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Einsam sitzt Tarl Cabot in der Halle seines Hauses in Port Kar. Seine linke Körperseite ist gelähmt, seine Ehre und Selbstachtung hat er verloren. Da erhält er die Nachricht, dass die Kurii, die Gegenspieler der Priesterkönige, Telima entführt haben. Das Schicksal von Telima führt ihn in den hohen Norden von Gor, nach Torvaldsland. Tarl Cabot greift zu den Waffen und begibt sich auf einen gefährlichen Rachefeldzug. Dabei planen die schrecklichen Kurii Gor und die Erde in ihre Gewalt zu bringen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
1 Die Halle
2 Der Tempel von Kassau
3 Ich lerne Ivar Forkbeard kennen und bekomme eine Überfahrt auf seinem Schiff zugesichert
4 Forkbeard und ich spielen Kaissa
5 Brei für die Bondmaids
6 Ivar Forkbeards Langhaus
7 Der Kur
8 Hilda von Scagnar
9 Forkbeard nimmt am Thing teil
10 Ein Kur spricht vor dem Thing
11 Der Torvaldsberg
12 Ivar Forkbeard tritt vor Svein Blue Tooth
13 Zu Gast in Svein Blue Tooths Halle
14 Forkbeard und ich flüchten aus Svein Blue Tooths Halle
15 Auf dem Torvaldsberg
16 Der Kriegspfeil
17 Torvälder vor dem Lager der Kurii
18 Was im Lager der Kurii geschah
19 Die Nachricht
20 Was auf dem Felsenriff von Vars geschah
21 Ich trinke auf die Ehre von Tyros
22 Mit dem Schiff kehre ich dem Norden den Rücken
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Ich blieb allein in der dunklen Halle auf dem Stuhl des Kapitäns zurück.
Hohe Wände umgaben mich, ungefähr fünf Fuß dick und aus schweren Steinblöcken gemauert. Jenseits der langen, massiven Tafel, an der ich saß, erstreckten sich die gewaltigen Bodenfliesen. Die Kerzen waren erloschen, die Gedecke abgeräumt. Verschwunden die festlichen gelben und roten Tücher der Weber aus dem fernen Tor; verschwunden auch das schwere Geschirr aus dem Silber der Minen von Tharna und die prachtvoll gefertigten Becher aus den Goldschmieden des verschwenderischen Turia, das man auch Ar des Südens nennt. Lange war es her, da mir der brennende Geschmack des Paga von den Sa-Tarna-Feldern nördlich des Vosk auf der Zunge gelegen hatte. Jetzt schmeckte selbst der Rebensaft von Ars Weinbergen bitter.
Ich schaute durch die schmalen Öffnungen zu meiner Rechten, wo ein Ausschnitt des tarnschwarzen Nachthimmels über Gor funkelte.
Kein Licht war mehr in der Halle. Die Pechfackeln in ihren eisernen Wandhalterungen flackerten nicht mehr ungestüm. Still war es geworden, die Musik erstorben ebenso wie das Lachen meiner Trinkbrüder beim Heben ihrer Kelche. Auf den breiten, ebenen Fliesen vor mir tanzte keine rotseidene Sklavin mehr, behangen mit Glöckchen an Handgelenken und Knöcheln, barfuß mit Halsreif im Flammenschein.
Kein Mensch und kein Geräusch. Allein saß ich in der großen Halle.
Selten ließ ich meinen Stuhl hinaustragen. Ich verweilte lange an diesem Ort.
Schritte wurden laut, doch ich drehte mich nicht um, weil mir der Nacken schmerzte.
»Kapitän«, sprach jemand.
Es war Luma, die Erste Schreiberin meines Hauses, in Sandalen und blauem Gewand. Sie hatte ihr glattes blondes Haar mit einem Band, aus der im blauen Blut der Vosk-Sorp getränkten Wolle des fidelen Hurts, zurückgebunden. Hager war sie und, abgesehen von ihren unergründlichen blauen Augen, unattraktiv, dafür jedoch eine ausgezeichnete Verwalterin meines Vermögens, schnell und genau in ihren Berechnungen, brillant in ihrer Auffassungsgabe. Ursprünglich war sie eine erbärmliche Pagasklavin gewesen, als ich sie im Schwertkampf gegen Surus gewonnen hatte, der sie töten wollte, weil er für sie bezahlt hatte und sich daraufhin in den Alkoven der Schenke nicht ausreichend von ihr befriedigt sah. Er hätte sie gefesselt den flinken, gefräßigen Urts in den Kanälen überlassen. Surus starb durch mein Schwert, doch zuvor musste ich ihn, auf Drängen des zum Mitleid bewegten Mädchens hin, auf das Dach des Gebäudes bringen, damit er, ehe der Schleier des Todes sich über ihn senkte, einen letzten Blick auf das Meer werfen konnte. Surus war ein Pirat und Halsabschneider, der seinem Ende freudig entgegensah. Er fiel durch das Schwert, wie er es sich gewünscht hatte, im Angesicht der schimmernden Thassa; man nennt dies den Tod von Blut und Wasser. Er starb mit sich im Reinen, denn die Leute von Port Kar schätzen es nicht, gebrechlich in ihren Betten dahinzusiechen, wo sie der Gnade im Verborgenen lauernder Feinde unterworfen sind. So wie sie leben, möchten sie auch umkommen – als Gewaltmenschen, die ihren Gelüsten frönen; wer dem Schwerte folgt, dem gereicht es zu Ruhm und Ehre, wenn er ihm auch erliegt.
»Kapitän«, wiederholte Luma und blieb neben meinem Stuhl stehen.
Nach Surus’ Tod gehörte sie laut Schwertrecht mir. Sie erwartete zu Recht, dass ich ihr meinen Halsreif anlegte und sie damit versklavte. Zu meinem Erstaunen aber erhielt ich, getreu den Gesetzen Port Kars, auch Surus’ Schiffe, Ländereien, Besitztümer und seinen Titel, nachdem ich ihn im lauteren Kampf bezwungen und ihm den Tod von Blut und Wasser gestattet hatte; seine Männer standen bereit, mir zu gehorchen; seine Schiffe lagen unter meiner Befehlsgewalt vor Anker; seine Gemächer wurden mein Heim, seine Reichtümer und Sklaven die meinen. So war ich zum Kapitän in Port Kar geworden, dem Juwel der schimmernden Thassa.
