Die unsichtbare Frau - Siri Hustvedt - E-Book

Die unsichtbare Frau E-Book

Siri Hustvedt

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Beschreibung

«Eine literarische Meisterleistung.» FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Iris Vegan, Literaturstudentin in New York: eine intelligente, schöne Frau, aber auch unsicher, beeinflussbar, auf der Suche nach sich selbst – eine Idealfigur für die Phantasien der Männer. Wie unter einem inneren Zwang lässt sie sich auf eine Reihe von erotischen Abenteuern ein. «Die unsichtbare Frau» ist die Geschichte einer Obsession, erzählt in einer fiebrigen und doch glasklaren Prosa.

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Siri Hustvedt

Die unsichtbare Frau

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Uli Aumüller

 

Über dieses Buch

«Eine literarische Meisterleistung.» FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

 

Iris Vegan, Literaturstudentin in New York: eine intelligente, schöne Frau, aber auch unsicher, beeinflussbar, auf der Suche nach sich selbst – eine Idealfigur für die Phantasien der Männer.

Wie unter einem inneren Zwang lässt sie sich auf eine Reihe von erotischen Abenteuern ein.

 

«Die unsichtbare Frau» ist die Geschichte einer Obsession, erzählt in einer fiebrigen und doch glasklaren Prosa.

Vita

Siri Hustvedt wurde 1955 in Northfield, Minnesota, geboren. Sie studierte Literatur an der Columbia University und promovierte mit einer Arbeit über Charles Dickens. Bislang hat sie sechs Romane publiziert. Mit «Was ich liebte» hatte sie ihren internationalen Durchbruch. Zuletzt erschienen «Der Sommer ohne Männer» und «Die gleißende Welt». Zugleich ist sie eine profilierte Essayistin. 

 

Uli Aumüller übersetzt neben Siri Hustvedt u. a. Jeffrey Eugenides, Jean-Paul Sartre, Albert Camus und Milan Kundera. Für ihre Übersetzungen erhielt sie den Paul-Celan-Preis und den Jane Scatcherd-Preis.

Impressum

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel «The Blindfold» 1992 bei Poseidon Press, Simon & Schuster, New York.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2024

Copyright © 1993 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«The Blindfold» Copyright © 1992 by Siri Hustvedt

Redaktion Thomas Überhoff

Covergestaltung Walter Hellmann

Coverabbildung Valentino Sani/Arcangel Images

ISBN 978-3-644-00477-1

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Paul Auster

Eins

Selbst heute noch meine ich manchmal, ich sähe ihn auf der Straße, hinter einem Fenster oder in einem Coffee-Shop über ein Buch gebeugt. Und in dem Augenblick, bevor mir klar wird, daß es jemand anders ist, ziehen sich meine Lungen zusammen, und es verschlägt mir den Atem

Ich begegnete ihm vor acht Jahren. Damals promovierte ich an der Columbia University. Es war ein heißer Sommer, und ich verbrachte oft schlaflose Nächte. Ich lag in meiner Zweizimmerwohnung in der West 109th Street wach und lauschte den Geräuschen der Stadt. Ich las, schrieb und rauchte bis in den Morgen, aber in manchen Nächten, wenn die Hitze mich zu schlapp zum Arbeiten machte, beobachtete ich von meinem Bett aus die Nachbarn. Durch mein vergittertes Fenster über den schmalen Luftschacht hinweg schaute ich in die Wohnung gegenüber und sah die beiden Männer, die dort wohnten, bei dem schwülen Wetter halbnackt von einem Zimmer ins andere gehen. An einem Tag im Juli, kurz bevor ich Mr. Morning kennenlernte, trat einer der Männer nackt ans Fenster. Lange stand er so in der Abenddämmerung, und eine gelbe Lampe beleuchtete von hinten seinen Körper. Ich verbarg mich in der Dunkelheit meines Schlafzimmers, und er bemerkte mich gar nicht. Das war zwei Monate nachdem Stephen mich verlassen hatte, und ich dachte unablässig an ihn, zerwühlte die feuchten Bettlaken, nie entspannt, nie erlöst.

Tagsüber suchte ich Arbeit. Im Juni hatte ich Recherchen für einen Medizinhistoriker gemacht. Fünf Tage in der Woche saß ich im Lesesaal der Academy of Medicine in der East 102nd Street und füllte Karteikarten mit Angaben über schwere Krankheiten – Beulenpest, Lepra, Influenza, Syphilis, Tuberkulose – sowie über obskure Leiden, an die ich mich nur mehr wegen ihrer Namen erinnere: Himbeerseuche, Milchpocken, Grünholzbruch, Rhinitis, Nesselsucht und Morbus Scheuermann. Dr. Rosenberg, ein Achtzigjähriger, der sehr langsam sprach und sich bewegte, bezahlte mir sechs Dollar die Stunde für diese Karteikarten, und obwohl ich nie verstand, was er damit machte, fragte ich ihn nie, aus Angst, eine Erklärung könnte Stunden dauern. Mit dem Job war es vorbei, als mein Arbeitgeber nach Italien fuhr. Ich war als Studentin immer knapp bei Kasse gewesen, aber Dr. Rosenbergs Ferien brachten mich zur Verzweiflung. Ich hatte die Juli-Miete nicht bezahlt und kein Geld für den August. Jeden Tag ging ich zum Schwarzen Brett der philosophischen Fakultät, wo Jobangebote aushingen, aber wenn ich anrief, waren sie immer schon weg. Dennoch, auf diese Weise fand ich Mr. Morning. Ein handgeschriebener kleiner Zettel offerierte folgende Stelle: «Gesucht. Wissenschaftlicher Mitarbeiter für laufendes Forschungsprojekt. Literaturstudent bevorzugt. Herbert B. Morning.» Unter dem Namen stand eine Telefonnummer, und ich rief sofort an. Bevor ich mich richtig vorstellen konnte, gab mir ein Mann mit einer schönen Stimme eine Adresse in der Amsterdam Avenue und forderte mich auf, so bald wie möglich zu kommen.

