Der Sommer ohne Männer - Siri Hustvedt - E-Book

Der Sommer ohne Männer E-Book

Siri Hustvedt

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Beschreibung

Die New Yorker Dichterin Mia und der Neurowissenschaftler Boris haben eine Ehekrise. Boris möchte eine «Pause». Mia stellt fest, dass die Pause viel jünger als sie und überdies Boris' Laborassistentin ist. Nach einer klinischen Depression braucht sie eine Pause, fährt allein in ihre Geburtsstadt in Minnesota und verbringt den Sommer in der Nähe ihrer Mutter, die, mit neunzig noch ziemlich munter, im Heim lebt. Ansonsten brütet Mia über den untreuen Boris und die Männer im Allgemeinen. Mit Wut im Bauch und dem Herzen auf der Zunge notiert sie zum Thema Liebe, Ehe und Sex, was ihr einfällt. Und das ist, neben Gedichten und einem erotischen Tagebuch, eine Menge! Die Kur schlägt an, und siehe da, langsam entdeckt sie sich und das Leben neu. Was für ein Genuss, was für eine Befreiung! Selbst Boris merkt das in der Ferne und schickt zerknirschte Mails. Siri Hustvedts neuer Roman ist ein hinreißendes, blitzgescheites Buch über das Leben von Frauen heute. Von der Geburt über den Sexus bis zum Tod, die scharfzüngige Mia nimmt kein Blatt vor den Mund. So erfrischend, so komisch kann Beziehungsanalyse sein – und das ganz ohne Männer!

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Seitenzahl: 269

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Siri Hustvedt

Der Sommer ohne Männer

Roman

Aus dem Englischen von Uli Aumüller

Für Frances Cohen

Lucy (Irene Dunne): Du bist ganz verwirrt, oder?

Jerry (Cary Grant): Hm. Du nicht?

Lucy: Nein.

Jerry: Aber das solltest du, weil du dich nämlich täuschst, wenn du glaubst, dass alles anders ist, weil es nicht mehr so wie früher ist. Es ist schon anders, aber eben anders, als du denkst. Du bist noch dieselbe. Bloß ich war ein Dummkopf. Aber jetzt nicht mehr. Jetzt, wo ich mich geändert habe, glaubst du nicht, dass alles so sein könnte wie früher? Nur ein ganz klein wenig anders?

Die schreckliche Wahrheit

Regie: Leo McCarey

Drehbuch: Via Delmar

Eine Weile nachdem er das Wort Pause ausgesprochen hatte, drehte ich durch und landete im Krankenhaus. Er sagte nicht: Ich will dich nie wiedersehen, oder: Es ist aus, doch nach dreißig Jahren Ehe reichte Pause, um aus mir eine Geisteskranke zu machen, in deren Hirn die Gedanken platzten, wild herumfuhrwerkten und voneinander abprallten wie Popcorn in einer Mikrowellentüte. Diese traurige Feststellung machte ich in meinem Bett in der Psychiatrie, so mit Haldol zugedröhnt, dass ich mich kaum bewegen wollte. Die garstigen rhythmischen Stimmen waren leiser geworden, aber nicht verschwunden, und wenn ich die Augen schloss, sah ich Comicfiguren über rosa Hügel sausen und in blaue Wälder verschwinden. Dr.P. diagnostizierte dann eine akute vorübergehende psychotische Störung, auch bekannt als Durchgangssyndrom, was bedeutet, dass man wirklich verrückt ist, aber nicht lange. Wenn es länger als einen Monat anhält, braucht man ein anderes Etikett. Offenbar gibt es für diese spezielle Form von Störung häufig einen Auslöser oder «Stressor», wie es im psychiatrischen Jargon heißt. In meinem Fall war das Boris, oder vielmehr die Tatsache, dass eben kein Boris da war, dass Boris seine Pause machte. Sie behielten mich anderthalb Wochen da, dann ließen sie mich gehen. Eine Zeitlang wurde ich ambulant behandelt, bis ich Frau Dr.S. mit ihrer tiefen musikalischen Stimme, ihrem verhaltenen Lächeln und ihrem guten Ohr für Lyrik fand. Sie stützte mich, stützt mich eigentlich immer noch.

Ich erinnere mich ungern an die Verrückte. Ich schäme mich für sie. Lange scheute ich mich, mir anzusehen, was sie während ihres Aufenthalts auf der Station in ein schwarz-weißes Notizbuch geschrieben hatte. Ich wusste, was in einer Handschrift, die meiner überhaupt nicht ähnlich sah, auf den Einband gekritzelt war: HIRNSCHERBEN, aber ich schlug es nie auf. Ich hatte Angst vor ihr, wissen Sie. Als meine Tochter Daisy mich besuchen kam, ließ sie sich ihr Unbehagen nicht anmerken. Ich weiß nicht genau, was sie sah, aber ich kann es mir vorstellen, eine immer noch verwirrte Frau, mit einem durch die Nahrungsverweigerung abgemagerten und die Medikamente erstarrten Körper, ein Mensch, der nicht angemessen auf die Worte seiner Tochter reagieren, sein eigenes Kind nicht in den Arm nehmen konnte. Und dann, als sie ging, hörte ich, wie sie sich mit einem unterdrückten Schluchzer bei der Krankenschwester beklagte: «Es ist, als wäre sie nicht meine Mom.» Damals war ich nicht bei mir, aber mich jetzt an diesen Satz zu erinnern ist eine Qual. Ich verzeihe mir das nicht.