»Ich habe die Ergebnisse deiner Zählung«, sagte Luma.
Sie trug nun keinen Halsreif mehr. Nach dem Sieg über die Flotten von Tyros und Cos am fünfundzwanzigsten Se’Kara hatte ich ihn ihr abgenommen. Ihr verdankte ich meinen Reichtum. Als Freie erhielt sie nun Lohn, der ihrem Verdienst, wie ich wusste, nicht gerecht wurde. Ich glaubte nicht, dass viele Schreiber komplexe Angelegenheiten überblicken und derart beflissen abwickeln konnten wie diese zerbrechliche und unansehnliche, jedoch umso gescheitere Frau. Einige Kapitäne und Kaufleute beobachteten, wie meine Güter sich mehrten, und boten ihr, weil sie um die diffizilen Handlungsabläufe wussten, die dahintersteckten, beträchtliche Vergütungen an, falls sie sich ihnen andienen wollte. Luma aber hatte ihre Angebote ausgeschlagen. Sie wusste gewiss zu schätzen, dass ich ihr Kraft meiner Befehlshoheit Vertrauen und Freiheit geschenkt hatte. Vielleicht war ihr auch das Haus des Bosk ans Herz gewachsen.
»Ich will die Ergebnisse nicht sehen«, ließ ich sie wissen.
»Venna und Tela sind von Scagnar zurückgekehrt«, entgegnete sie, »voll beladen mit Fellen des Seesleens. Meinen Informationen zufolge erzielen solche Güter gerade in Asperiche Höchstpreise.«
»Nun gut«, sagte ich, »gib den Männern Zeit, sich zu erholen – acht Tage. Sorg dafür, dass die Fracht auf eins meiner Rundschiffe – welches am schnellsten in See stechen kann – geladen wird, um nach Asperiche aufzubrechen, mit Venna und Tela zum Geleit.«
»Ja, Kapitän«, bestätigte Luma.
»Geh nun«, sagte ich. »Keine Ergebnisse jetzt.«
»Ja, Kapitän.«
An der Tür blieb sie stehen. »Möchtest du noch etwas zu essen oder zu trinken, Kapitän?«
Ich verzichtete.
»Thurnock wäre erfreut, wenn du ihm bei einer Partie Kaissa Gesellschaft leisten würdest«, bemerkte sie.
Ich lächelte. Der große blonde Thurnock aus der Kaste der Bauern, ein meisterlicher Bogenschütze, wollte mit mir Kaissa spielen. Er wusste doch, dass er dabei keinen Stich gegen mich hatte.
»Richte ihm einen Gruß aus«, antwortete ich, »aber ich habe keine Lust.«
Seit meiner Rückkehr aus den Nordwäldern hatte ich kein einziges Mal mehr gespielt.
Thurnock war ein anständiger, gutherziger Mann; er meinte es nur gut.
»Die Ergebnisse lesen sich ausgezeichnet«, schnitt Luma erneut an. »Deine Geschäfte florieren. Du bist noch reicher geworden.«
»Geh, Schreiberin«, sagte ich. »Luma, geh.«
Luma ging hinaus.
Ich saß wieder allein im Dunkeln.
Niemand sollte mich stören.
Dann schaute ich mich in der großen Halle um. Ich sah die hohen Steinmauern, die lange Tafel, die Bodenfliesen und die schmalen Öffnungen, hinter denen fern die Gestirne am Firmament leuchteten.
Ich war reich. Das hatte Luma behauptet, und ich wusste es. Gequält lächelte ich. Es gab nur wenige Männer, die so hilflos und so arm dran waren wie ich. Es stimmte, der Wohlstand des Hauses Bosk war deutlich gestiegen. Vermutlich gab es in den erschlossenen Ländern Gors kein so vermögendes und mächtiges Haus wie das meine. Wer mich nicht kannte, mochte mich zweifellos beneiden – Bosk, den Einsiedler, der als Krüppel gebrochen aus den Nordwäldern zurückgekehrt war.
Ich war reich und dennoch war ich arm, weil ich den linken Teil meines Körpers nicht rühren konnte.
Verletzt wurde ich eines Abends an den Ufern der Thassa in einem Fort des Feindes unter dem Kommando Sarus von Tyros hoch im Norden am Rande der Wälder, wo ich mich wieder auf meine Ehre besann.
Zurückgewinnen konnte ich sie nicht, sondern mich ihrer nur erinnern, doch dafür habe ich sie nie wieder vergessen.
