Der Schoppenfetzer und die Schatten der Vergangenheit - Günter Huth - E-Book

Der Schoppenfetzer und die Schatten der Vergangenheit E-Book

Günter Huth

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Beschreibung

Diesen unrühmlichen Fall hatte Erich Rottmann längst verdrängt. Doch eines Tages holen ihn die Schatten der Vergangenheit mit aller Wucht ein. Zunächst unzusammenhängend erscheinende Ereignisse verdichten sich zu einer tödlichen Gefahr, die das gesamte Umfeld des Schoppenfetzers in ihren Sog zieht. Elvira, seine Möchtegernfreundin, weiß nicht, wie sie das eiserne Schweigen und die plötzliche schroffe Unnahbarkeit des Exkommissars deuten soll. Bis auch sie droht in den Strudel des Verbrechens zu geraten. Es sieht nicht so aus, als könnten Erich Rottmann, Elvira Stark und Öchsle diesmal der Gefahr unbeschadet entkommen … Selbst hartgesottenen Rottmann-Fans könnte es bei diesem Fall den Atem verschlagen!

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Günter Huth

Der Schoppenfetzerund die Schatten der Vergangenheit

Foto: Rico Neitzel – Büro 71a

Günter Huth wurde 1949 in Würzburg geboren, und lebt seitdem in seiner Geburtsstadt. Er kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Stadt zu leben.

Er ist Rechtspfleger (Fachjurist), verheiratet, drei Kinder.

Seit 1975 schreibt er in erster Linie Kinder- und Jugendbücher, Sachbücher aus dem Hunde- und Jagdbereich (ca. 60 Bücher). Außerdem hat er bisher Hunderte Kurzerzählungen veröffentlicht.

In den letzten Jahren hat er sich vermehrt dem Genre Krimi zugewandt. 2003 kam ihm die Idee für einen Würzburger Regionalkrimi. „Der Schoppenfetzer“ war geboren.

2013 erschien sein Mainfrankenthriller „Blutiger „Spessart“, mit dem er die Simon-K erner-Reihe eröffnete, mit der er eine völlig neue Facette seines Schaffens als Kriminalautor zeigt. Durch den Erfolg des ersten Bandes ermutigt, brachte er 2014 mit dem Titel „Das letzte Schwurgericht“ den zweiten Band, 2015 mit „Todwald“ den dritten Band, 2016 mit „Die Spur des Wolfes“ den vierten Band und 2017 mit „Spessartblues“ den fünften und 2020 mit „Jenseits des Spessarts“ den sechsten Band dieser Reihe auf den Markt. 2021 entwickelte er die Idee für eine weitere Regionalkrimi-Reihe mit dem Titel Himmels-Leiter GmbH. Der Autor ist Mitglied der Kriminalschriftstellervereinigung „Das Syndikat“.

Die Handlung und die handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.

Günter Huth

Der Schoppenfetzerund die Schattender Vergangenheit

Der neunzehnte Fall desWeingenießers Erich Rottmann

Der Umwelt zuliebe verzichten wir bei diesem Buch auf die Folienverpackung.

Günter HuthDer Schoppenfetzer und die Schatten der Vergangenheit

© Echter Verlag, WürzburgAlle Rechte vorbehalten

Cover: Konzept Peter HellmundAusführung: Tobias Klose, WürzburgGestaltung Innenteil: Crossmediabureau, GerolzhofenGedruckt und gebunden von Friedrich Pustet, Regensburg

1. Auflage 2021

ISBN 978-3-429-05669-8ISBN 978-3-429-05176-1 (PDF)ISBN 978-3-429-06541-6 (ePub)

www.echter.de

Inhalt

Über den Autor

Prolog

Drei Wochen vor heute:

Zwei Wochen vor heute:

Gemeingefährlich und weggesperrt!

Eine knappe Woche davor:

In derselben Nacht, drei Stunden zuvor:

Etwa zur gleichen Zeit in der Rosengasse:

Xaver Marschmann

Stadträtin Isolde-Eleonore (Isis) Maunzhäusner-Krallenberger

Dunkle Schatten

Hund und Katz

Der Plan …

Romano Cannistrà

Boris Wunderlich

Dr. Roland Mittelbeck

Der Transport

Rafael DaSilvas Auftrag

Justizvollzugsanstalt Würzburg

Burgfrieden!

