen. Der Mann würde jetzt den Hund einige Zeit laufen lassen und dann nach Hause zurückkehren. Als es die Verkehrssituation zuließ, wendete der Beobachter seinen Wagen und fuhr zum Wohnhaus zurück. Jetzt musste er sich beeilen. Sein Stellplatz von vorhin war noch immer frei. Er parkte erneut, dann stieg er aus, nahm sich einen geräumigen Aktenkoffer vom Rücksitz und marschierte zielstrebig in Richtung Hochhaus. Auch der Aufdruck seines Arbeitsblousons und die dazugehörende Basecap sowie die Beschriftung des Wagens wiesen ihn als Mitarbeiter einer Elektrikerfirma aus. Die zahlreichen Namen auf dem Klingelschild zeigten, dass ein A. Rumpel im obersten Stockwerk wohnte. Als er gerade bei einem beliebigen Namen klingeln wollte, um ins Haus hineinzukommen, öffnete sich die Tür und ein älterer Junge trat heraus. Der vermeintliche Elektriker lächelte ihm freundlich zu und trat hinter ihm ein. Der Junge beachtete ihn nicht. Der Aufzug stand bereits im Erdgeschoss, so dass er ihn sofort betreten konnte. Ohne Unterbrechung fuhr der Lift mit singendem Motor ins oberste Stockwerk. Obwohl er sicher war, dass sich niemand in Rumpels Wohnung befand, drückte er auf die Klingel. Sollte tatsächlich noch jemand anderes als die Zielperson in der Wohnung sein, hatte er sich ganz einfach im Stockwerk geirrt. Aber wie erwartet blieb alles still. Zügig zog er sich Gummihandschuhe über. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand auf diesem Stock unterwegs war, zog er ein Hightechgerät aus der Beintasche seiner Arbeitshose, führte zwei herausragende Stifte in das Schloss ein und drückte einen Knopf. Das Gerät vibrierte leicht, dann, nach einigen Sekunden, gab es ein knackendes Geräusch, als sich das Schloss öffnete. Diese Technik war so ausgereift, dass am Schloss keinerlei Beschädigungen zurückblieben. Der Mann schüttelte über die Nachlässigkeit des Bewohners den Kopf. Obwohl dieser Polizist war, war die Tür nur zugezogen gewesen, wodurch das Gerät sehr leichtes Spiel hatte. Mit einem Schritt überquerte der Eindringling die Schwelle und schloss leise die Tür. Er blieb stehen und lauschte. Kein Geräusch. Er rümpfte die Nase, als er die abgestandene Luft zur Kenntnis nahm. Es roch stark nach Hund! Zügig machte er sich jetzt an die Arbeit. Er war ein Fachmann seines illegalen Gewerbes. Ohne Gegenstände zu berühren oder ihren Standort zu verändern, kontrollierte er zunächst jeden Raum, dann öffnete er seinen Koffer. Es dauerte nur knappe fünfzehn Minuten, dann war sein Job erledigt. Mit einem letzten Rundblick vergewisserte er sich, dass er keine Hinweise auf seine Tätigkeit hinterlassen hatte, dann öffnete er die Wohnungstür und lauschte ins Treppenhaus. Von weiter unten hörte er die lauten Stimmen einer Unterhaltung, die dann aber in irgendeiner Wohnung verklangen. Der ungebetene Besucher huschte hinaus und zog die Tür hinter sich zu, dann rief er den Aufzug. Wenig später drückte er den Knopf für die Tiefgarage. Dort hatte er ebenfalls noch ein paar Kleinigkeiten zu erledigen.