Einst war ich Tarl Cabot, in Liedern auch Tarl von Bristol genannt. Ich wusste, dass ich oder derjenige, der ich einmal gewesen war, bei der Belagerung von Ar gekämpft hatte. Jener junge Mann mit feurigem Haar, der unschuldig gelacht hatte, wie fremd war er mir nun, einem halbseitig gelähmten Haufen Elend, das verbittert wie ein waidwunder Larl allein im Kapitänsstuhl seiner großen, düsteren Halle hockte … Mein Haar hatte sich verändert. Dem Meer und den Winden war dies geschuldet, dem Salz und wahrscheinlich auch den Entwicklungen in meinem Körper, während ich älter wurde und all das Schlechte erfuhr, das in der Welt, in mir selbst und in allen anderen Menschen schwelt. Nun hob es sich meiner Ansicht nach nicht mehr sonderlich ab von dem anderer Männer, wie ich auch hatte einsehen müssen, dass ganz allgemein überhaupt kein Unterschied zwischen mir und anderen bestand. Es war ausgebleicht, jetzt eher strohfarben. Tarl Cabot existierte nicht mehr. Er hatte bei der Belagerung gefochten. Die Lieder besangen ihn noch. Er hatte Lara, die Tatrix von Tharna, wieder auf ihren Thron gehievt. Er war ins Sardargebirge vorgedrungen und kannte als einer von wenigen Männern die Wahrheit über die Priesterkönige, jener entrückten, außergewöhnlichen Wesen, die den Planeten Gor beherrschen. Er hatte eine Schlüsselrolle im Nestkrieg gespielt und Freundschaft mit dem sanften, ehrbaren Priesterkönig Misk geschlossen, der ihm zu Dank verpflichtet war. »Zwischen uns besteht Nestvertrauen«, hatte Misk versprochen. Da fühlte ich sie wieder in meinen Händen, die sanfte Berührung der Fühler dieser goldenen Kreatur. »Ja, zwischen uns besteht Nestvertrauen«, hatte Tarl Cabot geantwortet. Er war in das Land der Wagenvölker gereist, über die Ebenen von Turia, und hatte das letzte Ei der Priesterkönige an sich genommen, das er wohlbehalten zu ihnen zurückbrachte. Er war ein treuer Diener dieser Geschöpfe gewesen, dieser junge, tapfere Tarl Cabot, ein unnahbarer Mensch und so stolz, wie es nur Krieger sein können. Und dann hatte er Ar erreicht, um die Pläne von Cernus und dieser fremden Scheusale zu zerschlagen, der Anderen, die Gor und danach auch die Erde unterwerfen wollten. Oh ja, ein überaus treuer Diener war er gewesen, dieser junge Mann. Schließlich hatte er sich ins Voskdelta gewagt und es durchqueren wollen, um sich mit Samos von Port Kar in Verbindung zu setzen, einem Agenten der Priesterkönige, damit er ihnen weiterhin dienen könne. Doch im Voskdelta hatte er seine Ehre verloren. Er hatte seinen Kodex verraten – ja, nur um sein elendes Leben zu retten, hatte er die Schmach der Sklaverei einem freien, rühmlichen Tod vorgezogen. Das Schwert und die Ehre, mit denen er auf den Heim-Stein Ko-ro-bas geschworen hatte, waren besudelt. Durch diese Tat hatte er seine Kodizes und Schwüre geleugnet. Sie war nicht wiedergutzumachen – nicht einmal, indem man sich in sein eigenes Schwert stürzte. In jenem Augenblick, da er seiner Feigheit nachgegeben hatte, war Tarl Cabot verschwunden, und an seiner statt kniete ein Sklave mit dem unwürdigen Namen Bosk, der ein großes, zotteliges, büffelähnliches Lebewesen der goreanischen Ebenen bezeichnet.
Dieser Bosk hatte seine Herrin, die schöne Telima, gezwungen, ihm die Freiheit zu geben, und war mit ihr als Sklavin nach Port Kar gezogen. Dort hatte er nach zahlreichen Abenteuern Reichtum, Ansehen und sogar den Titel eines Admirals von Port Kar gewonnen. Er unterhielt einen hohen Rang im Kapitänsrat – und er war es gewesen, der in der Seeschlacht von Port Kar gegen die Flotten von Cos und Tyros am fünfundzwanzigsten Se’Kara gesiegt hatte. Er war Telima verfallen und hatte sie zur Freien gemacht, nur um schließlich von ihr verlassen zu werden, da er herausfinden wollte, wo Talena festgehalten wurde, seine freie Gefährtin von einst und Tochter des Marlenus von Ar. Telima war im Goreanerinnen ureigenen Zorn in die Rencesümpfe zurückgekehrt, ihre Heimat im weiten Delta des Vosk.
Ein echter Goreaner, das wusste er, wäre ihr gefolgt und hätte sie in Sklavenketten und mit Halsreif zurückgebracht. Er jedoch hatte wehgeklagt und sie in seiner Schwäche ziehen lassen.
Sicher verachtete sie ihn nun in den Sümpfen.
Alsdann war Bosk, ein Kaufmann aus Port Kar und nicht mehr Tarl Cabot, in die nördlichen Wälder gezogen, um seine ehemalige freie Gefährtin Talena zu befreien.
Dort war er auf Marlenus von Ar gestoßen, den Ubar von Ar, den größten aller Ubars. Obwohl Bosk nur der Kaste der Händler angehörte, konnte er Marlenus von Ar vor der Erniedrigung der Sklaverei bewahren. Dass ein Mann wie er von niedrigem Stand dem großen Herrscher einen Dienst erwies, musste den Ubar ohne Zweifel kränken. Aber dennoch: Bosk verdankte er seine Freiheit. Zuvor hatte er seine Tochter Talena verstoßen, die um ihre Freiheit gefleht hatte, wie es nur eine Sklavin tut. Marlenus’ Ehre war gerettet, Tarl Cabots jedoch für immer verloren.
Wieder fiel mir ein, wie ich die Frage der Ehre im Lager von Tyros durchdacht hatte. Allein war ich dort eingedrungen – ganz ohne Erwartung zu überleben. Weder war ich ein Freund noch ein Verbündeter von Marlenus; vielmehr hatte ich mir als Krieger beziehungsweise wie jemand aus dieser Kaste selbst auferlegt, ihn zu retten.
Dies war mir gelungen. In jener Nacht kehrte die Erinnerung an meine Ehre für immer zurück.
Nichtsdestoweniger hatte ich dafür leiden müssen und einen von Schmerzen gebeutelten Körper davongetragen, dessen linke Seite ich nicht bewegen konnte.
Mit dem Bewusstsein um meine Ehre hatte ich den Holzstuhl eines bloßen Krüppels bekommen, wiewohl mit eingeschnitztem Kapitänszeichen an der Kopfstütze, dem Helm mit Schweif aus dem Haar eines Sleens, doch ich konnte mich nicht erheben.
Mein eigener Leib und seine Schwäche hielten mich fest, wie es Ketten nicht vermocht hätten.
So prächtig und imponierend dieser Stuhl auch aussah, war er doch bloß der Thron eines Krüppels.
Ich war reich!
Ich starrte ins Dunkel der Halle.
Samos aus Port Kar hatte Talena, als einfache Sklavin, von zwei Panthermädchen abgekauft, was ihm ein Leichtes gewesen war, während ich mein Leben in den Wäldern aufs Spiel setzen musste.
Ich lachte.
Wenigstens wusste ich wieder um meine Ehre, selbst wenn sie mir kaum Gutes gebracht hatte. War es in Wirklichkeit nicht so, dass diese Ehre täuschte und betrog, ersonnen von durchtriebenen Menschen, um ihre weniger gerissenen Brüder zu manipulieren? Weshalb hatte ich mich nicht nach Port Kar zurückgezogen und Marlenus seinem Schicksal überlassen, der Unterwerfung und damit auch dem unvermeidbaren Sklaventod als geschundener Mittelloser unter der Knute seiner Aufseher, in den Mienen von Tyros?