Es war ein diesiger Tag, aber die Sonne blendete, und ich blinzelte in dem hellen Licht, als ich Mr. Mornings Haus betrat. Der Aufzug des Mietshauses war kaputt, und ich erinnere mich, daß ich schwitzte, als ich die Treppen zum vierten Stock hinaufstieg. Ich sehe noch sein angespanntes Gesicht im Türrahmen vor mir. Er war ein sehr blasser Mann mit einer hübschen großen Nase. Er atmete laut, als er die Tür öffnete und mich in einen winzigen, stickigen Raum einließ, der nach Katzen roch. Die Wände waren mit überquellenden Bücherregalen zugestellt, und weitere Bücher stapelten sich überall im Raum zu schiefen Türmen. Auch hohe Stöße Zeitungen und Zeitschriften lagen herum und unter einem Fenster, dessen Jalousie ganz heruntergelassen war, ein Haufen alte Kleider oder Lumpen. In der Mitte des Raums stand ein massiver Schreibtisch aus Holz, und darauf lagen etwa ein Dutzend verschieden große Schachteln. Dicht neben dem Schreibtisch befand sich ein schmales Bett, dessen zerknitterte Laken ebenfalls mit Büchern übersät waren. Mr. Morning nahm hinter dem Schreibtisch Platz, und ich setzte mich ihm gegenüber auf einen alten Klappstuhl. Ein dünner Lichtstrahl, der durch eine zerbrochene Lamelle drang, fiel auf den Boden zwischen uns, und als ich hinschaute, sah ich Staub flimmern.

Ich rauchte, wodurch das Zimmer noch dunstiger wurde, und sah die Haut auf seinem Hals an; sie war mondweiß. Er sagte, er sei froh über mein Kommen, dann verstummte er. Ohne jede erkennbare Zurückhaltung sah er mich an und studierte meinen ganzen Körper. Ich weiß nicht, ob dieser zudringliche Blick geil oder nur neugierig war, jedenfalls fühlte ich mich bedrängt und drehte mich von ihm weg, und als er mich nach meinem Namen fragte, log ich. Schnell, ohne zu zögern, erfand ich einen neuen Nachnamen. Ich wurde Iris Davidsen. Es war ein Akt der Notwehr, der mich vor einer vagen Gefahr schützen sollte. Später jedoch verfolgte mich dieser falsche Name; er schien mich anderswohin zu versetzen, brachte mich vom Weg ab und veränderte eine Zeitlang auf seltsame Weise meine ganze Welt. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, stellt sich mir diese Lüge als der Anfang der Geschichte dar, als eine Art Schlüssel zu meinem Unbehagen. Alles übrige, was ich ihm erzählte, stimmte: die Angaben über meine Eltern und Schwestern in Minnesota, über mein Studium der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts, über meine vorangegangenen wissenschaftlichen Hilfstätigkeiten, sogar meine Telefonnummer. Während ich sprach, lächelte er mich an, und ich dachte, es ist ein vertrautes Lächeln, als kenne er mich seit Jahren.

Er sagte mir, er sei Schriftsteller und schreibe für Zeitschriften, um Geld zu verdienen. «Ich schreibe für jeden Geschmack über alles», sagte er. «Ich habe für Field and Stream, House and Garden, True Confessions, True Detective und Reader's Digest geschrieben. Ich habe Erzählungen, einen Spionageroman, Gedichte, Essays und Rezensionen geschrieben. Einmal sogar den Text zu einem Kunstkatalog.» Er grinste und machte eine ausholende Armbewegung. «Stanley Rubins rhythmische Gemälde weisen Anklänge an den Manierismus auf, insbesondere an Pontormo. Die langen, wogenden Formen erinnern an …» Er lachte. «Und ich veröffentliche selten unter demselben Namen.»

«Stehen Sie nicht hinter dem, was Sie schreiben?»

«Ich bin hinter allem, was ich schreibe, Miss Davidsen, normalerweise sitzend, manchmal stehend. Im 18. Jahrhundert war es üblich, stehend an einem Pult zu schreiben. Auch Thomas Wolfe schrieb im Stehen.»

«Das meinte ich eigentlich nicht.»

«Nein, natürlich nicht. Aber sehen Sie, Herbert B. Morning könnte unmöglich für True Confessions schreiben, aber Fern Luce kann es. So einfach ist das.»

«Macht es Ihnen Spaß, sich hinter Masken zu verbergen?»

«Einen Riesenspaß. Es bringt eine gewisse Farbigkeit und Gefahr in mein Leben.»

«Ist Gefahr nicht etwas übertrieben?»

«Ich glaube nicht. Nichts übersteigt meine Fähigkeiten, solange ich mir für jedes Vorhaben den richtigen Namen zulege. Sie sind nicht willkürlich. Es erfordert eine Begabung, einen genialen Einfall, wenn ich so sagen darf, den Nom de plume zu treffen, der den richtigen Mann oder die richtige Frau für die Aufgabe freisetzt. Dewitt L. Parker schrieb zum Beispiel den Kunstkatalog und Martin Blane den Spionageroman. Aber es ist auch riskant. Selbst der sorgfältigste Plan kann schiefgehen. Man kann einfach nicht wissen, wer hinter dem Pseudonym steckt, das man sich aussucht.»

«Ich verstehe», sagte ich. «Wenn es so ist, sollte ich Sie wohl fragen, wer Sie jetzt gerade sind?»

«Werte Dame, Sie haben das Privileg, mit Herbert B. Morning höchstpersönlich zu sprechen, unbelastet von anderen Personen.»

«Und wofür braucht Mr. Morning eine wissenschaftliche Hilfskraft?»