Die Pause war eine Französin mit schlaffem, aber glänzendem braunem Haar. Sie hatte einen signifikanten Busen, der echt, nicht künstlich war, eine schmale Rechteckbrille und einen exzellenten Verstand. Natürlich war sie jung, zwanzig Jahre jünger als ich, und ich vermute, dass Boris schon länger scharf auf seine Kollegin gewesen war, ehe er sich auf ihre signifikanten Bereiche stürzte. Ich habe es mir wieder und wieder vorgestellt. Boris, dem die schneeweißen Locken in die Stirn fallen, während er neben den Käfigen mit den genmanipulierten Ratten nach der besagten Pause grapscht. Ich sehe die Szene immer im Labor vor mir, obwohl das wahrscheinlich falsch ist. Dort waren die beiden selten allein, und das «Team» hätte lautstarkes Gefummel in der Nähe sicher bemerkt. Vielleicht suchten sie in einer Toilettenkabine Zuflucht, wo mein Boris seine Forscherkollegin bearbeitete, bis ihm die Augen in ihren Höhlen nach oben rollten, als er sich der Entladung näherte. Das kannte ich alles. Ich hatte seine Augen tausendmal nach oben rollen sehen. Die Banalität der Geschichte – die Tatsache, dass sie jeden Tag ad nauseam von Männern wiederholt wird, die plötzlich oder allmählich entdecken, dass, was IST, nicht SEIN MUSS, und dann handeln, um sich von den alternden Frauen zu befreien, die sie und ihre Kinder jahrelang versorgt haben – dämpft nicht das Elend, die Eifersucht und die Demütigung, die die Verlassenen überkommt. Betrogene Frauen. Ich heulte und schrie und schlug mit der Faust gegen die Wand. Ich machte ihm Angst. Er wollte Frieden, er wollte allein sein, um mit der kultivierten Neurowissenschaftlerin seiner Träume seiner Wege zu gehen, einer Frau, mit der er keine Vergangenheit, keine Altlasten, keinen Kummer und keine Konflikte hatte. Und doch sagte er Pause, nicht Stopp, um die Geschichte offen zu halten, für den Fall, dass er seine Meinung änderte. Ein grausamer Hoffnungsschimmer. Boris, die Wand. Boris, der nie schreit. Boris auf dem Sofa, kopfschüttelnd und zerknirscht. Boris, der Rattenmann, der 1979 eine Dichterin heiratete. Boris, warum hast du mich verlassen?

Ich musste aus der Wohnung, weil ich es dort nicht mehr aushielt. Die Zimmer und die Möbel, die Geräusche von der Straße, das Licht, das in mein Arbeitszimmer fiel, die Zahnbürsten auf der kleinen Ablage, der Schlafzimmerschrank mit dem fehlenden Knauf – sie waren alle gleichsam schmerzende Knochen geworden, ein Gelenk, eine Rippe oder ein Wirbel in einer strukturierten Anatomie gemeinsamer Erinnerungen; jedes vertraute Ding, bleiern von den darin gespeicherten Bedeutungen, wog schwer in meinem Körper, und ich merkte, dass ich die Last nicht länger tragen konnte. Also verließ ich Brooklyn und fuhr über den Sommer nach Hause in das Provinznest, das mitten in der ehemaligen Prärie von Minnesota liegt, dorthin, wo ich aufgewachsen war. Dr.S. war nicht dagegen. Wir würden wöchentliche Telefonsitzungen abhalten, außer im August, wenn sie wie immer Ferien machte. Die Universität hatte «Verständnis» für meinen Zusammenbruch gehabt, und im September würde ich meine Lehrtätigkeit wiederaufnehmen. Es sollte die Auszeit zwischen einem durchgeknallten Winter und einem geistig gesunden Herbst sein, ein ereignisloser Hohlraum, den ich mit Gedichten füllen konnte. Ich würde Zeit mit meiner Mutter verbringen und Blumen auf das Grab meines Vaters legen. Meine Schwester und Daisy würden mich besuchen kommen, und ich war engagiert worden, im Kulturforum des Ortes einen Poesiekurs für Jugendliche zu veranstalten. «Preisgekrönte einheimische Dichterin bietet Workshop an» stand in den Bonden News. Der Doris-P.-Zimmer-Preis für Lyrik ist eine unbedeutende Auszeichnung, die mir wie aus dem Nichts zugefallen war und ausschließlich Frauen zugesprochen wird, deren Werk als «experimentell» gilt. Ich hatte diese zweifelhafte Ehrung und den freundlicherweise damit verbundenen Scheck, wenn auch mit Vorbehalten, angenommen, nur um dann herauszufinden, dass irgendein Preis besser ist als keiner, dass der Ausdruck «preisgekrönt» einem Dichter, der in einer Welt lebt, die nichts von Gedichten versteht, einen brauchbaren, obwohl rein dekorativen Glanz verleiht. Wie John Ashbery einmal sagte: «Ein berühmter Dichter zu sein ist nicht dasselbe, wie berühmt zu sein.» Und ich bin keine berühmte Dichterin.

Ich mietete ein kleines Haus am Stadtrand, nicht weit von der Wohnung meiner Mutter in einem Gebäude ausschließlich für Alte und Uralte. Meine Mutter wohnte im Bereich der Selbständigen. Trotz Arthritis und verschiedener anderer Beschwerden, darunter hin und wieder gefährlich steigender Blutdruck, war sie mit siebenundachtzig bemerkenswert agil und klar im Kopf. In der Wohnanlage waren noch zwei weitere Bereiche – für die, die Hilfe brauchten, «Betreutes Wohnen» und das «Pflegezentrum», die Endstation. Dort war mein Vater sechs Jahre zuvor gestorben, und obwohl es mich einmal dorthin gezogen hat, war ich nicht weiter als bis zum Eingang gekommen, ehe ich umkehrte und vor dem väterlichen Geist floh.