Es bereitete ihm keine Probleme, das Auto seiner Zielperson zu finden, da er entsprechende Informationen hatte. Auch in der Tiefgarage war außer ihm keine Menschenseele. Das Fahrzeug war ein älteres Modell und das Schloss leicht zu knacken. Ein kurzer Moment, dann hatte er auch hier seinen Job erledigt. In einer Nische entdeckte er den beschilderten Eingang zum Keller. Dort musste er noch eine wichtige Komponente installieren. Er betätigte den Türgriff, es war nicht abgeschlossen. Ein Grinsen zog über sein Gesicht. Der Leichtsinn der Leute erleichterte ihm oft die Arbeit. Der Keller war menschenleer, die einzelnen Kellerabteile durch Maschendraht abgeteilt. Sein erfahrenes Auge fand schnell eine geeignete Stelle, wo er das Relais aufstellen konnte. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass es niemandem auffallen würde, prüfte er kurz die Funktionsfähigkeit. Er brummte zufrieden. Alles war so, wie es sein sollte! Die interne Batterie würde es mehrere Wochen autark mit Strom versorgen und zuverlässig Bilder an eine Cloud im Darknet senden, die er kontrollierte. Wenig später saß er wieder hinter dem Steuer. Er nahm seinen Laptop vom Rücksitz und startete ein spezielles Spionagetool, mit dem er alle Geräte kontrollieren konnte, die er gerade installiert hatte. Die Kameras in den Räumen waren so angebracht, dass man die Räume im Weitwinkelmodus gut überblicken konnte und Rumpels Vierbeiner nicht aus Versehen die Geräte umstoßen konnte. Zufrieden schaltete er die Modi „Bewegungsmelder“ und „Nachtsicht“ ein, so dass die Geräte Tag und Nacht nur dann Bilder an seine Cloud sendeten, wenn sich jemand in der Wohnung aufhielt. So konnte sich sein Auftraggeber jederzeit über die Aktivitäten Rumpels informieren. Auch die Tracker, die er an Rumpels Wagen und dem im Wagen befindlichen Hundegeschirr sowie an einem Rucksack angebracht hatte, funktionierten einwandfrei. Die Motive seines Auftraggebers, der ihm persönlich natürlich nicht bekannt war, interessierten ihn nicht. Man hatte über das Darknet in anonymisierter Form mit ihm Kontakt aufgenommen und den Auftrag detailliert besprochen. Hauptsache, der Mensch konnte sich die nicht unbedeutenden Kosten dieser Überwachung leisten. Ein entsprechender Betrag in Bitcoins war ihm bereits gutgeschrieben worden. Er klappte den Laptop zu und legte ihn wieder auf die Rückbank. Nachdem er die Tracking-App auf dem Handy geschlossen hatte, schrieb er noch eine Nachricht an eine Nummer, die nicht zurückverfolgt werden konnte. Wenig später war er auf der Autobahn in Richtung Frankfurt am Main unterwegs.

Zwei

Das Fadenkreuz des Zielfernrohrs huschte haltlos vor seinem Zielauge hin und her. Er konnte sich anstrengen, wie er wollte, er bekam es einfach nicht in den Griff! In ständigem unregelmäßigem Wechsel, mal scharf, dann wieder unscharf, zeichnete sich im Objektiv stark vergrößert ein menschliches Gesicht ab, dessen übergroße Augen auf ihn zurückstarrten. Wie konnte das sein? Sie fokussierten ihn! Fraßen sich regelrecht in ihn hinein! Gleichzeitig dröhnte in seinem Kopf der über das Headset an sein Ohr dringende Befehl des Einsatzleiters: „Finaler Rettungsschuss nach eigenem Ermessen frei …! Finaler Rettungsschuss nach eigenem Ermessen frei …!

Verzweifelt versuchte er sich zu konzentrieren, um einen sicheren, tödlichen Schuss auf den Kopf hinter dem Fadenkreuz abzugeben. Dann erklang plötzlich eine Serie von überlauten Schüssen aus einer unbekannten Quelle. Das Gesicht im Zielfernrohr verzerrte sich zu einem lautlosen Lachen, dann spritzte eine Wolke Blut auf das Objektiv und machte ihm die Sicht unmöglich. Er stieß laute, heisere Schreie aus, war aber nicht in der Lage, das Bild zu schärfen. Verzweiflung zog ihn in einen lähmenden Sog.

Von irgendwoher fühlte er plötzlich den klammernden Griff einer Hand, die an ihm rüttelte. Heftig schlug er um sich, um diese Kraft abzuschütteln. Er musste sich doch auf den rettenden Schuss konzentrieren! Ein wütender Schrei quälte sich aus seiner Kehle und mischte sich mit einer anderen lauten Stimme, die langsam immer dominanter zu ihm durchdrang. Nur mühsam lichtete sich der dichte Nebel, der ihn in diesem schrecklichen Traumbild gefangen hielt.