«Für eine Art Biographie», sagte er, «für ein Projekt über die Paraphernalien des Lebens, sein Drum und Dran, seine Schätze und Abfälle. Ich brauche jemanden wie Sie, der unvoreingenommen auf die betreffenden Gegenstände reagiert. Ich brauche ein Ohr und ein Auge, einen Schreiber und eine Stimme, einen Freitag für jeden Tag der Woche, jemanden, der scharfsinnig und sensibel ist. Sehen Sie, ich bin dabei, die wahre Essenz der unbelebten Welt zu ergründen. Man könnte es eine Anthropologie der Gegenwart nennen.»

Ich bat ihn, mir den Job näher zu erklären.

«Es begann vor drei Jahren, als sie starb.» Er hielt inne, als dächte er nach. «Ein Mädchen … eine junge Frau. Ich kannte sie, aber nicht sehr gut. Jedenfalls, nach ihrem Tod gelangte ich irgendwie in den Besitz einiger Dinge von ihr, ganz gewöhnlicher Alltagsdinge. Ich hatte sie in der Wohnung, dies und das, kunterbunt durcheinander, verlorene, zurückgelassene Gegenstände, stumm, aber nicht tot. Das war der Haken daran. Sie waren nicht tot, nicht in der üblichen Weise, wie wir Gegenstände für leblos halten. Sie schienen mit irgendeiner Energie aufgeladen. Manchmal fühlte ich fast, daß sie sich bewegten, und dann, nach einigen Wochen, bemerkte ich, daß sie diese Lebendigkeit zu verlieren, sich in ihre Dinghaftigkeit zurückzuziehen schienen. Deshalb habe ich sie in Schachteln gesteckt.»

«Sie haben sie in Schachteln gesteckt?» fragte ich.

«Ich habe sie in Schachteln gesteckt, damit sie vom Hier und Jetzt unberührt bleiben. Ich bin sicher, daß diese Dinge ihren Stempel tragen – den Abdruck eines warmen, lebendigen Körpers auf die Welt. Und obwohl ich versucht habe, sie sicher zu verwahren, werden sie kalt. Ich weiß es. Es hat zu lange gedauert, deshalb drängt meine Arbeit. Ich muß schnell handeln. Ich bezahle Ihnen sechzig Dollar pro Gegenstand.»

«Pro Gegenstand?» Ich schwitzte auf dem Stuhl, setzte mich zurecht und zog den Rock unter meine Beine, die sich merkwürdig kühl anfühlten.

«Ich erkläre Ihnen alles», sagte er. Er holte einen kleinen Kassettenrecorder aus einer Schreibtischschublade und schob ihn mir herüber. «Hören Sie sich das erst mal an. Es wird Ihnen das meiste sagen, was Sie wissen wollen. Während Sie zuhören, verlasse ich das Zimmer.» Er stand auf und ging zu einer Tür. Eine große rotgelbe Katze tauchte hinter einer Kiste auf und folgte ihm. «Drücken Sie auf PLAY», wies er mich an und verschwand.

Als ich nach dem Gerät griff, bemerkte ich das auf einen danebenliegenden Schreibblock gekritzelte Wort «Frauenhand». Das Wort schien wichtig zu sein, und ich erinnere mich daran, als wäre es das Losungswort zu einem geheimen Leben. Als ich das Gerät einschaltete, flüsterte eine weibliche Stimme: « Dies gehörte der Verstorbenen. Es ist ein weißes Laken für ein Einzelbett …» Was folgte, war eine sorgfältige Beschreibung des Lakens. Sie ging auf jede kleine Verfärbung, auf jeden winzigen Fleck, auf die Struktur der sehr alten Baumwolle ein und sogar auf das Etikett, dessen Schrift herausgewaschen war. Sie dauerte ungefähr zehn Minuten und wurde durchweg mit dieser eigenartigen halblauten Stimme vorgetragen. Die Beschreibung selbst war langweilig, und doch lauschte ich ihr erwartungsvoll, in der Annahme, die Wörter würden bald von etwas anderem als dem Laken erzählen. Sie taten es nicht. Als das Band zu Ende war, blickte ich zu der Tür, hinter die Mr. Morning sich verzogen hatte, und sah, daß sie jetzt etwas offenstand und die Hälfte seines Gesichts durch die Öffnung schaute. Er wurde von hinten angestrahlt, und ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deutlich erkennen, aber das fahle Haar auf seinem Kopf leuchtete, und wieder hörte ich ihn mühsam atmen, als er auf mich zukam. Er griff nach meiner Hand. Ohne nachzudenken, zog ich sie zurück.

«Sie wollen Beschreibungen der Sachen dieses Mädchens, nicht wahr?» Ich bemerkte das Gezwungene und Förmliche an meinem Ton. « Ich verstehe nicht, was eine solche Tonbandaufzeichnung mit Ihrem Projekt insgesamt zu tun hat und warum die Frau auf der Kassette flüstert.»

«Das Flüstern ist ganz wesentlich, weil die normale menschliche Stimme zu individuell ist, zu sehr von ihrer eigenen Geschichte geprägt. Ich bin auf Anonymität aus, damit die Reinheit des Gegenstandes ungehindert herauskommt, damit er sich in seiner Nacktheit entfalten kann. Geflüster hat keinen Charakter.»

Das Projekt wirkte ausgefallen bis zur Verrücktheit, aber es zog mich an. Der Zufall hatte mir dieses kleine Abenteuer beschert, und ich war erfreut. Auch spürte ich, daß Mr. Mornings Ideen unter ihrem exzentrischen Anschein eine komische Logik hatten. Seine Erläuterungen über das Flüstern klangen plausibel.

«Warum transkribieren Sie die Beschreibungen nicht?» fragte ich. «Dann wird die Anonymität, die Sie wollen, durch keine Stimme beeinträchtigt.» Ich beobachtete gespannt sein Gesicht.

Er beugte sich über den Schreibtisch und sah mich geradeheraus an. «Weil dann nichts Lebendiges, keine Kraft da wäre, die eine Erweckung auslösen könnte», sagte er.