Hier in der Dunkelheit sann ich über Ehre und Tapferkeit nach. Dienten sie uns tatsächlich zum Possenspiel? Waren sie unerlässlich, denn was sonst unterschied uns von Urts und Sleens? Worin bestand andernfalls der Unterschied zwischen uns und solchen Kreaturen? Die Fähigkeit zu multiplizieren, zu subtrahieren, zu lügen und Messer zu schmieden? Nein, es musste das Ehrgefühl sein und der Wille, sich zu behaupten.
Indes, mir stand es nicht zu, über derlei nachzudenken, hatte ich Ehre und Mut doch im Voskdelta gelassen. Wie jedes beliebige Tier hatte ich mich benommen, nicht wie ein Mensch.
Ich konnte die Ehre nicht wiederherstellen, sie später nur wieder abrufen, in jenem Fort am Ufer der Thassa nahe den Nordwäldern.
Unter den Decken fröstelte es mich. Ich war verdrossen und zynisch geworden, kleinlich wie jeder Invalide, der sich frustriert über seine Gebrechen erzürnt.
Ehe ich verwundet und halbseitig gelähmt von den Ufern der Thassa geflohen war, hatte ich ein Leuchtfeuer hinterlassen, ein mächtiges Fanal aus den Palisaden von Sarus’ Lager, das hinter mir lohte und auch nach fünfzig Pasangs mitten auf dem Meer noch zu sehen war.
Aus welchen Beweggründen auch immer: Ich hatte es angezündet.
Lange und heiß hatte das Fort am Felsstrand die Nacht über Gor erhellt, bevor es am Morgen schlussendlich zu Asche zerfallen war, welche Regen und Wind in alle Richtungen wehten. Dann ward nichts als die Steine übrig, der Sand und in ihm die winzigen Spuren der Seevögel, Krallen wie Tatspuren eines Diebes. Dass es gebrannt hatte, stand jedoch fest und ließ sich nicht in Abrede stellen. Das Feuer war ein Teil der Vergangenheit; niemand konnte daran etwas ändern, weder die ewigen Zeitläufe noch die Priesterkönige oder Machenschaften anderer, nicht Starrsinn oder Menschenhass. Sie ließ sich nicht ungeschehen machen, diese Feuersbrunst am Strand.
Ich dachte an den Sinn des Lebens. Viel Zeit hatte ich in meinem Stuhl, um ihm nachzuspüren.
Ich wusste, ich konnte nicht mit Antworten aufwarten, aber änderte dies etwas an der Wichtigkeit der Frage? Viele Weise glauben, Erhellendes darüber sagen zu können, und dennoch sind sie sich untereinander nicht einig.
Nur schlichte Gemüter, Narren, Unbesonnene und Ignoranten kennen die Antwort auf die Sinnfrage.
Vielleicht ist es aber auch unmöglich, ein solch tiefschürfendes Thema zu ergründen. Vermutlich gibt es keine Antwort auf weitreichende Fragen wie diese, wiewohl wir gewiss sind, dass man falsche geben kann. Daraus lässt sich schließen, dass eine richtige existiert, denn was ist falsch, wenn sich von nichts das Gegenteil behaupten lässt?
Eines erscheint mir klar: In der Moral, die Schuldgefühle und Selbstkasteiung gebiert, welche ängstigen und quälen, auf dass uns frühe Enden beschieden sind, kann die Antwort nicht liegen.
Was aber ist schon vor Irrtümern gefeit?
Goreaner haben ganz andere Moralvorstellungen als die Bewohner der Erde.
Wer maßt sich ein Urteil darüber an, welche die richtigen sind?
Bisweilen neide ich es den Menschen auf Erden und Gor gleichermaßen, dass sie es sich einfach machen und ihren angestammten Zustand nicht hinterfragen, doch ich selbst könnte mich auf keine der beiden Seiten schlagen. Falls der eine oder andere in seinem Handeln richtigliegt, ist es für ihn nichts als ein glücklicher Zufall. Er wäre über die Wahrheit gestolpert, doch um für deren Gehalt garantieren zu können, muss man sie kennen, und dies tut man nicht, solange man sie nicht bewusst sucht. Nichts, wofür wir zu kämpfen versagen, steht uns zu.
Lässt sich zu leben denn nicht lernen wie Sprache durchs Sprechen, Malerei durch Übung und Baukunst, indem man den ersten Stein legt?
Echte Lebenskünstler scheinen mir manchmal genau diejenigen zu sein, die am wenigsten von derlei Fähigkeiten verstehen. Dabei ist es nicht so, dass sie nichts gelernt hätten – im Gegenteil. Vielmehr können sie ihr Wissen nicht beschreiben, weil sie dazu auf Worte zurückgreifen müssen, doch die Lehre des Lebens geht über solche hinaus, ist schlichtweg nicht verbal zu fassen. Wir mögen sagen: »Dieses Haus ist schön«, doch allein anhand der Worte erfahren wir noch nichts über diese Schönheit; das Haus selbst lässt sie uns erkennen, aber wie könnte man sie, losgelöst von allem, zum Ausdruck bringen? Indem man auf die Zahl der Säulen des Gebäudes hinweist, auf die Konstruktionsweise seines Daches und dergleichen? Darf man nicht einfach sagen, das Haus sei schön? Man darf, doch die hinzugewonnene Erfahrung beim Betrachten des Gebäudes bleibt sprachlich ungreifbar. Es gibt keinen Ausdruck, sondern nur die Schönheit des Hauses selbst.