Ich habe keinem Menschen hier etwas von deinem Krankenhausaufenthalt erzählt», sagte meine Mutter mit besorgter Stimme und sah mich mit ihren ausdrucksvollen grünen Augen unverwandt an. «Das braucht keiner zu wissen.»

Den Tropfen Leid werd’ ich vergessen

der mich nun verbrüht – nun verbrüht!

Emily Dickinson # 193, zu Hilfe. Adresse: Amherst.

Den ganzen Sommer über flogen mir solche Zeilen und Sätze zu. «Wenn ein Gedanke ohne einen Denkenden daherkommt, könnte es ein ‹streunender Gedanke› sein oder ein Gedanke mit dem Namen und der Adresse seines Besitzers oder ein ‹wilder Gedanke›», sagte Wilfred Bion. «Das Problem, wenn so etwas daherkommt, ist, was man damit anfängt.»

Zu beiden Seiten meines gemieteten Hauses standen Blocks mit Neubauwohnungen, aber der Blick aus dem rückwärtigen Fenster war unverbaut. Zuerst sah man einen kleinen Garten mit einer Schaukel, dahinter ein Maisfeld und dahinter ein Luzernenfeld. In der Ferne waren ein Wäldchen, die Umrisse einer Scheune, ein Silo und darüber der weite, ruhelose Himmel. Der Blick gefiel mir, aber das Hausinnere verstörte mich, nicht, weil es hässlich war, sondern weil es prallvoll war mit dem Leben seiner Eigentümer, eines jungen Professorenpaars mit zwei Kindern, die sich über den Sommer mit irgendeinem Forschungsstipendium nach Genf abgesetzt hatten. Als ich meine Reisetasche und die Bücherkisten abgestellt und mich umgesehen hatte, fragte ich mich, wie ich mich in diesen Ort einfügen würde, mit seinen Familienfotos und Zierkissen unbekannter asiatischer Herkunft, seinen Reihen von Büchern über Staatsgewalt, Weltgerichtshöfe und Diplomatie, seinen Kisten voller Spielzeug und dem in der Luft hängenden Geruch von Gott sei Dank nicht anwesenden Katzen. Ich hatte den düsteren Gedanken, dass es für mich und meine Sachen selten Platz gegeben hatte, dass ich immer ein Schreiberling in gestohlener Zwischenzeit gewesen war. In der ersten Zeit hatte ich am Küchentisch gearbeitet und war zu Daisy gelaufen, wenn sie aufwachte. Der Unterricht und die Lyrik meiner Studenten– Gedichte ohne Dringlichkeit, mit «literarischen» Schnörkeln und Bändern herausgeputzte Gedichte – hatten sich mit unzähligen Stunden davongemacht. Andererseits hatte ich auch nicht für mich gekämpft, oder vielmehr nicht in der richtigen Weise. Manche Leute nehmen sich einfach, was sie brauchen, indem sie Eindringlingen gegenüber ihre Ellbogen benutzen. Boris konnte das, ohne einen Muskel zu bewegen. Er brauchte nur «mucksmäuschenstill» dazustehen. Ich war ein lautes Mäuschen, eins, das in den Wänden kratzt und Krawall macht, aber irgendwie änderte das nichts. Es ist die Magie von Autorität, Geld, Penissen.

Vorsichtig legte ich die gerahmten Bilder in eine Kiste, vermerkte auf einem kleinen Streifen Klebeband, wohin jedes einzelne gehörte. Ich faltete mehrere kleine Teppiche zusammen und verstaute sie mit ungefähr zwanzig überflüssigen Kissen und Kinderspielen, und dann putzte ich systematisch das Haus, entfernte Wollmäuse, in denen Büroklammern, abgebrannte Streichhölzer, Katzenstreu, mehrere zerdrückte M & Ms und nicht identifizierbarer Abfall verfilzt waren. Ich scheuerte die drei Waschbecken, die zwei Klos, die Badewanne und die Dusche, bis sie weiß waren. Ich putzte die Küche, entstaubte und reinigte die völlig verdreckten Deckenlampen. Die Säuberungsaktion dauerte zwei Tage, mir tat danach alles weh, und ich hatte mehrere Schnittwunden an den Händen, aber die Zimmer sahen nach der heftigen Maßnahme konturierter aus. Die muffigen, unbestimmten Kanten jedes Gegenstands in meinem Gesichtsfeld hatten eine Präzision und Deutlichkeit bekommen, die mich, zumindest vorübergehend, aufmunterte. Ich packte meine Bücher aus, richtete mich in dem Raum ein, der das Arbeitszimmer des Hausherrn zu sein schien (Indiz: Pfeifenraucherutensilien), setzte mich hin und schrieb:

Verlust.

Eine gewusste Abwesenheit.

Wüsstest du nicht von ihr,

wäre sie nichts,

was sie natürlich ist,

ein Nichts von anderer Art,

so stark empfunden wie eine Blase,

aber auch ein Aufruhr

in der Gegend von Herz und Lunge,

eine Leere mit einem Namen: Du.