Ich rutschte wieder auf meinem Stuhl herum und starrte den Haufen Lumpen unter dem Fenster an. «Was meinen Sie mit Erweckung?»

«Ich meine, daß die betreffenden Gegenstände bei genauem Hinsehen anfangen, sich zu regen, daß sie, stumm wie sie sind, trotzdem Zeugnis von menschlichen Geheimnissen ablegen können.»

«Glauben Sie, es sind Schlüssel zum Leben des Mädchens? Geht es Ihnen darum, etwas über sie zu erfahren? Gibt es keine direkteren Wege, Biographisches herauszufinden?»

«Nicht die Art von Biographischem, die mich interessiert.» Er lächelte mich an, wobei er diesmal den Mund öffnete, und ich bewunderte seine großen weißen Zähne. Er ist noch nicht alt, dachte ich, nicht einmal fünfzig. Er beugte sich vor, hob eine blaue Schachtel vom Boden auf – eine mittelgroße blaue Kaufhausschachtel – und übergab sie mir.

Ich zog an ihrem Deckel.

«Nicht jetzt!» schrie er fast. «Nicht hier.»

Ich drückte den Deckel wieder herunter.

«Machen Sie es zu Hause. Das Objekt muß eingepackt und in der Schachtel bleiben, außer wenn Sie arbeiten. Untersuchen Sie es. Beschreiben Sie es. Lassen Sie es zu Ihnen sprechen. Ich habe auch einen Recorder und eine neue Kassette für Sie. O ja, und Sie sollten Ihre Beschreibung mit den Worten ‹Dies gehörte der Verstorbenem beginnen. Könnten Sie es mir übermorgen bringen?»

Ich sagte, das könnte ich, dann verließ ich mit meiner Schachtel und meinem Kassettenrecorder die Wohnung und eilte hinaus ins Tageslicht. Ich entfernte mich schnell von dem Haus und schaute erst in die Schachtel, nachdem ich um die Ecke gebogen und sicher war, daß er mich von seinem Fenster aus nicht sehen konnte. Darin lag ein ziemlich schmutziger weißer Handschuh auf einem Bett aus Seidenpapier.

 

Ich ging erst später nach Hause. Ich floh vor der Hitze in einen klimatisierten Coffee-Shop, wo ich stundenlang saß, mir Notizen über den Handschuh machte und ausrechnete, wie viele Gegenstände ich beschreiben mußte, bis ich meine Miete bezahlen konnte. Ich stellte mir meine Beschreibungen als gehaltvolle, elegante Aufsätze vor, als kleine literarische Etüden auf der Grundlage eines verspäteten Positivismus des 19. Jahrhunderts. Nur vorläufig beschloß ich, so zu tun, als könne ein Ding wirklich mittels Sprache erfaßt werden. Ich trank Kaffee, aß einen glasierten Krapfen und war glücklich.

Abends jedoch, als ich den Handschuh neben meine Schreibmaschine legte und mit der Arbeit anfangen wollte, schien er sich verändert zu haben. Ich hielt ihn in der Hand, fühlte den verfilzten Wollstoff an, und dann zog ich ihn ganz langsam über meine linke Hand. Er war zu klein für meine langen Finger und reichte nicht über das Handgelenk. Als ich ihn mir anschaute, hatte ich das unheimliche Gefühl, denselben Handschuh schon an einer anderen Hand gesehen zu haben. Ich begann hastig an seinen Fingern zu ziehen, bis er auf den Boden segelte. Nicht gewillt, ihn anzufassen, ließ ich ihn einige Minuten liegen. Die kleine wollene Hand voller Flecken und Risse kam mir schrecklich vor, ein abgetanes, leeres Ding, zugleich unsinnig und grausam. Schließlich griff ich nach ihm und warf ihn wieder in die Schachtel. Ich würde erst am nächsten Tag schreiben. Es war zu heiß; ich war zu müde, zu nervös. Ich lag neben dem offenen Fenster im Bett, aber die Luft stand. Ich berührte meine klebrige Haut und sah zur gegenüberliegenden Wohnung, doch die beiden Männer waren ins Bett gegangen und ihre Fenster dunkel. Bevor ich einschlief, brachte ich die Schachtel in das andere Zimmer.

In dieser Nacht fing das Geschrei an. Ich wachte von dem Lärm auf, konnte ihn aber nicht identifizieren und dachte zuerst, es wäre das liebestolle Jaulen von Katzen, das ich zu Beginn des Sommers gehört hatte. Aber es war eine Frauenstimme – ein langes gutturales Wimmern, das in einem Knurren endete. «Hör auf! Ich hasse dich! Ich hasse dich!» schrie sie wieder und wieder. Ich erstarrte bei dem Geräusch und überlegte, ob ich die Polizei rufen sollte, hörte aber lange einfach zu und wartete. Jemand brüllte aus einem Fenster «Halt’s Maul!», und es wurde still. Ich erwartete, daß es wieder anfangen würde, aber es war vorbei. Ich feuchtete einen Waschlappen mit kaltem Wasser an und rieb mir den Hals, die Arme und das Gesicht ab. Dabei dachte ich an Stephen, so wie ich ihn oft gesehen hatte: an seinem Schreibtisch, den Kopf leicht von mir abgewandt, die großen Augen auf ein Blatt Papier gerichtet. Zu der Zeit war sein Körper noch verzaubert; er hatte eine Macht, gegen die ich monatelang ankämpfte und wütete. Später ließ dieser Zauber nach, und Stephen nahm eine Banalität an, die ich nie für möglich gehalten hätte.