Die Moralvorstellungen der Erde entsprechen, vom Standpunkt eines Goreaners aus gesehen, eher Sklaven als Freien. Hier betrachtet man sie unter dem Gesichtspunkt des Neids und der Missgunst, die Niedere gegenüber Überlegenen hegen. Irdische Moral legt Wert auf Gleichheit, indem man sich unterwürfig und gefällig zeigt, Spannungen vermeidet, schmeichelt und nicht auffallen will. Solche Gebaren kommen dem Sklaven entgegen, der sich nur zu gern auf Augenhöhe mit anderen befindet. Er denkt, wir alle seien gleich, und tut gut daran, sein Umfeld davon überzeugen zu wollen. Die Moral des Goreaners fußt hingegen auf Ungleichheit, ausgehend von der Annahme, dass Individuen nicht gleich sind, sich in vielen Dingen unterscheiden. Man könnte sagen, obwohl es eine zu große Verallgemeinerung ist, dass es sich um eine Moralvorstellung von Herren handelt. Von Schuld möchte man hier nahezu nichts wissen, von Scham und Jähzorn aber sehr wohl. Viele Gesellschaftsformen auf Erden propagieren Verzicht und Anpassung; auf Gor neigt man stärker zu Vereinnahmung und Konfrontation. Wo auf der Erde Sanftmut, Mitgefühl und Freundlichkeit bis zum Liebreiz hochgehalten werden, hält man auf Gor Ehre, Mut, Beharrlichkeit und Kraft hoch. Dort mag man sich angesichts hiesiger Gepflogenheiten fragen: »Weshalb so hartherzig?«, woraufhin Goreaner wohl entgegnen würden: »Weshalb so nachgiebig?«
Beizeiten glaubte ich, es schade Goreanern nicht, sich ein wenig Zärtlichkeit anzueignen, während Erdbewohner durchaus etwas härter durchgreifen könnten. Was aber verstehe ich schon vom Leben? Vergeblich habe ich nach Antworten gesucht. Die Moral der Sklaven besagt: »Ich bin dir ebenbürtig; wir beide sind gleich.« Die Moral von Herren hält dagegen: »Du bist meiner nicht ebenbürtig; wir beide sind nicht gleich; versuche, etwas daran zu ändern, dann reden wir weiter.« Sklaven sähen es gern, läge alle Welt wie sie in Fesseln; Herren bestärken jeden, sich zur Freiheit aufzuschwingen, so er dazu in der Lage ist. Niemand trägt mehr Stolz, Selbstbewusstsein und Herrlichkeit zur Schau als freie Goreaner, Männer wie Frauen. Die meisten sind leicht reizbar und heißblütig, selten engherzig und kriecherisch. Darüber hinaus leugnen oder fürchten sie weder ihren Körper noch Instinkte. Beherrschen sie sich, kommt dies einer Überwindung titanischer Kräfte gleich, obwohl es nichts mit einem trägen Stoffwechsel zu tun hat. Zudem kommt es selten vor, denn sie betrachten ihre Triebe und Gemütsschwankungen nicht feindselig, gewissermaßen als Spione oder Saboteure im eigenen Haus. Sie kennen und achten sie als Teile ihrer Persönlichkeit. Sie hinterfragen sie genauso wenig wie die Katze ihre Grausamkeit, der Löwe seinen Hunger. Ihre Rachsucht, die Bereitschaft zur unverblümten Rede und Selbstbehauptung sowie ihre Lust betrachten sie als ebenso wesentliche wie schätzenswerte Eigenschaften wie ihre Fähigkeit zu denken oder zu hören. Die Moral der Erde macht den Menschen klein; goreanische Moral jedoch, so fehlerhaft sie auch sein mag, trachtet danach, ihn frei und großartig zu machen. Da dies eindeutig ganz unterschiedliche Ziele sind, gestaltet sich auch der moralische Alltag auf beiden Planeten vollkommen anders.
Ich grübelte weiter im Dunkeln über diese Dinge. Für mich gab es keinen Leitfaden.
Ich, Tarl Cabot beziehungsweise Bosk von Port Kar, stand zwischen den Welten.
Ich kannte den Sinn des Lebens nicht.
Ich war verbittert.
Dann flog mir durchs Dunkel der Halle ein goreanisches Sprichwort zu: »Frag weder Bäume noch Steine nach dem Lebensweg; sie können ihn dir nicht sagen, denn sie haben keine Zunge; auch den Weisen bedränge nicht, da dieser, falls er ihn kennt, genau weiß, dass er ihn dir nicht beschreiben kann. Findest du den Weg, stelle ihn nicht infrage; darin liegt die Lösung nicht, sondern in der Antwort, die wiederum nicht aus Worten besteht; sinniere also nicht über dein Leben, sondern lebe es.«
Ganz begreife ich diese Redensart nicht. Wie zum Beispiel soll man mit etwas fortfahren, von dem man nicht weiß, wie es funktioniert? Ich vermute stark, der Goreaner hält es tatsächlich für gegeben, dass wir mehr oder weniger einen Begriff vom Leben haben, ohne uns dessen jedoch bewusst zu sein. Irgendwie muss uns diese Gewissheit also innewohnen, eventuell angeboren sein oder auf Intuition beruhen. Ich weiß es nicht. Vielleicht soll dieses geflügelte Wort auch nur zur Entscheidung anspornen, zum Handeln und dadurch auch – indem man einen Weg wählt und bis zum Ende verfolgt – zu einem Lernerfolg. Diese zwei Mutmaßungen schließen einander keineswegs aus. Wie man weiß, richten Kinder sich ab einem gewissen Alter auf, fangen zu gehen an und laufen schließlich, wie sie auf einer früheren Entwicklungsstufe zu krabbeln begonnen haben, und trotzdem verinnerlichen sie all dies erst, während sie sich daran versuchen – am Krabbeln, Gehen und Laufen.
Wie ein Kehrreim hallten die Worte in meinem Kopf wider: »Sinniere nicht über dein Leben, lebe es.«
Wie aber sollte ich das? Ein auf dem Kapitänsstuhl zusammengesunkener Krüppel, in einer Halle ohne Licht.
Obschon ich reich war, beneidete ich einfachste Verrhirten und niedrigste Bauern, die ihre Äcker mit Mist düngen, weil sie sich ungehindert bewegen können.
Als ich versuchte, meine linke Hand zur Faust zu ballen, reagierte sie nicht.
Wo steckte der Sinn?
Ein Kriegerkodex besagt: »Sei stark und tue, was dir gefällt. Die Schwerter der anderen zeigen dir deine Grenzen.«
Einst war ich einer der geschicktesten Schwertkämpfer auf Gor gewesen. Doch jetzt blieb mir nur noch die Hälfte meines Leibes zur Bewegung.
Den Stahl befehligte ich nunmehr allein in den Händen meiner Männer, die mir – einem an seinen Stuhl gebundenen Krüppel in einem düsteren Haus – unverständlicherweise treu blieben, selbst als Goreaner.
Ich dankte es ihnen, obwohl ich es nicht zeigte. Ich war doch ihr Kapitän. Sie durften nicht erniedrigt werden.