Zurückgepfiffen!

Verdauungsstau …

Gottfried Meyer

Entspannung …

Der Ausputzer …

Letzte Botschaft aus dem Totenreich …

Hackerangriff

Auftrag 2.0

Killer in Nöten!

Die Ermittlungen überschlagen sich …

Flucht …

Rottmanns Sache mit dem Nirwana

Epilog

Prolog

Drei Wochen vor heute:

In der Nähe des Mainkais lag das von dem italienischen Investoren-Konsortium Paradiso degli anziani betriebene Seniorenstift St. Kilianeus im Würzburger Stadtteil Sanderau.

Drei Zwei-Zimmer-Apartments und eine Drei-Zimmer-Wohnung im ersten Stock waren dem sogenannten Betreuten Wohnen vorbehalten. Die Räumlichkeiten dieser hochpreisigen Residenzen waren sehr anspruchsvoll ausgestattet. Je nach den altersbedingten Bedürfnissen konnten Service- und Pflegedienste der Einrichtung in Anspruch genommen werden. Ansonsten lebten die Mieter dieser Objekte völlig unabhängig und frei.

Die Wohnung I.3, die größte Einheit des Hauses, lag am Ende des Flures. Rechts der Eingangstür war ein Schild mit der Aufschrift „Rafael DaSilva“ angebracht, was vermuten ließ, dass der Mieter dieser Räume südamerikanische Wurzeln hatte. Aufgrund ihrer Lage an der südwestlichen Ecke des Hauses besaß die Wohnung ein Zimmer und damit auch zwei Fenster mehr. Die Zimmer waren die meiste Zeit des Tages lichtdurchflutet.

In einem bequemen Sessel, der vor der offenen, doppeltürigen Balkontür stand, saß ein grauhaariger Mann, den eine kurze, dichte Kurzhaarfrisur kennzeichnete. Die Frühlingssonne schien schräg vom wolkenlosen Himmel und schenkte ihm angenehme Wärme. Viele Jahre hatte er in Buenos Aires, der argentinischen Hauptstadt gelebt. Das dort vorherrschende tropische Klima vermisste er hier in Deutschland sehr. Es würde noch einige Zeit dauern, bis er sich akklimatisiert hatte. Sein Sitzplatz gewährte ihm einen schönen Blick auf die Baumallee des Mainkais. Durch die Lücken konnte er das unverbaute Wasserschutzgebiet des gegenüberliegenden Ufers erkennen. Die Lage dieser Wohnung, ohne ein bewohntes Visavis, war eine Grundvoraussetzung für seine Auswahl dieser Räumlichkeiten gewesen. Er schätzte es nicht, wenn es auch nur theoretisch möglich war, von außen in seine Wohnung hineinzusehen. Wie bei Paradiso degli anziani üblich, war ihm die Wohnung möbliert vermietet worden, wobei er bei der Ausstattung ein wesentliches Wort mitreden konnte. Mehrheitsgesellschafter war die italienische Familie Cannistrà, für die er seit vielen Jahren tätig war. Auf einem Tischchen neben dem Sessel stand ein Glas argentinischer Rotwein, ein Puro Malbec, seine bevorzugte Rebsorte. Ein Wein, den er zu seiner Freude vor ein paar Tagen in der Stadt bei einem unterfränkischen Wein-Importeur gefunden hatte.