Am nächsten Morgen machte ich mich wieder an die Arbeit. Bei Tageslicht war die kleine Schachtel auf dem Küchentisch wieder so unschuldig wie zuvor. Mit Hilfe meiner Notizen aus dem Coffee-Shop arbeitete ich stetig, aber es war schwierig. Ich sah mir den Handschuh genau an und versuchte, mich an die Wörter für seine verschiedenen Teile, für sein Gewebe und die Farbe der Flecken zu erinnern. Ich stellte fest, daß die Spitze des Zeigefingers schwarz war, so als wäre die Besitzerin damit über eine schmutzige Oberfläche gefahren. Wahrscheinlich war sie Linkshänderin, dachte ich, das ist eine Geste, die man mit der geübteren Hand macht. Ein Mädchen, das mit dem Finger über ein Geländer in der U-Bahn streicht. Das Bild löste ein schauderndes Erinnern aus: «Frauenhand». Womöglich bezog sich das Wort auf ihre Hand, ihre behandschuhte Hand oder auf den Handschuh selbst. Der Zusammenhang erschien bedeutungsvoll, und doch rief er nur ein Gefühl in mir hervor, so etwas wie ein Schuldgefühl. Ich fuhr mit der Beschreibung fort, aber je mehr ich schrieb, je eingehender ich die Merkmale des Handschuhs vermerkte, um so ferner wurde er. Statt daß er im Licht wissenschaftlicher Genauigkeit festgehalten wurde, ließ die Detailfülle ihn verschwinden. Tatsächlich wirkte meine minutiöse Beschreibung seiner Verfärbungen, Risse und Knötchen, seiner losen Fäden und seiner gedehnten Handfläche fremd in bezug auf das traurige kleine Ding vor mir.

Abends redigierte ich meine Arbeit und nahm sie mit dem Recorder auf. Das Flüstern war mir lästig; es verkappte, verfremdete die Wörter, und als ich mir die Kassette anhörte, erkannte ich meine eigene Stimme nicht wieder. Es klang wie ein frühreifes Kind, das von einem unsichtbaren Teil des Raumes her Unsinniges lispelt, und beim Zuhören stieg mir eine Schamröte ins Gesicht, die ich noch immer nicht verstehe.

Spätnachts wachte ich wieder von den Schreien auf, aber sie hörten, genau wie beim letztenmal, nach einigen Minuten auf. Diesmal konnte ich nicht wieder einschlafen und lag irgendwie gequält stundenlang wach, während mir von Erschöpfung und Hitze zersplitterte Bilder durch den Kopf geisterten.

 

Mr. Morning reagierte nicht gleich auf mein Klingeln. Ich drückte dreimal auf den Knopf und wollte schon gehen, als ich ihn zur Tür schlurfen hörte. Er blieb im Eingang stehen, sah mir direkt in die Augen und lächelte. Das schöne Lächeln erschreckte mich, und ich wandte mich ab. Er entschuldigte sich für die Verzögerung, erklärte sie aber nicht. An diesem Tag war die Wohnung noch chaotischer als bei meinem ersten Besuch; vor allem auf dem Tisch lagen Blätter und Schachteln wild durcheinander. Er bat mich um die Kassette ; ich gab sie ihm, worauf er mich freundlich aus dem Zimmer hinter die Tür schob, hinter der er sich letztesmal versteckt hatte.

Ich befand mich in der Küche, einem winzigen Raum, noch heißer und übelriechender als der andere. Im Spülbecken stand etwas schmutziges Geschirr, auf dem Büffet stapelten sich diverse Bücher und eine große weiße Schachtel. Aus dem Zimmer nebenan konnte ich gerade eben das Tonband mit meiner leisen Stimme über den Handschuh wispern hören. Ich blätterte in einigen Büchern, einem Weltatlas und einer kleinen Ausgabe von The Cloud of Unknowing, aber was mich wirklich interessierte, war die Schachtel. Ich stand über sie gebeugt. Die Ecken des Deckels waren abgenutzt, als wäre er viele Male geöffnet worden ; zwei Seiten waren zugeklebt. Ich fuhr mit dem Finger über den Klebestreifen, um festzustellen, ob ich ihn ablösen könnte. Ich kratzte mit dem Fingernagel an dem gelben Film, aber dadurch wurde er faltig und riß ; also hörte ich auf und fing an der anderen Seite an. Mein Kopf war über die Schachtel gebeugt, als ich ihn zur Tür kommen hörte, und ich sprang zurück, wobei ich die Schachtel versehentlich vom Büffet stieß. Sie fiel zu Boden, ging aber nicht auf. Ich konnte sie eben noch auf ihren Platz zurückstellen, bevor Mr. Morning in der Tür erschien. Ob er meine Hände von der Schachtel wegschnellen sah oder nicht, weiß ich immer noch nicht, aber als die Schachtel herunterfiel, verursachte das, was darin war, ein lautes, hohles Klappern, das er gehört haben mußte. Er sagte jedoch nichts.

Wir gingen in das andere Zimmer und setzten uns. Er sah mich an, und ich erinnere mich, gedacht zu haben, daß sein Blick eine besondere Kraft hatte und er weniger oft zu blinzeln schien als die meisten Menschen.

«War das Tonband in Ordnung?» fragte ich.

«Sehr gut», sagte er, «aber einen Aspekt des Dings haben Sie bei Ihrer Beschreibung ausgelassen, und ich halte ihn für ziemlich wichtig.»

«Welchen denn?»

«Den Geruch.»

«Daran habe ich nicht gedacht», sagte ich.

«Ja», sagte er, «die meisten denken nicht daran, aber ohne ihren Geruch verlieren Dinge ihre Identität. Das Fehlen des Geruchs verstümmelt Ihre Beschreibung, macht sie zweidimensional. Jeder Gegenstand hat seine eigene Duftnote und überträgt außerdem den Geruch seiner Umgebung. Das kann für eine Untersuchung unschätzbar wichtig sein.»

«Inwiefern?» fragte ich laut.