„Rumpel …! Rumpel, wach auf!“

Es war eine weibliche Stimme, die nahe seinem Ohr auf ihn einsprach. Die Erkenntnis, dass er diese Stimme irgendwoher kannte, kämpfte sich mühsam in seine langsam realer werdende Wahrnehmung. Er hörte sein eigenes Keuchen, das ihn aus dem Traum herausbegleitete. Mühsam überwand er den Widerstand der Lider und öffnete die Augen. Mit der Handfläche seiner Rechten wischte er über sein Gesicht, um auch die letzten imaginären Schleier zu beseitigen, die seinen Verstand umwoben hatten. In der Dämmerung des Schlafzimmers blickte er direkt in die intensiv blauen Augen einer Frau, die neben ihm im Bett lag und sich über ihn beugte. Er roch sie intensiv und klar. Eine Mischung aus Flieder und Schweiß. Lena, fiel ihm übergangslos ein, sie hieß Lena. Es dauerte einen weiteren Moment, ehe zaghaft die Erinnerung aufschien, die ihn in abgerissenen Szenen ahnen ließ, wie sie in sein Bett gekommen war. In seinem Kopf herrschte ein fürchterliches Durcheinander, dessen Bruchstücke sich erst ganz langsam zu einem Mosaik zusammenfanden.

Die Jalousien des Fensters waren nur zu drei Viertel heruntergelassen und die Lamellen ließen den Schimmer des erwachenden Tages herein. Er hob den Kopf und registrierte, dass er nackt war, ebenso wie die Frau neben ihm. Es war warm im Zimmer, warm und stickig.

„Was war das?“, flüsterte sie leise, während sie ihm eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn strich. „Geht es dir gut?“ Ihre Stimme klang etwas kratzig, aber es war ihr eine gewisse Besorgnis anzumerken.

Er hob mühsam den Arm und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Kurz vor fünf. Sein Schädel fühlte sich an, als würde in seinem Kopf ein Schmiedehammer glühendes Eisen bearbeiten. Wahrhaftig kein Moment für tiefschürfende Erklärungen!

„Mach dir keinen Kopf, nur ein beschissener Albtraum!“, gab er krächzend zurück. Er setzte sich auf und stellte die Füße auf den Bettvorleger. Sofort befiel ihn heftiger Schwindel. Nur langsam kam das Karussell in seinem Gehirn zum Stillstand.

„Wahrscheinlich war einer der verdammten Whiskys gestern schlecht“, knurrte er gereizt. Wieder ein Stück Erinnerung, das zurückkam. Mühsam erhob er sich.

„Komme gleich wieder“, erklärte er und kratzte sich geräuschvoll am nackten Hintern, während er in Richtung Badezimmer schlurfte. Sein Blick streifte dabei die unbekleidete, schlanke Frauengestalt, die sich mit zurückgeschlagener Zudecke ungeniert auf dem Laken präsentierte. Schnell musste er sich am Türrahmen festhalten, weil erneut ein heftiger Schwindelanfall nach ihm griff. Dieser verdammte Traum hatte diesmal seine zerstörerische Wucht besonders brutal entfaltet. Immer wieder quälte er ihn, in unregelmäßigen Abständen, mit wechselnder Intensität. Besonders wenn Alkohol im Spiel war … und das war bei ihm häufig der Fall. Er musste unbedingt mit dem Saufen aufhören! Whisky war ein gnadenloser Beschleuniger. Das hatte man ihm in der Reha immer wieder eindringlich nahegelegt. Nicht dass ihn das besonders interessiert hätte.

Er trat ins Bad. Im Vorübergehen warf er einen Blick in die Türspiegel des Badezimmerschrankes. Das Gesicht, das ihm da, von den LED-Lampen grell beleuchtet, entgegenblickte, war absolut nicht dazu geeignet, seine Stimmung zu heben.