Meine Mutter und ihre Freundinnen waren Witwen. Ihre Männer waren größtenteils seit Jahren tot, sie jedoch hatten weitergelebt, und im Weiterleben hatten sie ihre verstorbenen Männer zwar nicht vergessen, schienen sich aber auch nicht an die Erinnerung an ihre begrabenen Gatten zu klammern. Tatsächlich hatte die Zeit die alten Damen stark gemacht. Insgeheim nannte ich sie Die fünf Schwäne, die Elite des Ostflügels von Rolling Meadows, Frauen, die sich ihr Ansehen nicht durch bloße Langlebigkeit oder das Fehlen körperlicher Gebrechen (sie alle kränkelten auf die eine oder andere Weise) verdient hatten, sondern weil den fünfen eine geistige Frische und Autonomie eigen war, die ihnen einen Anstrich von beneidenswerter Freiheit gab. George (Georgina), die Älteste, räumte ein, dass die Schwäne Glück gehabt hatten: «Bislang haben wir noch alle Tassen im Schrank», witzelte sie. «Natürlich weiß man nie. Wir sagen immer, dass jederzeit irgendwas passieren kann.» Dabei nahm sie die rechte Hand von ihrem Rollator und schnipste mit den Fingern. Die Reibung war jedoch zu schwach und erzeugte kein Geräusch – was sie einzusehen schien, denn ihr Gesicht verzog sich zu einem schiefen Lächeln.

Ich erzählte George nicht, dass meine Tassen weg gewesen und wieder da waren, dass mich ihr Verlust zu Tode erschreckt hatte, und auch nicht, dass mir, während ich mit ihr plaudernd in dem langen Flur stand, eine Zeile von einem anderen George einfiel, Georg Trakl: In kühlen Zimmern ohne Sinn. In kühlen sinnlosen Zimmern.

«Wissen Sie, wie alt ich bin?», fragte sie nun.

«Einhundertundzwei.»

Sie hatte ein ganzes Jahrhundert für sich.

«Und Sie, Mia, wie alt sind Sie?»

«Fünfundfünfzig.»

«Noch ein Kind.»

Noch ein Kind.

Die Nächste war Regina, achtundachtzig. Sie war in Bonden aufgewachsen, war aber aus der Provinz geflohen und hatte einen Diplomaten geheiratet. Sie hatte in mehreren Ländern gelebt, und ihre Diktion hatte etwas Fremdes – vielleicht übergenau Artikuliertes–, Ergebnis sowohl des mehrfachen Eintauchens in fremde Umgebungen als auch, so vermutete ich, von Überheblichkeit, aber diese bewusste Zugabe war mit der Sprecherin gealtert, bis sie nicht mehr von ihren Lippen, ihrer Zunge oder ihren Zähnen getrennt werden konnte. Regina strahlte eine opernhafte Mischung aus Verletzbarkeit und Charme aus. Nach dem Tod ihres ersten Mannes hatte sie noch zweimal geheiratet – beide Männer starben plötzlich–, und seither war sie mehrmals mit anderen Männern liiert gewesen, darunter ein flotter, zehn Jahre jüngerer Engländer. Regina war auf meine Mutter als Vertraute und gleichgesinnte Gelegenheitsbesucherin lokaler Kulturevents– Konzerte, Kunstausstellungen und das gelegentliche Theaterstück – angewiesen. Die Nächste war Peg, vierundachtzig, geboren und aufgewachsen in Lee, einer noch kleineren Stadt als Bonden, die ihren Mann in der Highschool kennenlernte, sechs Kinder mit ihm bekam und nun eine Schar von Enkeln hatte, über die sie bis ins letzte Detail auf dem Laufenden war, ein Zeichen beeindruckender neuronaler Gesundheit. Und schließlich war da Abigail, vierundneunzig. Früher einmal war sie groß gewesen, doch ihre Wirbelsäule hatte sich der Osteoporose gebeugt; die Frau hatte einen starken Buckel. Obendrein war sie fast taub, aber gleich beim ersten flüchtigen Blick auf sie hatte ich Bewunderung verspürt. Sie trug hübsche selbstgemachte Hosen und Pullis mit aufgenähten Äpfeln, Pferden oder tanzenden Kindern. Ihr Mann war schon lange fort, manche sagten, tot, andere behaupteten, geschieden, doch wie auch immer, der Gefreite Gardener war während des Zweiten Weltkriegs oder unmittelbar danach verschwunden, und seine Witwe oder geschiedene Frau hatte eine Lehrerausbildung gemacht und war Kunstlehrerin an einer Grundschule geworden. «Krumm und taub, aber nicht dumm», hatte sie bei unserer ersten Begegnung betont. «Sie können mich ruhig besuchen kommen. Ich freue mich über Gesellschaft. Ich habe die Drei-zwei-null-vier. Sprechen Sie mir nach, drei-zwei-null-vier.»

Alle fünf lasen viel und trafen sich einmal im Monat mit ein paar anderen Frauen zu einem Lesezirkel, der, wie ich aus verschiedenen Quellen herausfand, etwas Wettbewerbsartiges an sich hatte. Seit meine Mutter in Rolling Meadows wohnte, waren jede Menge Figuren aus dem Theater ihres Alltagslebens von der Bühne abgetreten, um «Pflege» zu bekommen, und nie zurückgekehrt. Meine Mutter sagte mir offen, dass jemand, der einmal das Anwesen verließ, in «ein Schwarzes Loch» verschwand. Die Trauer hielt sich in Grenzen. Die fünf lebten in einer intensiven Gegenwart, weil sie, anders als die Jungen, die sich mit ihrer Endlichkeit auf eine distanzierte, philosophische Weise auseinandersetzen, eben wussten, dass der Tod nicht abstrakt ist.