Er überlegte und sah zum Fenster. «Indem etwas Entscheidendes, etwas vorher Unbemerktes wachgerufen wird, ein Ort, eine Zeit oder ein Wort. Denken Sie nur an die Dinge, die wir in Wandschränken und auf Dachböden vergessen, den Schimmel, den Staub, die plattgedrückten, vertrockneten Insekten – diese Gerüche hinterlassen Spuren. Die Koffer meiner Mutter rochen nach feuchter Wolle und Lavendel. Ich brauchte lange, um zu erkennen, was das für ein Geruch war, aber dann identifizierte ich ihn und erinnerte mich an Erlebnisse, die ich vergessen hatte.»

«Möchten Sie sich an etwas erinnern, was mit dem verstorbenen Mädchen zu tun hat?» fragte ich.

«Warum sagen Sie das?» Er wandte mir abrupt den Kopf zu.

«Weil Sie mit alldem offenbar etwas bezwecken. Sie wollen diese Beschreibungen aus einem bestimmten Grund haben. Als Sie eben die Koffer erwähnten, dachte ich, Sie wollten vielleicht eine Erinnerung heraufbeschwören.»

Er blickte wieder weg. «Die Erinnerung an eine ganze Welt», sagte er.

«Ich dachte, Sie kannten sie kaum, Mr. Morning.»

Er nahm einen Stift und kritzelte damit auf einem Notizblock herum. «Habe ich Ihnen das gesagt?»

«Ja.»

«Es stimmt. Ich kannte sie nicht gut.»

«Worauf sind Sie dann aus? Wer war diese Person, der Sie da nachspüren?»

«Das wüßte ich auch gern.»

«Sie weichen meinen Fragen aus. Es hatte doch wohl einen Namen, dieses Mädchen?»

«Ihr Name wird Ihnen nicht weiterhelfen, Miss Davidsen.» Er flüsterte jetzt fast.

«Er wird mir aber auch nicht schaden», sagte ich.

Er bewegte den Stift gedankenlos über das Blatt vor ihm. Ich reckte mich, um es zu sehen, und versuchte die Bewegung damit zu tarnen, daß ich meinen Rock zurechtzog. Auf dem Blatt standen mehrere Buchstaben, die aussahen wie ein I, ein Y, ein B, ein O, ein M und ein D. Um das M hatte er einen Kreis gezogen. Falls diese Notierungen irgendeine Ordnung ergeben sollten, so war sie unmöglich zu erkennen; doch schon damals, bevor ich etwas argwöhnte, hatten diese Buchstaben eine eigenartige Wirkung auf mich. Sie blieben in mir wie die leisen, aber anhaltenden Schmerzen einer leichten Krankheit.

Er legte den Stift hin, sah mich an und nickte. Er klopfte auf seine Brust. «Sie haben ein Hitzebläschen – da.»

«Nein, das ist ein Muttermal.» Ich berührte die Haut direkt unter meinem Schlüsselbein.

«Ein Portweinmal», sagte er. «Es hat Charakter – ein Erkennungszeichen fürs Leben. Verzeihen Sie bitte, wenn ich sage, daß ich solche Makel immer ergreifend gefunden habe, kleine äußere Zeichen unserer Sterblichkeit. In einer Sache, die ich einmal geschrieben habe, kam ein Muttermal vor …»

Ich unterbrach ihn. «Sie wollen mir nichts sagen, nicht wahr?»

«Sie beziehen sich auf unser Thema, nehme ich an?»

«Natürlich.»

«Ich glaube, Sie haben das Wesen Ihrer Aufgabe nicht ganz verstanden. Ich habe Sie gerade deswegen engagiert, weil Sie nichts wissen. Ich habe Sie engagiert, damit Sie sehen, was ich nicht sehen kann, weil Sie sind, wer Sie sind. Ich behaupte ja nicht, daß Sie ein unbeschriebenes Blatt sind. Sie bringen Ihr Leben mit ein, Ihre Romane aus dem 19. Jahrhundert, Ihr Minnesota, Ihre in jeder Hinsicht ausgefüllte Existenz, aber Sie haben sie nicht gekannt. Wenn Sie die Dinge ansehen, die ich Ihnen gebe, wenn Sie darüber schreiben und dann sprechen, können Ihre Worte und Ihre Stimme Katalysatoren für ein unbekanntes Wesen werden. Kenntnisse über sie würden Sie nur von Ihrer Arbeit ablenken. Sagen wir zum Beispiel, sie hieß Allison Hart und starb an Leukämie. Dann taucht etwas vor Ihnen auf, ein Bild. Vielleicht eine Reihe von Krankenhausbetten, in einem großen Raum mit diesen Neonröhren, und Sie sehen sie vor sich, da bin ich sicher. Allison – ein romantischer Name –, bleich und abgemagert, früher einmal schön, liegt sie unter weißen Laken … Und was Sie sehen, nimmt nicht nur durch meine Worte Gestalt an, sondern durch meine Intonation, durch meinen Ausdruck, und dann werden Sie Ihre Freiheit verlieren.»

Ich wollte etwas sagen, aber er unterbrach mich.

«Nein, lassen Sie mich ausreden. Nehmen wir an, ich sage Ihnen, daß sie» – er hielt inne – «Maxine Robinson hieß und ermordet wurde.» Er sah an mir vorbei zur Tür und kniff die Augen zusammen, wie um etwas weit Entferntes zu betrachten. Er atmete mehrmals tief durch. «Daß sie hier, in diesem Haus, umgebracht wurde. Was würden Sie sich dann ausdenken, Miss Davidsen, wenn Sie in meine Schachteln hineinsehen? Das, was Sie wüßten, würde Ihnen den Atem verschlagen, so wie mir. Es würde nicht klappen; es würde einfach nicht klappen.»

«Sie spielen mit mir, und das ärgert mich», sagte ich. «Wenn Sie zulassen, daß ich meine eigenen Assoziationen in die Beschreibungen einbringe, warum sollte ich dann nicht meinen Senf zu ihren Lebensumständen dazugeben? Und zu denen ihres Todes.»