»In Reichweite seines Schwertes«, gemahnt der Kodex der Krieger außerdem, »ist jeder Mann ein Ubar.«
Und weiterhin: »Stahl ist des Kriegers Währung. Damit erwirbt er sich, was ihm gefällt.«
Nach meiner Rückkehr aus den Wäldern des Nordens wollte ich Talena, Marlenus’ in Ungnade gefallene Tochter, die Samos den Panthermädchen abgekauft hatte, vorführen lassen.
Auf meinem Stuhl war ich an seinen Hof getragen worden.
»Soll ich sie dir«, hatte Samos gefragt, »nackt und gefesselt übergeben?«
»Nein«, lautete meine Antwort. »Ich will sie in den prächtigsten Gewändern sehen, die du finden kannst, wie es einer hochwohlgeborenen Frau aus Ar geziemt.«
»Sie ist aber eine Sklavin«, hatte er entgegnet. »Sie trägt das Brandmal von Treve am Oberschenkel und den Halsreif meines Hauses.«
»Wie es einer Hochwohlgeborenen aus der glorreichen Stadt Ar geziemt«, hatte ich wiederholt.
Und so ward Talena vorgeführt – einst meine Gefährtin und Marlenus’ Schützling, nunmehr jedoch verstoßen.
»Die Sklavin«, kündigte Samos an.
»Knie nicht«, bat ich sie.
»Zeig dein Gesicht, Sklavin«, befahl er.
Voller Anmut hob sie, das Eigentum von Samos, dem größten Sklavenhändler von Port Kar, ihren Schleier und löste ihn, sodass er über ihre Schultern fiel.
Nach langer Zeit standen wir einander gegenüber.
Erneut sah ich diese bezaubernd grünen Augen, ihren zarten, olivfarbenen Teint und die prallen Lippen, die geradezu danach verlangten, dass ein Krieger ihnen seine eigenen mitsamt den Zähnen aufdrückte. Mit einer unterschwelligen Kopfbewegung zog sie eine Haarnadel hervor und schüttelte ihre braune Prachtmähne.
Wir schauten uns an.
»Gefalle ich meinem Herrn?«, fragte sie.
»Es ist lange her, Talena«, entgegnete ich.
»Ja, das ist es.«
»Er ist frei«, warf Samos ein.
»Lange ist es her, Herr«, sagte sie wieder.
»Viele Jahre sind vergangen«, fügte ich an und lächelte. »Zum letzten Mal sah ich dich am Abend zur Feier unserer Gefährtenschaft.«
»Als ich morgens aufwachte, warst du fort. Du hast mich verlassen.«
»Ich habe dich nicht freiwillig verlassen«, stellte ich klar. »Es war nicht meine Entscheidung.«
Anhand von Samos’ Blick erkannte ich, dass ich die Priesterkönige nicht erwähnen durfte. Sie waren es gewesen, die mich damals zur Erde zurückgebracht hatten.
»Ich glaube dir nicht«, antwortete sie.
»Hüte deine Zunge, Mädchen!«, drohte Samos, dem sie gehörte.
»Falls du mir befiehlst, dir zu glauben, werde ich es selbstverständlich tun, denn ich bin eine Sklavin.«
Ich lächelte erneut. »Nein, ich befehle es dir nicht.«
»In Ko-ro-ba genoss ich Hochachtung«, fuhr sie fort, »und wurde als freie Frau angesehen, weil ich deine Gefährtin gewesen war, obwohl wir unseren einjährigen Bund nicht erneuert hatten.«
Gemäß der Gesetze galt die Gefährtenschaft zu jenem Zeitpunkt als aufgelöst, da sie am Tag ihres einjährigen Bestehens nicht zur zwanzigsten Stunde, der goreanischen Mitternacht, verlängert worden war.
»Als die Priesterkönige Feuer anzündeten, um die Zerstörung Ko-ro-bas anzuordnen, verließ ich die Stadt.«
Kein Stein sollte mehr auf dem anderen bleiben, kein Mann übrig sein, um seine Mitbürger zu verteidigen.
Die Bevölkerung wurde vertrieben, die Stadt auf Geheiß der Priesterkönige niedergebrannt.
»Du bist versklavt worden«, erinnerte ich.
»Nach fünf Tagen auf der Flucht zurück nach Ar«, erzählte sie. »Ein umherziehender Lederarbeiter nahm mich auf, glaubte aber natürlich nicht, dass ich die Tochter des Marlenus von Ar bin. Am ersten Abend genoss ich seine Gastfreundschaft. Er tat freundlich und rücksichtsvoll, was ich ihm dankte. Am Morgen aber erwachte ich unter seinem Gelächter: Er hatte mir einen Halsreif angelegt.« Böse schaute sie mich an. »Dann benutzte er mich nach Belieben. Verstehst du das? Er, ein einfacher Lederarbeiter, nötigte mich, die Tochter des Marlenus, zur Hingabe. Hinterher peitschte er mich aus. Er lehrte mich Fügsamkeit. Nachts legte er mich in Ketten und verkaufte mich schließlich einem Salzhändler.« Sie suchte meinen Blick. »Ich hatte viele Herren.«
»Darunter«, fügte ich hinzu, »Rask von Treve.«
Sie erstarrte. »Ich habe ihm wohl gedient. Mir blieb nichts anderes übrig. Er war es, der mich gebrandmarkt hat.« Sie warf ihren Kopf zurück. »Meine vorigen Herren fanden mich zu hübsch zur Markierung.«
»Sie waren Narren«, bemerkte Samos. »Ein Brandmal ist eine Auszeichnung für Sklavinnen.«
Sie reckte ihren Kopf. Für mich stand fest, dass sie eine der schönsten Frauen auf Gor war.
»Ich nehme an«, sprach sie weiter, »dass ich deinetwegen bekleidet zu dieser Anhörung erscheinen durfte. Ich muss dir wohl für die Gelegenheit danken, dass ich mir den Schmutz der Sklavenunterkünfte vom Leib waschen durfte.«
Ich schwieg.
»Die Zellen sind unbequem«, erläuterte sie. »Meine misst vier Fuß im Quadrat und muss zwanzig Mädchen Platz bieten. Nahrung wirft man uns von oben herein, und ein Trog löscht unseren Durst.«
»Soll ich sie auspeitschen lassen?«, fragte Samos.