Das Alter des Mannes ließ sich schwer schätzen. Ein graumelierter, kurz gehaltener Vollbart bedeckte große Teile seines gebräunten Gesichts. Einige tiefere Falten, die man trotz des Bartes erkennen konnte, ließen darauf schließen, dass er sehr viel bei Wind und Wetter unterwegs gewesen war. Die blassen, schmalen Lippen umschlossen einen Mund, der in das Gesicht wie hineingeschnitzt wirkte. Langsam ergriff er von einem gläsernen Aschenbecher, der neben dem Weinglas stand, eine lange, brennende Zigarre. Er nahm einen tiefen Zug, behielt den Rauch einen Moment im Mund, dann entließ er ihn in Richtung Balkon, wo er sich, träge dahinschwebend, langsam auflöste. Nach einem weiteren Zug legte er die Zigarre sanft auf die Ablage zurück, darauf achtend, dass die Asche, die auf der Glut einen kompakten grauen Kegel bildete, nicht herunterfiel. Anschließend gönnte er sich einen Schluck von dem schweren Rotwein. Genießerisch schloss er die Augen, während er den Wein langsam durch die Kehle rinnen ließ. Nach einiger Zeit der Ruhe richtete er sich auf und griff nach einem Bildband über Würzburg, der neben ihm lag. Interessiert blätterte er eine Weile darin herum, dann legte er ihn wieder zur Seite, stemmte die Hände gegen die Armlehnen und erhob sich. Jetzt konnte man seine hochgewachsene, schlanke Gestalt sehen. Seine Bewegungen ließen eine gewisse Dynamik und Elastizität erkennen. Nach dem Besuch der Toilette kehrte er zu seinem Sessel zurück und nahm erneut die Zigarre auf. Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte er die vollendeten Rauchkringel, die er erzeugte, dann lehnte er den Kopf gegen die hohe Rückenlehne des Sessels und schloss entspannt die Augen. Ein Zustand, den er sich im Laufe seines stressigen Lebens nur selten gönnen konnte. Aber selbst jetzt, in der Ruhe, sondierten seine Ohren automatisch die Geräusche der Umgebung. Eine antrainierte Eigenschaft, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen war und ihm in der Vergangenheit schon mehrmals das Leben gerettet hatte.

Während er seinen Gedanken nachhing, brannte die Zigarre herunter und die Weinflasche leerte sich. DaSilva erhob sich schwungvoll, dann schloss er die Balkontür. Mit einem routinierten Handgriff schob er das leere Pistolenholster, das jetzt unter einer ärmellosen Weste sichtbar wurde, am Gürtel nach hinten auf den Rücken. Der Kleiderschrank in seinem Schlafzimmer verfügte über einen kompakten, aber massiven Tresor, den er eigens hatte einbauen lassen. Dort verwahrte er allerlei wichtige Unterlagen, unter anderem auch eine Pistole, ein Magazin und Munition. Die Glock 42, die er jetzt dem Tresor entnahm, war das kompakteste Pistolenmodell des österreichischen Waffenherstellers und trug unter der Kleidung nicht auf. Auf kurze Entfernungen war diese Pistole bei Bedarf sehr effizient. Nachdem er das gefüllte Magazin in den Griff eingeführt, die Waffe durchgeladen und gesichert hatte, verstaute er sie im Holster. Anschließend betrat er den Flur und nahm eine Lederjacke von der Garderobe. Obwohl jetzt, Anfang Juli, für unterfränkische Verhältnisse draußen hochsommerliche Temperaturen herrschten, fröstelte es ihn hin und wieder. Er schickte einen routinierten Blick durch das Zimmer und prägte sich gewohnheitsmäßig die Lage aller Gegenstände im Raum ein. Dank seinem fotografischen Gedächtnis würde er bei seiner Rückkehr die kleinste Veränderung bemerken. Langsam öffnete er die Wohnungstür und musterte den menschenleeren Flur. Nichts, was sein Misstrauen geweckt hätte. Er tippte vier Ziffern in den Zahlenblock neben der Tür, womit er die Alarmanlage aktivierte. Mit einer zweifachen Umdrehung des Schlüssels im Hochsicherheitsschloss sicherte er die Wohnung endgültig. Die Anlage war mit seinem Mobiltelefon verbunden. Die entsprechende App würde ihm jeden unautorisierten Zutrittsversuch anzeigen. Obwohl ein Aufzug vorhanden war, benutzte er die breite Treppe zum Untergeschoss. Liftkabinen sperrten die Menschen ein und stellten bei eventuellen Angriffen tödliche Fallen dar. Eine Erfahrung, die er nie aus den Augen verlor. Als er die Pförtnerloge passierte, nickte er dem älteren Mann, der hier Dienst tat, freundlich zu. Der blickte nur kurz von seinem Kreuzworträtsel auf und hob grüßend die Hand, dann versenkte er sich wieder in seine Beschäftigung. DaSilva schmunzelte leicht. Der Rentner wäre für einen unbefugten Eindringling sicher kein Hindernis. Er überquerte die Straße, dann stieg er die paar Stufen zu dem Pfad hinunter, der sich hier über Kilometer am Mainufer entlangschlängelte. Ohne Eile wandte er sich nach rechts in Richtung Innenstadt. In Abständen überzeugte er sich davon, nicht verfolgt zu werden. Das war hier in dieser Stadt zwar so gut wie ausgeschlossen, aber Paranoia war im Laufe seines Lebens zu seiner zweiten Natur geworden.