Wäre es möglich gewesen, meinen hässlichen Zusammenbruch vor meiner Mutter zu verheimlichen, ich hätte es getan, aber wenn ein Familienmitglied abgeschleppt und in die Klapsmühle gesperrt wird, kommen die anderen mit ihrer Sorge und ihrem Mitleid an. Was ich furchtbar gern vor Mama versteckt hätte, war ich freiwillig bereit, meiner Schwester Beatrice zu zeigen. Sie wurde informiert, und zwei Tage nach meiner Einlieferung in die Psychiatrie sprang sie in ein Flugzeug nach New York. Ich sah nicht, wie die Glastüren für sie geöffnet wurden. Meine Aufmerksamkeit hatte wohl einen Moment lang nachgelassen, denn ich hatte auf ihre Ankunft gewartet und nach ihr Ausschau gehalten. Ich glaube, sie hat mich gleich entdeckt, weil ich aufblickte und das entschlossene Klick-Klack ihrer High Heels hörte, als sie auf mich zukam, sich auf das seltsam rutschige Sofa im Besuchsbereich setzte und mich umarmte. Sobald ich spürte, wie ihre Finger meine Arme drückten, brach die würgende Trockenheit des antipsychotischen Kokons auf, in dem ich gelebt hatte, und ich schluchzte laut. Bea wiegte mich und streichelte mir über den Kopf. «Mia», sagte sie, «meine Mia.» Als Daisy mich dann zum zweiten Mal besuchte, war ich wieder normal. Die Ruine war zumindest teilweise wiederaufgebaut worden, und ich heulte nicht vor meiner Tochter.

Weinkrämpfe, Heulen, Kreischen und grundloses Lachen waren in der Abteilung keineswegs ungewöhnlich und wurden meistens nicht beachtet. Geistesgestörtheit ist ein Zustand tiefer Selbstversunkenheit. Es erfordert allergrößte Anstrengung, den Überblick über das eigene Selbst zu behalten, und der Umschwung hin zur Genesung geschieht in dem Augenblick, wenn ein bisschen von der Welt wieder eingelassen wird, wenn ein Mensch oder ein Ding die Pforte passiert. Beas Gesicht. Das Gesicht meiner Schwester.

Bea schmerzte mein Zusammenbruch, aber ich fürchtete, meine Mutter würde er umbringen. Doch das war nicht der Fall.

Als ich ihr in der kleinen Wohnung gegenübersaß, kam mir der Gedanke, dass meine Mutter für mich sowohl ein Ort als auch ein Mensch war. Das viktorianische Haus an der Ecke der Moon Street, in dem meine Eltern mehr als vierzig Jahre gewohnt hatten, mit seinen geräumigen Salons und den zahllosen Schlafzimmern im Obergeschoss, war nach dem Tod meines Vaters verkauft worden, und wenn ich dort vorbeiging, tat mir der Verlust so weh, als wäre ich noch ein Kind, das nicht begreifen kann, wieso jetzt irgendein Neureicher seine Jagdgründe bewohnt. Aber es war meine Mutter, zu der ich nach Hause gekommen war. Es gibt kein Leben ohne einen Grund und Boden, ohne das Gefühl für einen Raum, der nicht nur äußerlich, sondern innerlich ist – mentale Loci. Mein Wahnsinn war durch Entzug entstanden. Als Boris mir abrupt seinen Körper und seine Stimme wegnahm, begann ich zu driften. Eines Tages war er mit seinem Wunsch nach einer Pause herausgeplatzt, das war alles. Zweifellos hatte er über seine Entscheidung nachgedacht, aber ich war an seinen Überlegungen nicht beteiligt gewesen. Ein Mann geht Zigaretten kaufen und kommt nie zurück. Ein Mann sagt seiner Frau, er will einen Spaziergang machen, und kommt nicht zum Essen nach Hause – nie wieder. Eines schönen Wintertages stand mein Mann einfach auf und ging. Boris hatte nicht erwähnt, dass er unglücklich war, hatte mir nie gesagt, dass er mich nicht wolle. Es überkam ihn einfach. Was waren das für Männer? Nachdem ich mich mit «professioneller Hilfe» wieder zusammengestückelt hatte, kehrte ich auf älteren, zuverlässigeren Boden zurück, ins Land von M.

Mamas Welt war allerdings geschrumpft und sie mit ihr. Sie aß zu wenig. Wenn sie sich selbst überlassen war, verzehrte sie große Portionen roher Karotten, Paprika und Gurken mit vielleicht einem winzigen Stück Fisch, Schinken oder Käse. Diese Frau hatte jahrzehntelang für ganze Armeen gekocht und gebacken und die Nahrungsmittel in einer riesigen Tiefkühltruhe im Keller gelagert. Sie hatte unsere Kleider genäht, unsere Socken gestopft, Messing und Kupfer geputzt, bis es hell und kräftig glänzte. Sie hatte für Partys Butter gerollt, Blumen arrangiert, hatte Betttücher aufgehängt und gebügelt, die nach sauberer Sonne rochen, wenn man darin schlief. Sie hatte abends für uns gesungen, hatte uns erbaulichen Lesestoff gegeben, Filme zensiert und ihre Töchter gegen verständnislose Lehrer verteidigt. Und wenn wir krank waren, machte sie dem kleinen Patienten ein Lager neben sich auf dem Fußboden, während sie ihre Hausarbeit tat. Bei Mama war ich gern unwohl, nicht gerade mit Erbrechen und richtig leidend, aber in einem Zustand zunehmender Besserung. Ich lag gern in dem besonderen Bett und spürte gern Mamas Hand auf meiner Stirn, die sie dann in mein schweißnasses Haar hinaufschob, während sie prüfte, ob ich Fieber hatte. Ich spürte gern, wie sich ihre Beine neben mir bewegten, hörte gern, wie ihre Stimme diesen besonderen, den Pflegebedürftigen vorbehaltenen Tonfall annahm, ein liebevoller Singsang, bei dem ich für immer krank bleiben, für immer auf dem kleinen Lager liegen wollte, blass, romantisch und mitleiderregend, halb ich, halb eine ohnmächtig werdende Schauspielerin, aber stets sicher von meiner Mutter umsorgt.