«Weil», schrie er beinah, «weil es uns um Entdeckung, um Auferstehung geht, nicht um eine Beerdigung.» Er packte die Tischkante und rüttelte daran. «Buße, Miss Davidsen. Buße!»

«Du lieber Gott», sagte ich, «Buße wofür?»

Plötzlich wurde er ruhig. Er schob seinen Stuhl zurück, schlug die Beine übereinander, verschränkte die Arme und legte den Kopf zur Seite. Diese Bewegungen wirkten aufgesetzt, fast theatralisch. «Für die Sünden der Welt.»

«Was bedeutet das?»

«Genau das, was die Wörter bezeichnen.»

«Diese Wörter, Mr. Morning, sind liturgisch. Sie verfallen plötzlich in einen religiösen Ton. Was soll ich davon halten? Sie scheinen eine Begabung dafür zu haben, stilvoll nichts zu sagen.»

«Haben Sie Geduld, dann, glaube ich, werden Sie mich allmählich verstehen.» Er lächelte.

Mir fiel keine Antwort ein. Das heiße Zimmer, die Dunkelheit, sein Ausbruch und sein unverständliches Gerede hatten mir den Willen zu einer Replik genommen. Innerhalb von Sekunden hatte mich Erschöpfung übermannt. Die Knochen taten mir weh. Schließlich sagte ich: «Ich muß jetzt gehen.»

«Wenn Sie bleiben, koche ich einen Tee. Ich gebe Ihnen Waffeln zu essen und erzähle Ihnen Geschichten. Ich verdrehe Ihnen den Kopf mit meinen tadellosen Manieren, meinem Witz und meiner Phantasie.»

Ich schüttelte den Kopf. «Ich muß wirklich gehen.»

Darauf bezahlte er mich mit drei Zwanzigdollarscheinen und gab mir eine andere Schachtel mit – diesmal ein weißes Schmuckkästchen. Er sagte mir, er brauche die Beschreibung erst am nächsten Montag. Ich hatte also vier Tage Zeit. Wir gaben uns die Hand, und bevor ich aus der Tür ging, tätschelte er meinen Arm. Es war eine Geste der Sympathie, und ich nahm sie entgegen, als stünde sie mir zu.

 

In der zweiten Schachtel war ein verschmutztes, deformiertes Wattebällchen. Ich zögerte, es anzufassen, als wäre es infiziert. Der Faserbausch war mit Make-up oder Puder verschmiert, das im Licht orange aussah, und mit etwas nicht identifizierbarem Festen, Braunen verklebt. Ich ging auf Abstand zu der kleinen Schachtel. Hatte er dieses Ding nach ihrem Tod an sich genommen? Ich stellte ihn mir in einem Badezimmer vor, wie er sich über einen Abfalleimer beugte, um das benutzte Wattebällchen sicherzustellen. Wie war er an diese Dinge gekommen? Hatte er noch mehr von ihrem Abfall in Schachteln gehortet? Ich sah ihn vor mir, allein auf seinem Stuhl gegenüber dem Fenster mit der geschlossenen Jalousie, wie seine Finger die Konturen eines Gegenstandes nachzogen. In meinem Tagtraum konnte ich jedoch nicht sehen, was er in der Hand hielt. Ich sah nur seinen Körper darübergebeugt.

Während dieser vier Tage bis zum nächsten Besuch bei Mr. Morning wurde ich ihn nie los. Gesprächsfetzen drängten sich jederzeit, besonders nachts, unaufgefordert in meine Gedanken. Die Vorstellung, daß das Mädchen in seinem Haus ermordet worden war, bemächtigte sich meiner, und ich begann mir die Sache auszumalen. Er hatte sich damit über mich lustig gemacht; er hatte mich damit ködern wollen, aber einmal ausgesprochen, begriff ich, daß ich es von Anfang an gewußt hatte. Auferstehung. Buße. Seine Erregung hatte echt gewirkt. Ich erinnerte mich an seinen gequälten Atem, als er sprach, an die Buchstaben auf dem Blatt Papier, an die herunterfallende weiße Schachtel, an seine Hand auf meinem Arm. Gleichzeitig sagte ich mir, daß der Mann ein Scharlatan war, jemand, der Spiele, Rätsel und Andeutungen liebte. Nichts von dem, was er sagte, durfte man glauben. Aber letzten Endes argwöhnte ich gerade wegen seiner Verstellung, daß er die Wahrheit zwischen seinen Lügen versteckt hatte und daß es ihm mit seinem Projekt und dem Mädchen ernst war.

Abends arbeitete ich stundenlang an der Beschreibung. Ich hielt das Wattebällchen mit einer Pinzette gegen das Licht und versuchte Worte dafür zu finden, aber das Ding entzog sich der Sprache; es widerstand ihr sogar noch mehr als der Handschuh. Und als ich es mit Metaphern versuchte, ging das Objekt so vollständig in den Bildern unter, daß ich das Vergleichen aufgab. Was war dieses Stück Abfall? Als ich an den Fasern roch und mit einer Nadel an dem braunen Fleck herumstocherte, überkam mich Ekel. Das Wattebällchen sagte mir nichts. Es war eine Niete, eine Null; wahrscheinlich stand es in keinerlei Verbindung zu etwas Schrecklichem, und doch hatte ich das Gefühl, als wäre ich Mitwisserin eines beschämenden Geheimnisses geworden, als hätte ich etwas gesehen, was ich nicht hätte sehen sollen. Ich schrieb langsam, und meine Gedanken schweiften ab. Es war eine Nacht mit vielen Geräuschen: nebenan zankten sich ein Mann und eine Frau auf spanisch; Feuersirenen heulten, und irgendwo in der Nähe hörte ich einen unglücklichen Hund jaulen. Gegen zwei Uhr flüsterte ich in der brütenden Enge meines Schlafzimmers die Beschreibung in das Gerät. Nach der Aufnahme legte ich das Wattebällchen in seine Schachtel zurück und versteckte sie und die Tonkassette in einem Schrank im anderen Zimmer. Als ich die Tür zumachte, wurde mir klar, daß ich mich wie ein Mensch mit einem schlechten Gewissen verhielt.