So sah er aus, Adam Rumpel, Polizeioberkommissar, zweiundvierzig Jahre alt, hagere Gesichtszüge, die von einem dunklen Bartschatten betont wurden. Seine brünetten Haare waren verschwitzt und standen in alle Himmelsrichtungen ab. Die tief in den Höhlen liegenden blauen Augen waren von einem rötlichen Aderngeflecht durchzogen. Wenn er sich in diesem Zustand hätte schätzen lassen, wäre er wahrscheinlich sofort pensioniert worden. Von sich selbst angewidert, wandte er sich ab und hob den Klodeckel hoch. Während er urinierte, starrte er geistesabwesend auf das Etikett eines Reinigungsmittels, das auf dem Spülkasten stand, ohne die darauf enthaltenen Informationen zur Kenntnis zu nehmen. In Wirklichkeit sinnierte er darüber nach, wie sein erstes Zusammentreffen mit der Frau in seinem Bett zustande gekommen war.

Drei

Die Geschichte begann ungefähr vier Wochen zuvor. Die Reha, in der seine posttraumatische Belastungsstörung therapiert werden sollte, hatte er bereits vor einiger Zeit auf eigenen Wunsch und gegen den Rat der Ärzte abgebrochen. An dem fraglichen Tag hatte er seine Wohnung im Würzburger Stadtteil Zellerau kurz nach sechzehn Uhr verlassen, um Eva etwas Auslauf zu ermöglichen. Seine Laune war auf einem Tagestiefstand. Der Polizeipräsident hatte ihm zwei Stunden davor über die Personalabteilung mitteilen lassen, dass er morgen um vierzehn Uhr erneut bei ihm zu einem Personalgespräch eingeladen sei. Er hatte wirklich keinen Bock auf dieses Gelaber, dessen Inhalt er sich schon lebhaft ausmalen konnte. Sicher würde er ihm wieder Vorhaltungen machen, weil er die Therapie abgebrochen hatte. Eva, seine schwarze, vierjährige Riesenschnauzerhündin, die nun schon seit einiger Zeit bei ihm lebte und ihn auch während der Reha begleitet hatte, war ein Stück vor ihm den Gehsteig entlanggetrabt. Als Herr und Hündin das „BULLEN-PUB“, eine gemütliche Eckkneipe, die auf dem Weg zu seiner Wohnung lag, passierten, pfiff er hinter Eva her, die daraufhin stehen blieb und ihn fragend ansah. Nach dem tragischen Vorfall in Kitzingen war er während der internen Ermittlungen zu diesen Ereignissen relativ regelmäßig hierhergekommen und hatte versucht seine Schuldgefühle im Alkohol zu ertränken. Nach seiner Rückkehr aus der Reha war es aktuell das erste Mal gewesen, dass er wieder das Pub betrat. Eva hatte sich aber gemerkt, dass dies ein Ort war, den ihr Mensch gerne aufsuchte. Ursprünglich hatte Rumpel den Plan gehabt, sich mit einer Flasche Whisky zuhause zu begraben. Kurzentschlossen entschied er sich um, drückte die Klinke und betrat die Kneipe. Plötzlich verspürte er Durst auf ein gepflegtes Guinness. Obwohl draußen noch das volle Tageslicht eines sonnigen Julimittwochs herrschte, tauchte er in das gedämpfte Halbdunkel des Gastraumes ein. Nur durch eine längliche Leuchte mit Werbeaufdruck einer Brauerei, die über dem langen Tresen hing, und ein paar Lampen über einzelnen Tischen wurde der Raum halbwegs erhellt. Die Kneipe war wie ein original irisches Pub eingerichtet, aus dessen Zapfanlage Guinness und Ale flossen. Wer darauf bestand, konnte aber auch aus einem dritten Hahn ein Pils vom Fass bekommen. Außerdem schenkte Richi, der Wirt, hervorragenden irischen und schottischen Whisky aus. Irgendwie fühlte sich Rumpel in dieser Atmosphäre immer entspannter. Die meisten der wenigen Tische waren belegt, im Hintergrund des schlauchartigen Raums saßen vier weitere Gäste und spielten lautstark Karten. Richi, ein vollbärtiger Endfünfziger mit fettigen, zu einem Pferdeschwanz zusammengefassten Haaren, stand am Spülbecken und wusch Gläser.