Talena wurde bleich.
Ich verneinte.
»Rask von Treve gab mich in seinem Lager an ein Panthermädchen namens Verna weiter, die mich mit in die Nordwälder nahm. Mein jetziger Herr, der edle Samos von Port Kar, erstand mich an der Küste. Hierher gelangte ich, an einen Ring gekettet im Bauch eines Schiffes, bevor man mich trotz meiner Herkunft mit Niederen zusammensteckte.«
»Du bist eine Sklavin wie jede andere«, betonte Samos.
»Ich bin die Tochter des Marlenus von Ar!«, sagte sie stolz.
»Soweit ich weiß«, sagte ich, »hast du vom Wald aus in einem Schreiben Freiheit erbeten, demnach dein Vater dich zurückkaufen sollte.«
»Ja.«
»Ist dir klar«, fuhr ich fort, »dass Marlenus, als er auf das Schwert und das Medaillon von Ar schwor, dich verstoßen hat?«
»Das glaube ich nicht!«, behauptete sie.
»Du bist nicht mehr seine Tochter. Du bist ohne Kaste, ohne Heim-Stein und ohne Familie.«
Talena brauste auf: »Du lügst!«
»Knie nieder vor der Peitsche!«, bellte Samos.
Kläglich wie eine Sklavin ging sie in die Knie, wobei sie die Arme verschränkt vor sich hielt, als seien sie gefesselt. Indem sie die Stirn auf den Boden drückte, gab sie ihren Rücken preis.
Sie zitterte. Fürwahr fürchtete und kannte diese Sklavin ihn sehr gut, den züchtigenden Kuss der goreanischen Sklavenpeitsche.
Samos hatte sein Schwert gezogen und hielt es an den Kragen ihres Gewands, bereit, es jeden Moment zu durchtrennen, auf dass es ihren Körper entblößte.
»Bestraf sie nicht«, bat ich Samos.
Wütend schaute er mich an. Seine Sklavin war aufsässig.
»Zu seinen Füßen«, blaffte er.
Ich spürte, wie Talena den Mund auf meine Sandale presste. »Vergib mir, Herr«, hauchte sie.
»Steh auf«, gebot ich.
Sie gehorchte und trat zurück. Ich erkannte, dass sie Samos fürchtete.
»Du wurdest verstoßen«, sagte ich ihr. »Ob du es verstehst oder nicht: Dein Stand erhebt dich nun nicht einmal mehr über das ärmste Bauernmädchen, das sich allein auf seine Kastenrechte berufen kann.«
»Das glaube ich nicht«, wiederholte sie.
»Empfindest du nichts mehr für mich, Talena?«
Sie zerrte an ihrem Reif, um mir ihren Hals zu zeigen. »Ich trage einen Halsreif.« Ich betrachtete den schlichten grauen Reif, die Fessel des Hauses Samos, der sich um ihre Kehle legte.
»Was kostet sie?«, fragte ich Samos.
»Ich habe zehn Goldstücke für sie bezahlt«, entgegnete er.
Sie wirkte erschrocken darüber, einen so geringen Betrag wert zu sein. Während dieser Jahreszeit und so weit im Norden der Küstenregion konnte die Summe sich für ein Mädchen aber durchaus sehen lassen. Der Kurs war zweifelsfrei ihrer Schönheit geschuldet, wiewohl sie weit mehr eingebracht hätte, wäre sie von einem erfahrenen Händler auf dem Block in Turia oder Ar feilgeboten worden, auch in Ko-ro-ba, Tharna und nicht zuletzt Port Kar.
»Ich biete fünfzehn«, schlug ich vor.
»Einverstanden.«
Mit der rechten Hand griff ich in den Beutel an meinem Gürtel und zog die Münzen heraus.
Dann reichte ich sie ihm.
»Gib sie frei«, verlangte ich.
Samos schloss den Stahl mit einem Generalschlüssel auf, der auf viele graue Halsreife passte, und entfernte ihn von ihrem hübschen Hals.
»Bin ich wirklich frei?«, fragte sie.
Ich bejahte.
»Tausend Goldstücke wären nicht zu viel für mich!«, ereiferte sie sich. »Als Tochter des Marlenus von Ar hätte ein Freier tausend Tarne und fünftausend Tharlarions erbringen müssen!«
»Du bist nicht mehr die Tochter des Marlenus von Ar«, gab ich ihr zu bedenken.
»Und du bist ein Lügner!« Voller Abscheu sah sie mich an.
»Wenn du erlaubst«, bemerkte Samos, »empfehle ich mich.«
Ich bat ihn zu bleiben.
»Na gut.«
»Vor langer Zeit«, hob ich an, »liebten wir uns, Talena, und waren Gefährten.«
»Ein törichtes Mädchen war es, das dich liebte«, höhnte sie. »Ich bin jetzt eine Frau.«
»Fühlst du nichts mehr für mich?«, fragte ich.
Talena sah mich an. »Ich bin frei. Ich darf sagen, was ich will. Schau dich doch an! Nicht einmal gehen kannst du, geschweige denn, den linken Arm heben. Du bist ein Krüppel! Du widerst mich an! Erwartest du, dass die Tochter des Marlenus von Ar, Gefühle für so jemanden wie dich hegt? Sieh her: Ich bin schön. Und dann schau in den Spiegel: Du bist entstellt. Ich soll etwas für dich fühlen? Ein Narr bist du. Ein solcher Narr!«
»Ja«, entgegnete ich enttäuscht. »Ich bin ein Narr.«
Sie wandte sich mit rauschenden Roben ab, drehte sich aber noch einmal um und zischte: »Du bist nicht mehr Tarl Cabot – du Sklave!«
»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte ich.
»Ich nahm mir heraus«, lenkte Samos ein, »obwohl ich damals noch nichts von deinen Verletzungen oder der Lähmung wusste, sie über die Vorfälle im Voskdelta zu unterrichten.«
Meine rechte Hand war zur Faust geschlossen. Zorn stieg in mir hoch.
»Es tut mir leid«, sagte Samos.