Jetzt kam es manchmal vor, dass ihre Hände bei der Küchenarbeit zitterten und ein Teller oder Löffel plötzlich auf den Boden fiel. Ihre Kleidung war nach wie vor elegant und tadellos, aber sie ärgerte sich furchtbar über Flecken, Falten und ungenügend geputzte Schuhe, etwas, woran ich mich aus meiner Jugend nicht erinnern kann, aber ich glaube, sie hat das strahlend saubere Haus verinnerlicht und durch strahlend saubere Garderobe ersetzt. Manchmal versagte ihr Gedächtnis, aber nur bei nicht lange zurückliegenden Vorfällen oder gerade geäußerten Sätzen. Die frühe Zeit ihres Lebens hatte sie mit nahezu übernatürlicher Schärfe vor Augen. Mit zunehmendem Alter machte ich mehr und sie weniger, doch diese Veränderung in unserer Beziehung erschien nebensächlich. Obwohl die unermüdliche Meisterin der Häuslichkeit verschwunden war, saß mir die Frau, die ein kleines Lager zurechtgemacht hatte, um ihre kranken Kinder bei sich zu haben, unbeeinträchtigt gegenüber.

«Ich fand schon immer, dass du zu gefühlsselig bist», sagte sie, ein Familienleitmotiv wiederholend, «hypersensibel, eine Prinzessin auf der Erbse, und jetzt mit Boris…» Meine Mutter erstarrte. «Wie konnte er nur! Er ist über sechzig. Er muss verrückt sein…» Sie warf mir einen Blick zu und hielt sich mit der Hand den Mund zu.

Ich lachte.

«Du bist immer noch schön», sagte meine Mutter.

«Danke, Mama.» Ihr Kommentar war zweifellos für Boris bestimmt. Wie konntest du die immer noch Schöne verlassen? «Du sollst wissen, dass die Ärzte mich wirklich für gesund erklärt haben», sagte ich ungefragt, «dass so etwas einmal vorkommen kann und dann nie wieder. Sie glauben, ich bin wieder die Alte, einfach eine Feld-Wald-und-Wiesen-Neurotikerin, weiter nichts.»

«Ich glaube, es wird dir guttun, diesen kleinen Kurs zu geben. Freust du dich überhaupt darauf?» Ihre Stimme war zittrig vor Gefühl– Hoffnung, vermischt mit Sorge.

«Doch», sagte ich. «Obwohl ich nie Kinder unterrichtet habe.»

Meine Mutter schwieg, dann sagte sie: «Meinst du, Boris wird es überwinden?»

Das «es» war in Wirklichkeit ein «sie», aber ich wusste das Taktgefühl meiner Mutter zu schätzen. Von uns würde das Es keinen Namen bekommen. «Ich weiß es nicht», sagte ich. «Ich weiß nicht, was in ihm vorgeht. Ich wusste es noch nie.»

Meine Mutter nickte traurig, als wüsste sie alles darüber, als wäre dieser Umschwung in meiner Ehe Teil eines Weltskripts, das sie schon vor langer Zeit zu sehen bekommen hatte. Mama die Weise. Der Nachhall empfundener Bedeutung durchfuhr ihren dünnen Körper wie Strom. Das hatte sich nicht geändert.

Als ich durch den Flur des Ostflügels von Rolling Meadows ging, merkte ich, dass ich vor mich hin summte und dann leise sang:

Funkle, funkle, Fledermäuschen.

Was nur treibt dich aus dem Häuschen?

Über der Welt seh’ ich dich fliegen,

Wie ein Teetablett gen Süden.

Ich bewältigte die Vormittage jener ersten Woche, indem ich ruhig an dem geliehenen Schreibtisch arbeitete, danach las ich einige Stunden bis zu den nachmittäglichen Besuchen und langen Gesprächen mit meiner Mutter. Ich hörte ihren Geschichten über Boston und meine Großeltern zu, der Schilderung des idyllischen Alltags ihrer bürgerlichen Kindheit, der dann und wann von ihrem Bruder durchbrochen wurde, Harry, ein Kobold, kein Revolutionär, der mit zwölf Jahren, als meine Mutter neun war, an Kinderlähmung starb und so ihre Welt veränderte. An jenem Dezembertag hatte sie sich vorgenommen, alles aufzuschreiben, woran sie sich von Harry erinnerte, und das tat sie monatelang. «Harry konnte die Füße nicht still halten. Beim Frühstück ließ er sie immer gegen die Stuhlbeine baumeln.» – «Harry hatte eine Sommersprosse am Ellbogen, die wie ein Mäuschen aussah.» – «Ich erinnere mich, dass Harry einmal im Schrank weinte, damit ich ihn nicht sehen konnte.» An den meisten Abenden kochte ich bei mir oder bei ihr etwas für Mama und versorgte sie gut mit Fleisch und Kartoffeln und Pasta, dann ging ich über das feuchte Gras in das gemietete Haus, wo ich allein tobte. Sturm und Drang. Von wem war das Theaterstück? Friedrich von Klinger. Kling. Klang. Peng. Mia Fredricksen im Aufstand gegen den Stressor. Sturm und Stress. Tränen. Auf Kissen einschlagen. Monster Woman sprengt sich in den Weltraum und explodiert in winzige Partikel, die auseinanderstieben und auf die kleine Stadt Bonden niedergehen. Das grandiose Theater der Mia Fredricksen in Seelenqual ohne Zuschauer außer den Wänden, nicht ihrer Wand, nicht Boris Izcovich, dem Verräter, Ekel und Geliebten. Nicht er. Nicht B.I.Kein Schlaf, wäre da nicht die Pharmazie und ihr traumloses Vergessen.