Einige Zeit später schlenderte er über den Marktplatz. Er hatte Würzburg ganz bewusst als Wohnsitz für seinen geplanten Ruhestand gewählt. Gegen Ende der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde er hier als Egon Metzler geboren. Wenig später wanderten seine Eltern in die Deutsche Demokratische Republik aus. Sein Vater, ein überzeugter Kommunist, brannte für die Idee vom Arbeiter- und Bauernstaat. Nach Abschluss der Schule und Militärzeit rekrutierte man ihn für das Ministerium für Staatssicherheit, kurz Stasi genannt, wo man ihm eine Spezialausbildung zukommen ließ. Ziel war es, ihn als Agent in die BRD einzuschleusen. In den folgenden Jahren, bis zum Zusammenbruch der DDR, lebte er als Siegfried Eichler, freier Versicherungskaufmann, in Würzburg. In dieser Zeit erledigte er in der ganzen Welt unter wechselnden Identitäten zahlreiche Spezialeinsätze. Die Ziele seiner Aktivitäten wiesen eine hohe Sterblichkeitsrate auf. Nach dem Ende der DDR nahmen verschiedene Dienste seine Fähigkeiten in Anspruch, bis sich der italienische Familien-Clan der Cannistràs viele Jahre seiner Dienste versicherte. In deren Auftrag kehrte er nach Jahren als Rafael DaSilva zurück nach Unterfranken, in diese Wohnung, die ihm die Familie überlassen hatte. Er sollte von hier aus noch einen letzten Auftrag erledigen, dann, versicherte man ihm, war er frei. Er hatte genug Geld auf verschiedenen Konten in der Welt geparkt, so dass er bis zu seinem Ende ein ruhiges Leben führen konnte. Man würde ihn zur gegebenen Zeit kontaktieren. Jetzt wollte er sich mit der Stadt und der Umgebung wieder vertraut machen. Vieles war ihm zwischenzeitlich fremd geworden, die Veränderungen der vergangenen Jahre waren immens. Wenig später saß er am Unteren Markt im Außenbereich eines Cafés, die Augen auf die Schönheit der Marienkapelle gerichtet. Dabei beobachtete er die vorübereilenden Menschen, die ihn nicht beachteten. Sie konnten ja nicht ahnen, dass sie gerade dem Tod begegnet waren.

Zwei Wochen vor heute:

Um diese späte Stunde, geraume Zeit nach Mitternacht, lag die Maulhardgasse im Zentrum der Altstadt von Würzburg auf den ersten Blick völlig verlassen da. Sah man jedoch genauer hin, konnte man zwei dunkle Gestalten erkennen, die sich, eng an die Häuserwände gedrückt, durch den schmalen Schlauch der Gasse bewegten. Gerade war ein heftiger Regenschauer niedergegangen, dessen beachtliches Restpotential die beiden nach Verlassen des Weinlokals unerfreulicherweise noch abbekommen hatten. So heftig der Schauer begonnen hatte, so abrupt endete er auch wieder. Als hätte man einen Wasserhahn plötzlich auf- und zugedreht. Das dürftige Licht der Straßenbeleuchtung wurde vom schwarz glänzenden Asphalt fast gänzlich absorbiert. Nebelige Dunstschleier schwebten über dem Boden und wurden von der leichten Brise gegen die Häuserwände und Schaufenster der Geschäfte gedrückt, auf denen sie sich als Feuchtigkeitsfilm niederschlugen. Öchsle, der, wie so oft auf dem gewohnten Heimweg vom Stammtisch über den Marienplatz, seinem Menschen ein Stück vorauseilte, war mit zunehmendem Alter immer weniger geneigt, sich sein Fell nassregnen zu lassen. Das feuchte Wetter trug nicht gerade dazu bei, seine schlechte Laune zu verbessern. Seine in die Jahre gekommenen Knochen reagierten auf Feuchtigkeit und Nässe mit unangenehmem Zwicken. Wieder einmal war es seinem Herrchen nicht gelungen, sich zu einer für den Rüden annehmbaren Uhrzeit von der Sitzbank seines Stammtisches zu lösen. Unter den regelmäßigen Besuchern der Weinstube ging das Gerücht, die Mitglieder des Stammtisches DIE SCHOPPENFETZER, die hier in täglicher zweimaliger Taktung ihre Sitzungen abhielten, würden gesäßseits eine Art Klebstoff absondern, der, je länger die Sitzungen dauerten, immer intensiver haftete. Wären wir eine halbe Stunde früher aufgebrochen, wäre uns die äußere Befeuchtung erspart geblieben, sinnierte Rottmann. Aber was sollte es: hätte, hätte, Fahrradkette! Der Rüde blieb stehen und sah ungeduldig nach hinten. Wo blieb denn sein Mensch? Öchsle war es ja gewohnt, seine Abendmahlzeit zu den unmöglichsten Zeiten einzunehmen, aber jetzt war definitiv nicht mehr gestern, sondern schon morgen und sein Magen knurrte vernehmlich. Bei diesem Stammtischhock hatte sein Herrchen mit seiner Leberkäs-Spende ziemlich gegeizt, was zusätzlich zur miesen Stimmung des Rüden beitrug. Als bejahrter Polizeihund benötigte man eine gewisse zuverlässige Regelmäßigkeit, auch bei der Ernährung. Er stieß ein leicht genervtes Fiepen aus.

Erich Rottmann, das von Öchsle so kritisch betrachtete Herrchen, warf einen prüfenden Blick zum nachtschwarzen Himmel. Der Schauer war weitergezogen. Etwas breitbeinig stellte er sich mitten in die Gasse, zog seine vorgestopfte Bruyère und eine Schachtel Streichhölzer aus der Joppentasche. Nachdem er drei Zündhölzer abgebrochen hatte, ohne den gewünschten Erfolg zu erzielen, knurrte er verärgert und … siehe da, der vierte Versuch zündete endlich. Die kleine Flamme beleuchtete für einen kurzen Moment das weißbärtige Gesicht des Schoppenfetzers, der mit tiefen Atemzügen das Feuer in den Tabak hineinzog, der mit leisem Knistern zu glühen begann. Erich Rottmann stieß genussvoll mehrere dichte Tabakwolken aus, die träge auf der Brise dahinschwebten und sich schließlich in der Gasse verteilten und auflösten. Rottmann fixierte über den Pfeifenstiel hinweg seinen Hund.

„Össle, Össle“, nuschelte er, zwischendurch am Mundstück nuckelnd, „jetscht mach bloß kenn Stress! Du kannst dir ja schon amal irgendwo a Grasstück such. Groß Gassi geht’s heut nimmer.“

Rottmann wedelte mit der Hand in eine unbestimmte Richtung und versuchte so, seine Aussage zu verdeutlichen. Der Rüde drehte sich um und trabte weiter. Rottmann folgte ihm langsam. Der Stammtischhock war heute wieder sehr anstrengend gewesen. Gab es doch ein schwerwiegendes Problem zu diskutieren, das man versuchte mit Hilfe einer erheblichen Anzahl von Schoppen einer Lösung näherzubringen. Leider war man trotz des reichlich konsumierten geistigen „Schmierstoffes“ zu keinem abschließenden Ergebnis gekommen. Dr. Horst Ritter, genau wie Erich Rottmann ehrwürdiges Gründungsmitglied des Stammtisches DIE SCHOPPENFETZER, hatte den Antrag eingebracht, ein weiteres Mitglied in die erlauchte Runde der Stammtischbrüder aufzunehmen. Ein Vorgang, der in der Historie der Schoppenfreunde nur sehr selten vorgekommen war. Handelte es sich doch bei dem Stammtisch um einen elitären Kreis von pensionierten Juristen und Kriminalisten, dessen Aufnahmepraxis äußerst restriktiv gehandhabt wurde. Entgegen dem Zeitgeist war er auch geprägt von einer absoluten Zurückhaltung gegenüber weiblichen Kandidaten, was ihnen schon erhebliche Kritik der Partnerinnen ihrer Mitglieder eingebracht hatte. Wer nun annehmen wollte, die Herren seien etwa feminophob, musste auf das Schärfste zurückgewiesen werden. Nein, es war vielmehr ein dem weiblichen Geschlecht gegenüber tief empfundener Respekt, der den Damen das teilweise „grenzwertige Gschmarre“ der Runde ersparen wollte … oder so …