Zum drittenmal stand ich in dem dunklen Flur vor Mr. Mornings Tür. Aus der Wohnung kam ein Geräusch, wie wenn ein Wind hindurchführe, ein Brausen. Ich legte das Ohr an die Tür, und dann begriff ich, was es war: die Tonbänder, sich überlagernde hauchende Stimmen. Er spielte die Beschreibungen ab. Man konnte die Stimmen nicht voneinander unterscheiden, aber ich war sicher, daß meine darunter war. Ich entfernte mich von der Tür. In dem Moment erwog ich, die Schachtel und den Kassettenrecorder vor die Tür zu legen und wegzulaufen. Statt dessen klopfte ich. Kann sein, daß ich Mr. Morning damals einfach verstehen wollte, daß ich wissen wollte, was er verheimlichte. Ich hörte, wie die Geräte abgestellt und nacheinander zurückgespult und dann Schubladen aufgezogen und zugeschoben wurden.

Als er die Tür öffnete, war einiges an ihm in Unordnung. Sein schweißnasses Haar stand vom Kopf ab, und an seinem Hemd waren zwei Knöpfe auf. Ich vermied es, in sein gerötetes Gesicht zu sehen, und begab mich statt dessen in den nunmehr vertrauten Raum. Die Jalousie war immer noch dicht geschlossen. Wie hält er es in dieser Dunkelheit aus? dachte ich. Er beugte sich zu mir und lächelte.

«Entschuldigen Sie mein Aussehen, Miss Davidsen, ich habe geschlafen und darüber die Zeit ganz vergessen. Sie sehen mich in meiner Rolle als Oblomov – noch im Halbschlaf. Den Brokatschlafrock müssen Sie sich dazudenken, fürchte ich. Und zu meinem unendlichen Bedauern ist kein Sachar da.»

Als er das Wort «geschlafen» aussprach, fühlte ich, wie sich in meiner Brust etwas leicht zusammenzog. Er lügt, dachte ich. Er hat nicht geschlafen. Er hat sich die Bänder angehört.

Er fuhr fort: «Geben Sie mir die Beschreibung, und ich bringe Sie gleich in den anderen Raum, dann können wir uns unterhalten. Ich habe mich auf Ihren Besuch gefreut. Sie sind ein Lichtblick.»

In der Küche blickte ich mich suchend nach der Schachtel um, aber sie war nicht da. Er hat sie weggestellt, dachte ich, damit ich nicht sehen kann, was darin ist. Während ich wartete, drang der leise Klang meiner Stimme aus dem Zimmer nebenan. Wie viele Leute hatte er für diese Tonband-Aufzeichnungen angeheuert? Wozu dienten sie wirklich? Einen Augenblick lang stellte ich mir vor, wie er in dem ungemachten Bett lag und diesem verworrenen Geflüster lauschte, aber ich schob das Bild beiseite. Dann stand er in der Tür und winkte mir zu, nach nebenan zu kommen.

«Sie haben mit einem schwierigen Objekt gute Arbeit geleistet», sagte er.

«Woher haben Sie es?» fragte ich. «Mir kommt es nicht sehr aufschlußreich vor, dieses bißchen fusseliger Abfall.»

«Gerade solche Dinge sind am verräterischsten und rührendsten. Sie war in Ihrer Beschreibung hörbar … die Rührung.»

«Woher haben Sie es?» wiederholte ich.

«Sie hat es hiergelassen», sagte er.

«Wer war sie? Was hat sie Ihnen bedeutet?»

«Sie können nicht widerstehen, nicht wahr? Sie sterben vor Neugier. Das kann man von einem klugen Mädchen wie Ihnen wohl nicht anders erwarten. Ich weiß ehrlich nicht, wer sie war oder was sie mir bedeutete. Wenn ich es wüßte, würde ich mich nicht mit diesem Problem beschäftigen. Aber das stellt Sie nicht zufrieden, oder?»

Ich hörte mich seufzen und wandte mich ab. «Ich spüre, daß etwas an dem, was Sie mir gesagt haben, nicht stimmt, daß noch etwas dahintersteckt. Das beunruhigt mich.»

«Ich werde Ihnen sagen, was Sie hören wollen, was Sie schon zu wissen meinen: daß sie ermordet wurde. Sie wurde im Keller dieses Hauses in der Waschküche umgebracht. Sie wohnte hier.»

«Und sie hieß Maxine Robinson.»

«Nein», sagte er. «Das habe ich erfunden.»

«Warum?» fragte ich. «Warum das?»

«Weil ich Ihnen da nicht die Fakten erzählt habe, liebe Freundin. Ich habe Ihnen einfach eine Geschichte erzählt – eine Geschichte unter einer Vielzahl möglicher Geschichten – eine kleine Räuberpistole, um Sie zu unterhalten und zum Wiederkommen zu bewegen.» Er blickte auf seine Hände. «Und um mich am Leben zu erhalten. Tausendundeine Geschichte.»

«Es würde mich ungeheuer erleichtern, wenn Sie dies eine Mal die Bücher heraushalten könnten.»

«Ich kann es versuchen, aber sie sprudeln unwillkürlich hervor, eins nach dem anderen, und poltern in meinem Kopf herum, diese ganzen Leute, dieses ganze Gerede. Das ist ein Irrenhaus da drin.» Er zeigte auf seinen Kopf und grinste.

«Wie hieß sie wirklich?»

«Das spielt keine Rolle. Im Ernst. Es spielt für das, was Sie machen, keine Rolle. Ein Name kann alles und nichts auslösen, aber er ist immer ein Hemmschuh, mit