«Die Nächte sind hart», sagte ich. «Ich denke dauernd nur an unsere Ehe.»

Ich konnte Dr.S. atmen hören. «Was für Gedanken?»

«Wut, Hass und Liebe.»

«Das ist kurz und bündig», sagte sie.

Ich stellte mir sie lächelnd vor, sagte aber: «Ich hasse ihn. Ich habe eine E-Mail bekommen: ‹Wie geht’s Dir, Mia? Boris.› Ich hätte gerne einen Klumpen Spucke zurückgeschickt.»

«Boris hat wahrscheinlich Schuldgefühle, meinen Sie nicht, und macht sich Sorgen. Ich würde denken, dass er auch verwirrt ist, und nach dem, was Sie mir erzählt haben, war Daisy furchtbar böse auf ihn, und das muss ihn ziemlich tief treffen. Er ist offensichtlich jemand, der nicht gut mit Konflikten umgehen kann. Dafür gibt es Gründe, Mia. Denken Sie an seine Familie, an seinen Bruder. Denken Sie an Stefans Selbstmord.»

Ich antwortete nicht. Ich erinnerte mich an Boris’ hohle Stimme am Telefon, als er sagte, er habe Stefan tot aufgefunden. Ich erinnerte mich an den gelben Zettel an der Küchenwand, auf dem «Klempner anrufen» stand, und daran, dass jeder Buchstabe dieses Merkzettels etwas Fremdes an sich hatte, als wäre es kein Englisch. Es hatte keinen Sinn ergeben, aber die Stimme in meinem Kopf sagte klipp und klar: Du musst jetzt die Polizei anrufen und zu ihm fahren. Keine Verwirrung, keine Panik, sondern ein Bewusstsein dessen, dass das Schreckliche passiert war und dass ich nichts empfand. Das hier ist geschehen; es ist wahr. Du musst jetzt handeln. Auf der Scheibe des Taxis waren Regentropfen, dann plötzlich dünne Wasserschlieren, hinter denen ich die vernebelten Gebäude downtown und dann das Straßenschild N.Moore sah, so gewöhnlich, so vertraut. Der Aufzug mit seiner kalten grauen Verkleidung, das leise Klingeln im zweiten Stock. Stefan, aufgehängt. Das Wort nein. Noch einmal. Nein. Boris, der sich im Badezimmer übergab. Meine Hände, die seinen Kopf streichelten, ihn fest bei den Schultern hielten. Er weinte nicht; er knurrte in meinen Armen wie ein verwundetes Tier.

«Das war schrecklich», sagte ich tonlos.

«Ja.»

«Ich habe mich um ihn gekümmert. Ich habe ihm beigestanden. Was hätte er gemacht, wenn ich nicht da gewesen wäre? Wie kann er es vergessen haben? Er wurde zu Stein. Ich habe ihn gefüttert. Ich habe mit ihm gesprochen. Ich ertrug sein Schweigen. Er lehnte Hilfe ab. Er ging ins Labor, führte die Experimente durch, kam nach Hause und wurde wieder Gestein. Manchmal mache ich mir Sorgen, dass ich vor Wut verbrenne. Ich werde einfach explodieren. Ich werde wieder zusammenbrechen.»

«Explodieren ist nicht dasselbe wie Zusammenbrechen, und wie wir schon festgestellt haben, kann sogar ein Zusammenbruch einen Zweck erfüllen, eine Bedeutung haben. Sie haben sich lange zusammengenommen, aber Risse auszuhalten gehört zum Wohlbefinden und Lebendigsein dazu. Sie scheinen keine Angst vor sich selbst zu haben.»

«Ich liebe Sie, Frau Dr.S.»

«Das höre ich gern.»

Ich hörte das Kind, ehe ich es sah: ein Stimmchen, das hinter einem Busch hervorkam: «Ich setz euch in den Garten, so, und seid keine Dummis, Schlummis oder Flummis! Da, da, plumps. Ja, sieh mal, ein kleiner Berg für dich. Löwenzahnbäume. Ein klitzekleiner Wind weht. Okay, Leutchen, ein Haus.»