„Grüß dich, Rumpel“, begrüßte er den neuen Gast, „auch wieder im Land …“ Dass zwischen Rumpels letztem Besuch und heute eine längere Zeitspanne lag, thematisierte er nicht. Eva war sofort hinter den Tresen gehuscht und begrüßte Richi freudig. Der Wirt lachte und streichelte sie dabei ausgiebig. Sie hatte sich auf die Hinterläufe aufgerichtet und stützte ihre massiven Vorderpfoten auf der Brust des Mannes ab. Dabei schleckte sie ihm mit Begeisterung quer über den wuchernden Vollbart. Wusste der Himmel, was die feine Hundenase aus dem wilden Gestrüpp für Gerüche herausfilterte.

„Mein Gott, Eva, ich habe mich heute schon gewaschen“, wehrte Richi lachend die Hündin halbherzig ab. Mit einer Hand öffnete er eine Schublande und fischte eine Knabberstange für Hunde heraus, die er hier für Evas frühere Besuche noch vorrätig hatte. Die Hündin schnappte sich die Stange, dann ließ sie von Richi ab und verzog sich damit unter den nächsten Tisch neben dem Tresen, an dem sich ihr Mensch vor der Reha für gewöhnlich niedergelassen hatte.

„Du hast sie immer verwöhnt“, stellte Rumpel ungerührt fest. „Da darfst du dich nicht wundern, wenn sie zum Wegelagerer wird. Diesbezüglich hat sie ein langes Gedächtnis …“

Richi zuckte mit den Schultern. „Wie immer?“, wollte er wissen, hatte aber schon ein Glas in der Hand und griff zum Zapfhahn für Guinness.

„Blöde Frage“, stellte Rumpel schlecht gelaunt fest und stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tresen ab. Richi nahm das ungerührt zur Kenntnis und ließ das frische Guinness ins Glas laufen. Sofort bildete sich eine cremige Schaumkrone. Rumpel war ein ausgesprochener Fan dieses Bieres. Ein weiterer Vorzug des BULLEN-PUBs bestand darin, dass Richi die Meinung vertrat, dass jeder, der hier sein Bier trank, unausgesprochen das Recht erwarb, sich stimmungsmäßig treiben lassen zu können – solange er anderen Gästen damit nicht auf die Nerven ging. Ein Umstand, den Rumpel gerne in Anspruch nahm. Die Kneipe verdiente ihren Namen zu Recht, war sie doch durch ihre Nähe zum Polizeipräsidium für viele Uniformierte Anlaufstelle nach der Schicht.

Rumpel war einer jener Gäste, die Richi eigentlich noch nie gut gelaunt erlebt hatte. Unter den anderen Polizisten hatte er das Image eines notorischen Grantlers. Aber das war ihm egal. Rumpel hatte sicher seinen Grund, wie er gerüchtemäßig mitbekommen hatte. Aber das ging ihn nichts an. Rumpel schnappte sich sein Guinness und setzte sich an seinen alten Stammplatz.

In seiner Erinnerung waren um diese Uhrzeit die meisten Plätze an den Tischen mit Polizisten besetzt. Viele waren in Uniform, da sie von der Schicht kamen oder diese bald antreten mussten. Die Kollegen, die Rumpel kannten, nickten ihm zwar zurückhaltend zu, er blieb aber an seinem Tisch alleine. Irgendwie umgab ihn die Aura des Unberührbaren, mit dem man nicht umzugehen wusste. Schweigend starrte er vor sich hin und musterte den Pegel in seinem Glas, der sich nun auch beim mittlerweile vierten Bier kontinuierlich dem Glasboden näherte. Eva hatte es sich unter dem Tisch auf der Seite liegend bequem gemacht und schnarchte. Die vielen durcheinanderschwirrenden Stimmen in ihrem Umfeld störten sie nicht.

Irgendwann ging die Tür der Kneipe auf und eine blonde, kurzhaarige Frau betrat das Lokal. Rumpel konnte sich an diesen Moment genau erinnern. Das war der Moment, in dem sich sein Leben ändern sollte. Die Frau trat nicht ein, sie trat auf! Schlank und hochgewachsen, trug sie einen leichten dunkelblauen Trenchcoat, der sich locker um ihre Figur legte. Darunter trug sie Jeans und eine Lederjacke. Ihr Alter war schwer schätzbar, sie wirkte aber ausgesprochen jugendlich.