Objektiv betrachtet gab es am runden Tisch noch Platz, so dass eine Erweiterung durchaus erwogen werden konnte. Alle waren natürlich neugierig, welchen Kandidaten Horst Ritter vorschlagen wollte. Der ehemalige Leiter der Würzburger Staatsanwaltschaft blickte zu Beginn des Treffens mit ernster Miene in die Runde. Rottmann musste rückblickend zugeben, dass sich Horst die Dramaturgie des Augenblicks geschickt überlegt hatte. Als schließlich alle erwartungsvoll verstummten, warf er mit gesenkter Stimme den Namen in die Runde: „Andy Farmer!“

Es dauerte einen Moment, bis sich der Vorschlag in den Gehirnen etwas gesetzt hatte, dann begannen alle durcheinanderzureden. Diese Überraschung war Horst Ritter jedenfalls geglückt! Schon nach kurzer Diskussion waren sich alle einig, dass gegen diesen Kandidaten, den ehemaligen zweiten Bürgermeister der Mainmetropole, im Prinzip absolut nichts einzuwenden war. Eine respektable Persönlichkeit, die sich in jahrzehntelangem aufopferndem Einsatz für die Stadt einen enormen Erfahrungsschatz, unter anderem auch als Weinkenner, erarbeitet hatte. Farmer hatte sich aus dem städtischen Politzirkus zurückgezogen, womit er auf jeden Fall schon einmal das Hauptkriterium „Ruheständler“ erfüllte. Als schwieriger erwies sich jedoch, dass der Kandidat weder Jurist noch Kriminalist war. Nach den ungeschriebenen Statuten des Stammtisches waren dies aber Aufnahmekriterien, die die Stammtischgründer bisher immer eingehalten hatten. Über diesen Stolperstein hatte es heute in der Vollversammlung der Stammtischbrüder eine ausgiebige Diskussion gegeben, die aber trotz des reichlichen Einsatzes von Schoppen zu keinem befriedigenden Ergebnis führte. Aus diesem Grund vertagte man sich schließlich auf den Abendschoppen am nächsten Tag. Erich Rottmann schniefte laut, dann klemmte er die Pfeife zwischen die Zähne und zog mit Schwung seine Breitcordhose ein Stück höher in eine bequemere Etage. Es wurde höchste Zeit, dass er seine ausgeleierten Hosenträger durch neue ersetzte. Früher hatte er sich eines Leibriemens bedient, zwischenzeitlich war ihm aber das einengende Gefühl, das ein Gürtel um die Körpermitte erzeugte, unangenehm.

Rotlichtmilieu Marienplatz …

Mit diesen gewichtigen Gedanken beschäftigt erreichte Rottmann den Marienplatz. Seine Augen suchten Öchsle. Hier im Nachtschatten des wuchtigen Bauwerks der Marienkapelle verschmolz das schwarze Fell des Rüden völlig mit der Umgebung und machte ihn praktisch unsichtbar. Wahrscheinlich suchte er irgendwo einen geeigneten Platz, um sich zu erleichtern. Rottmann blieb stehen, kramte aus seiner Joppentasche einen Pfeifenstopfer hervor und drückte die Glut in der Bruyère fest. Eine dichte weiße Rauchwolke war das zufriedenstellende Ergebnis. Spontan musste er so ausgiebig gähnen, dass sein Kiefer knackte. Der Schoppenfetzer vernahm nun sehr deutlich den fernen Ruf seines Bettzipfels. Es wurde höchste Zeit, seiner Matratze einen Besuch abzustatten. Auf der Suche nach Öchsle ließ er den Blick über den Platz schweifen. Überall zeigten sich die ersten Anzeichen der bevorstehenden Kiliani-Messe. Teilweise fertiggestellte Marktstände nahmen ihre zugewiesenen Plätze ein. Bretterwände stapelten sich in den schmalen Abständen zwischen den Buden. In zwei Tagen würde es losgehen.