Aus meiner zurückgelehnten Position auf dem Gartenstuhl, auf dem ich lesend saß, wurden zwei nackte kleine Beine sichtbar, die zwei Schritte taten und sich dann auf den Boden knieten. Das teilweise sichtbare Kind hatte einen grünen Plastikeimer, den es auf den Boden ausschüttete. Ich sah ein rosa Puppenhaus und eine Menge Figuren, harte und ausgestopfte, in verschiedenen Größen, und dann den Kopf des Mädchens, der mich erschreckte, ehe ich begriff, dass es eine Art Gruselperücke aufhatte, einen verfilzten platinblonden Wust, der mich an einen auf dem elektrischen Stuhl hingerichteten Harpo Marx erinnerte. Dann wieder die Stimme. «Du kannst rein, Ratti, und du auch, Bärli. Ihr unterhaltet euch. Ich hol Geschirr.» Schneller Abgang, geschwinde Rückkehr, Abwerfen winziger Tassen und Teller auf dem Gras. Geschäftiges Zurechtrücken und dann Kaugeräusche, schmatzende Lippen und vorgetäuschtes Rülpsen. «Es ist unartig, beim Essen zu rülpsen. Seht mal, da kommt sie, es ist Giraffi. Passt du noch dazwischen? Quetsch dich da rein.» Giraffi passte nicht gut hinein, also fand sich die Strippenzieherin damit ab, den Kopf und Hals hereinzunehmen und den Körper draußen zu lassen.

Ich wandte mich wieder meinem Buch zu, aber die Stimme des Kindes lenkte mich hin und wieder durch Ausrufe und lautes Summen ab. Einer kurzen Stille folgte die plötzliche Klage: «Schade, dass ich wirklich bin. Drum kann ich nicht in mein kleines Haus gehen und drin wohnen!»

Ich erinnerte mich, erinnerte mich an jene Schwellenwelt des Beinahe, in der sich Wünsche fast verwirklichten. Konnte es sein, dass sich meine Puppen nachts regten? Hatte sich der Löffel selbsttätig ein paar Millimeter bewegt? Hatte meine Hoffnung ihn verzaubert? Wirkliches und Unwirkliches wie spiegelbildliche Zwillinge, so nah beieinander, dass beide lebendigen Atem verströmten. Auch etwas Angst. Man musste gegen das unbehagliche Gefühl angehen, dass Träume aus ihrer Gefangenschaft im Schlaf ausgebrochen und ans Tageslicht vorgestoßen waren. «Wünschst du dir nicht, die Decke wäre der Fußboden?», sagte Bea. «Wünschst du dir nicht, wir könnten…»

Das Mädchen stand etwa anderthalb Meter entfernt und starrte ernst in meine Richtung, eine pummelige, kräftige Person von drei oder vier Jahren, mit einem Mondgesicht und großen Augen unter der aberwitzigen Perücke. Mit einer Hand hielt sie Giraffi beim Hals, eine von Kämpfen gezeichnete Kreatur, die aussah, als könnte sie einen Sanatoriumsaufenthalt brauchen.

«Hallo», sagte ich. «Schön, dich kennenzulernen. Wie heißt du denn?»

Sie schüttelte heftig den Kopf, blies die Backen auf, drehte sich plötzlich um und lief weg.

Schade, dass ich wirklich bin, dachte ich.

Mein Anfall von Nervosität vor meinem Lyrikkurs für sieben pubertierende Mädchen kam mir lächerlich vor, und doch konnte ich die Enge in meiner Lunge spüren, meinen flachen Atem, mein kurzes ängstliches Schnaufen hören. Ich ermahnte mich streng: Du hast jahrelang Doktoranden im Schreiben unterrichtet, und dies sind nur Kinder. Außerdem hättest du wissen müssen, dass in Bonden kein Junge, der etwas auf sich hält, einen Lyrik-Workshop mitmachen würde, dass hier draußen in der Provinz Lyrik Schwächlinge, Püppchen und Witwen bedeutet. Wieso solltest du erwarten, mehr als ein paar Mädels mit vagen und vermutlich sentimentalen Phantasien über das Schreiben von Versen anzulocken? Wer war ich überhaupt? Ich hatte meinen Doris-Preis, ich hatte meinen Doktor in Komparatistik und meine Stelle an der Columbia, Anzeichen von Seriosität als Beleg dafür, dass ich keine völlige Versagerin war. Mein Problem rührte daher, dass das Innen mit dem Außen in Berührung gekommen war. Nachdem ich in kleinste Teilchen zerbröselt war, hatte ich dieses forsche Vertrauen in das Funktionieren meines Verstandes verloren, jene Erkenntnis, die mir irgendwann mit Ende vierzig gekommen war: dass man mich zwar ignorieren könnte, dass ich es aber beim Denken mit fast jedem aufnehmen konnte, denn dieser enorme Wust an Gelesenem hatte mein Gehirn in eine künstliche Maschine verwandelt, die in einem Atemzug Philosophie, Naturwissenschaften und Literatur herbeizitieren konnte. Ich ermunterte mich mit einer Liste verrückter Dichter (manche mehr, manche weniger): Torquato Tasso, John Clare, Christopher Smart, Friedrich Hölderlin, Antonin Artaud, Paul Celan, Randall Jarrell, Edna St.Vincent Millay, Ezra Pound, Robert Fergusson, Velimir Chlebnikov, Georg Trakl, Gustaf Fröding, Hugh MacDiarmid, Gérard de Nerval, Edgar Allan Poe, Burns Singer, Anne Sexton, Robert Lowell, Theodore Roethke, Laura Riding, Sara Teasdale, Vachel Lindsay, John Berryman, James Schuyler, Sylvia Plath, Delmore Schwartz. Vom Ansehen meiner Mit-Verrückten, -Depressiven und -Stimmenhörer aufrecht gehalten, sauste ich auf meinem Fahrrad der Begegnung mit Bondens sieben Dichterblumen entgegen.

Als ich von