„Grüß dich, Doc“, begrüßte der Wirt den neuen Gast. Rumpel erinnerte sich nicht, die Frau schon einmal hier gesehen zu haben. Für einen Augenblick riss ihn ihr Anblick aus seiner Lethargie. Als er bemerkte, dass er sie regelrecht fixierte, widmete er sich schnell wieder seinem Bier.

„Servus Richi“, erwiderte sie und bekundete damit, dass sie mit den hiesigen Gepflogenheiten vertraut war. Jeder, der mehr als einmal hier Gast war, nannte den Wirt nur Richi. Seinen bürgerlichen Namen, Richard Salender, kannten die wenigsten. Sie verharrte einen Augenblick vor dem Tresen, dabei ließ sie den Blick ihrer hellblauen Augen durch den Gastraum schweifen.

„Schenk mir bitte einen Silvaner ein“, bat sie dann, „ich muss einen schalen Geschmack runterspülen.“

„Geht klar, Doc“, gab der Wirt zurück, stellte aber keine weiteren Fragen.

Offenbar war die Blonde Ärztin, dachte Rumpel. Wie sonst war die Anrede Doc zu begründen? Rumpel hatte keine Ahnung, woher Richi immer seine Informationen hatte, aber er kannte die meisten seiner Gäste, zumindest die, die im Polizeidienst tätig waren, besser als die Personalabteilung im Präsidium.

Richi holte einen Bocksbeutel aus dem Kühlschrank, öffnete ihn und goss ihr ein Glas ein. Rumpel wunderte sich, dass der Wirt Wein im Angebot hatte. Nur wenige Gäste verlangten hier nach diesem Getränk, fast alle tranken Bier. Sie griff sich das Weinglas und nippte daran. Dabei wandte sie sich vom Tresen ab und sah sich um. Sie überlegte offenbar, wo sie sich hinsetzen sollte. Ihr war offenbar nicht nach Gesellschaft. Der Tisch neben dem Tresen, an dem ein einzelner Mann saß und an dem noch reichlich Platz war, erschien ihr annehmbar. Er starrte irgendwie geistesabwesend vor sich hin und sein Interesse schien offenbar alleine seinem Bierglas zu gelten.

„Hallo … was dagegen, wenn ich mich setze?“, erinnerte sich Rumpel an ihre Frage und an ihre angenehme Stimme. Sie stand neben seinem Tisch und sah ihn fragend an. Er war über diese Störung nicht gerade begeistert. Den Wunsch abzulehnen wäre schon sehr unhöflich gewesen. Er gab ein schwer definierbares Geräusch von sich, welches sowohl Zustimmung wie Ablehnung bedeuten konnte. Sie unterstellte offenbar Ersteres, denn sie ließ sich diagonal von ihm auf den freien Stuhl gegenüber nieder. Sofort entfuhr ihr ein halb erstickter Aufschrei, als sich unvermittelt zwischen ihren Beinen ein dicker schwarzer Hundekopf nach oben schob und ihr über die Hand leckte. Erschrocken fuhr sie hoch. Ein Teil des Weins schwappte über und bildete eine Lache auf dem Tisch.

„Verflixt! Können Sie mich nicht warnen!“, schimpfte sie. Eva war offenbar ebenfalls hochgeschreckt und beschnupperte nun interessiert die Frau. Dabei stellte sie ihre Knickohren auf und fiepte freundlich.

„Mann, stell dich nicht so an!“, brauste Rumpel auf. „Es hat keiner gesagt, dass du dich hierhersetzen sollst! Eva tut keiner Seele was zuleide und irgendwelchen zickigen Weibern schon gar nicht!“