„Wo treibt sich der Bursche nur wieder herum?“, brummelte Rottmann etwas angesäuert. Plötzlich stutzte er. Durch die Bauten hindurch registrierte er im Winkel zwischen Hinterausgang der Stadtbücherei und dem nördlichen Eingang der Marienkapelle ein rotes Fahrzeug. Wie es aussah, ein Wohnmobil.

„Jetzt parken die sogar schon auf dem Marienplatz!“, brummelte Rottmann und stieß eine kräftige Rauchwolke aus. Im Prinzip konnte ihm das ja egal sein, aber da Öchsle noch immer nicht zu sehen war, schlenderte er langsam näher. Als ehemaliger Leiter der Würzburger Mordkommission war er mit einem ausgeprägten Ermittlungsdrang ausgestattet, der durch Alkoholkonsum noch gesteigert wurde. Elvira Stark, seine je nach Stimmung mal mehr, mal weniger als Bedarfsfreundin empfundene Nachbarin in der Rosengasse, hätte diesen Drang sicher als banale Neugierde bezeichnet. Rottmann zuckte mit den Achseln. Allein, dass sich dieser Gedanke in dieser Situation in seine Überlegungen einschlich, erweckte seinen Widerspruchsgeist. War er jetzt schon so weit, dass er gewissermaßen in vorauseilendem Gehorsam sich ihre möglichen Gedanken zu eigen machte? Ärgerlich schüttelte er den Kopf.

„Hm“, brummelte Rottmann. Offenbar handelte es sich bei dem Wohnmobil um das Fahrzeug eines Marktanbieters. Auf der Fahrertür war ein Schriftzug angebracht: „Freddy, Dienstleistungen aller Art“, darunter eine Handynummer. Vor den Frontscheiben und an den Seitenfenstern waren dichte Sichtblenden heruntergelassen. Trotzdem glaubte er durch eine Ritze einen Lichtschimmer zu sehen. Wie es aussah, war der Wagen bewohnt! Vielleicht wollte sich einer der Händler die Hotelkosten sparen und hauste in seinem Fahrzeug. Rottmann zuckte mit den Schultern. Plötzlich fixierte er das Fahrzeug schärfer. Gaukelte ihn sein silvanergedoptes Gehirn etwas vor oder befand sich das Fahrzeug tatsächlich in kaum merklichen Schwingungen? Rottmann konzentrierte sich. Nein, kein Irrtum! Es war ganz eindeutig! Der Camper befand sich in sanften, rhythmischen Bewegungen, die bei einer oberflächlichen Betrachtungsweise nicht gleich auffielen. Erich Rottmann runzelte die Stirn. Da es weder stürmte noch sonstige äußerliche Ursachen für diese Bewegung erkennbar waren, konnte die Ursache dafür nur im Inneren des Wohnmobils liegen. Der erfahrene Kriminalbeamte runzelte die Stirn. Konnte das sein? Es waren Äonen ins Land gegangen, seit Rottmann selbst bei derart rhythmisch schaukelnden Bewegungen eines Kraftfahrzeugs die biologische Ursache war. Daher dauerte es einen Augenblick, ehe er aus seinem Langzeitgedächtnis die Erkenntnis herausgegraben und verarbeitet hatte, dass es sich hier mit hoher Wahrscheinlichkeit um die mechanischen Auswirkungen zwischenmenschlicher Kontakte handelte. Unwillkürlich zog der Exkommissar heftig an seiner Pfeife und stieß in der Folge eine dichte Rauchwolke aus.

„Mer solls nit gläbb!“, knurrte er betroffen. „Un des gewissermaßen unterm Dach von der Marienkapelle! Fehlt nur noch, dass hier enner a rote Latern uffhängt!“, ätzte Rottmann halblaut vor sich hin. Morgen würde er mal seine Beziehungen zum Rathaus spielen lassen, um herauszufinden, wer von den Marktausstellern sich hier so schamlos aufführte! In diesem Augenblick stupste etwas gegen seine Wade und Öchsle begrüßte ihn mit einem freundlichen Winseln.