So schnell, wie die Frau handelte, konnte Rumpel, der aufgrund des vorausgegangenen Alkoholkonsums schon ziemlich angezählt war, nicht reagieren. Sie griff sich blitzschnell sein Bierglas und schüttete ihm den restlichen Inhalt mitten ins Gesicht. „Damit du von der Zicke auch etwas hast!“, schleuderte sie ihm wütend entgegen, dann packte sie ihr Weinglas, stand auf und setzte sich damit auf einen Barhocker am Tresen. Der Vorfall löste unter den anderen männlichen Gästen ärgerliches Gemurmel aus. Langsam wischte sich Rumpel mit dem Ärmel das Bier aus dem Gesicht. Urplötzlich spürte er einen irrationalen, unwiderstehlichen Drang zu lachen, den er nicht unterdrücken konnte. Lauthals kicherte er los. Richi kam mit einem Lappen hinter dem Tresen hervor und begann die Wein- und Bierpfützen aufzuwischen. Dabei beugte er sich zu ihm hinab und zischte mit gedämpfter Stimme: „Rumpel, du Trampel, kannst du dich nicht ein bisschen zusammenreißen? Das ist eine sehr nette Frau, die seit kurzem in Würzburg als Rechtsmedizinerin arbeitet und das BULLEN-PUB gerne besucht. Ich denke, du solltest dich bei ihr entschuldigen und dann deinen Hund schnappen und heimgehen. Du hast für heute genug. Wenn du nüchtern bist, kannst du gerne wiederkommen. Ich schreib die Zeche und die der Frau auf deinen Deckel.“

Wenn Richi eine solche Empfehlung aussprach, war es besser, ihr nachzukommen. Deshalb erhob er sich und wankte mit Eva im Gefolge in Richtung Ausgang. Dabei kam er an der Frau am Tresen vorbei, die ihm den Rücken zukehrte und ihn völlig ignorierte. Eva hingegen blieb neben ihr stehen und sah sie schwanzwedelnd an.

„Tut mir leid“, brummelte Rumpel kaum verständlich im Vorübergehen und tappte in Richtung Tür. So konnte er nicht sehen, dass die Frau Eva kurz über den Kopf strich, was sich die Hündin gerne gefallen ließ.

In der folgenden Nacht war der Traum besonders brutal gewesen. Zitternd lag er stundenlang wach.

Es vergingen mehrere Tage, ehe er das BULLEN-PUB an einem späten Nachmittag wieder betrat. Es war noch nicht viel los. Mit keinem Wort erwähnte Richi seinen Fehltritt. Er zapfte Rumpel sein Guinness und gab Eva ihren Keks, den sie mit einem Happs hinunterschlang. Rumpel setzte sich an seinen Stammplatz, griff nach einer Tageszeitung und blätterte darin herum. Eva bezog ihren Platz unter dem Tisch und legte den Kopf auf den Schuh ihres Menschen. Wenig später öffnete sich die Kneipentür und die Rechtsmedizinerin betrat die Kneipe. Rumpel registrierte sie sofort. Mit Erstaunen bemerkte er, dass sich sein Puls beschleunigte. Sie begrüßte Richi, dann bestellte sie einen Schoppen Silvaner. Als sie sich nach einem Tisch umsah, erhob sich Rumpel etwas linkisch und bot ihr bei sich einen Platz an.

„Mein Verhalten von vor ein paar Tagen … tut mir leid“, erklärte er etwas hölzern, während sie stehen blieb und ihn musterte. „Ich hatte einen schlechten Tag. – Vielleicht darf ich … Sie … also … dich, wenn’s recht ist, … als kleine Entschuldigung zu einem Schoppen einladen …?“

Eva hatte sie natürlich ebenfalls entdeckt und kam schwanzwedelnd unter dem Tisch hervor, um sie zu begrüßen. Während sie der Hündin, die ihr fast bis zur Hüfte reichte, den Hals kraulte, erwiderte sie: „Lena …, wir können gerne beim Du bleiben. Wenn du mich schon so freundlich einlädst, kann ich ja fast nicht nein sagen.“ Langsam ließ sie sich am Tisch nieder, während sich Eva auf ihren Platz verzog. Aufmerksam betrachtete die Frau ihr Gegenüber. Rumpel erinnerte sich, sich schon lange nicht mehr so beklommen gefühlt zu haben.

„Wollte mich einfach entschuldigen“, begann er nervös. „Neulich … Ich hatte beruflichen Ärger …“

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich war an diesem Tag auch ziemlich schlecht drauf. Vergessen wir’s …“ Sie hob ihr Glas und prostete ihm zu.

Erleichtert prostete Rumpel zurück. „Ich bin übrigens Rumpel. Jeder nennt mich nur Rumpel …“ Sie nickte.

„Ziemlich großer Hund.“ Offensichtlich suchte sie ein neutrales Gesprächsthema.