»Es ist kein Geheimnis«, relativierte ich. »Viele wissen davon.«
»Ein Wunder, dass dir überhaupt noch Männer gehorchen!«, begann Talena erneut. »Du hast deine Ehre verraten. Du bist ein Feigling! Ein Narr bist du und meiner nicht würdig! Wie kannst du es wagen, mich zu fragen, ob ich mich um einen wie dich sorge? Das ist eine Beleidigung für jede freie Frau. Du wähltest die Sklaverei vor dem Tod!«
»Warum hast du ihr von den Ereignissen im Voskdelta erzählt?«, fragte ich Samos.
»Um sicherzugehen, dass die Liebe zwischen euch, falls sie noch bestand, erkaltet«, gab er zu.
»Du bist grausam.«
»Die Wahrheit ist grausam«, berichtigte er. »Früher oder später hätte sie es ohnehin erfahren.«
»Warum musstest du das tun?«
»Damit sie von dir abließ und dich von deinen Pflichten denjenigen gegenüber ablenkte, deren Namen wir hier nicht nennen wollen.«
»Niemals könnte ich etwas für einen Krüppel empfinden«, sagte Talena.
»Dennoch hoffte ich«, meinte Samos, »eine gehobene Stellung für dich zu finden, in welcher du mit Würde unerlässliche Dienste verrichtet hättest.«
Ich musste lachen.
Er zuckte mit den Schultern. »Es war schon zu spät, als ich von den Konsequenzen deiner Verwundung erfuhr. Es tut mir wirklich leid.«
»Jetzt, Samos«, antwortete ich, »kann ich nicht einmal mehr allein für mich selbst sorgen.«
»Vergib«, sagte er bloß.
»Feigling! Verräter deiner selbst! Sleen!«, schrie Talena.
»Du behältst recht mit dem, was du sagst«, entgegnete ich.
»Du hast dich gut geschlagen im Lager des Sarus von Tyros«, vermutete Samos, »wenn mich nicht alles täuscht.«
»Ich verlange, zu meinem Vater zurückgebracht zu werden!«, sagte sie.
Daraufhin zog ich fünf Goldstücke hervor und unterrichtete Samos: »Das sollte für ihr sicheres Geleit nach Ar genügen – auf einem Tarnrücken und mit Eskorte.«
Talena verhüllte ihr Antlitz wieder und zog den Schleier fest. »Du wirst dein Geld wiederbekommen«, versprach sie hochmütig.
»Nein«, schlug ich es aus. »Nimm es als Zeichen für meine frühere Zuneigung, als Geschenk von jemandem, der einst das Vergnügen hatte, dein Gefährte zu sein.«
»Sie ist ein Sleenweibchen«, warf Samos ein, »gemein und verkommen.«
»Mein Vater würde diese Beleidigung mit den Tarnkavallerien Ars vergelten.«
»Du wurdest verstoßen«, wiederholte Samos, drehte sich um und verließ die Halle. Die fünf Goldstücke hielt ich nach wie vor in der Hand.
»Gib mir das Geld«, wünschte Talena. Es lag in meiner offenen Hand, also trat sie näher und riss es an sich. Sie ekelte sich davor, mich anzufassen. Aus einigem Abstand sprach sie dann, die fünf Goldstücke hielt sie fest umschlossen: »Wie hässlich du bist … Wie widerwärtig auf deinem Stuhl!«
Ich widersprach nicht.
Schließlich wandte sie sich ab und stolzierte Richtung Tür. Kurz vor dem Hinausgehen blieb sie stehen und fuhr noch einmal herum. »In meinen Adern fließt das Blut des Marlenus von Ar. Wie unglaublich vermessen ist es, dass jemand wie du, ein Feigling und Verräter, sich Hoffnungen darauf macht, Hand an mich zu legen?« Damit zeigte sie mir noch einmal das Geld. Sie trug einen Handschuh. »Hab Dank, Herr.« Talena wollte gehen.
»Talena!«
Noch einmal drehte sie sich um.
»Ach … nichts«, schloss ich.
»Du lässt mich einfach so ziehen«, sagte sie verächtlich. »Du warst noch nie ein wahrer Mann – nur ein Junge, ein Schwächling!«, wieder hob sie die Goldstücke hoch. »Leb wohl!«, verabschiedete sie sich und verließ die Halle.
Auch jetzt saß ich wieder allein darin, immer noch im Dunkeln, und ließ die Gedanken schweifen.
Die Sinnfrage …
»In Reichweite seines Schwertes ist jeder Mann ein Ubar.« So will es der Kodex.
»Stahl ist des Kriegers Währung. Mit ihm erwirbt er sich, was ihm gefällt.«
Ich, der einst zu den besten Schwertkämpfern auf dem Planeten Gor gehört hatte, war nun gelähmt.
Talena befand sich mittlerweile wieder in Ar. Wie schockiert, wie niedergeschlagen musste sie gewesen sein, als sie schlussendlich erfuhr, dass ihr Vater sie wirklich verstoßen hatte und dies nicht rückgängig zu machen war. Gebettelt hatte sie in einem Sklavenakt, zurückgekauft zu werden, während Marlenus seine Ehre bewahren konnte, indem er auf sein Schwert und das Medaillon Ars geschworen hatte, sie zu verstoßen. Sie gehörte keiner Kaste mehr an und unterstand auch keinem Heim-Stein. Das einfachste Bauernmädchen hatte mehr Kastenrechte als Talena, selbst eine Sklavin besaß immerhin ihren Halsreif. Ich wusste, dass Marlenus sie in der Abgeschiedenheit seines Hauptzylinders versteckte, damit ihre Schande seine Ehre nicht befleckte. In Ar war sie praktisch eine Gefangene. Nicht einmal auf den Heim-Stein der Stadt durfte sie sich mehr berufen. Tat jemand wie sie dies dennoch, maßregelte man ihn öffentlich. Dafür konnte man sie nackt an einem vierzig Fuß langen Seil von den hohen Brücken baumeln lassen, während ein Tarnreiter sie im Flug streifte und züchtigte.
Ich hatte zugesehen, wie sie gegangen war; ich hatte sie nicht daran gehindert.
Auch als Telima aus meinem Haus geflohen war, nachdem ich mich zur Suche Talenas in den Wäldern des Nordens entschlossen hatte, hatte ich es geschehen lassen. Ich lächelte. Ein echter Goreaner wäre ihr gefolgt und hätte sie in Handschellen und mit Halsreif zurückgebracht.
Dann dachte ich an Vella, die einmal Elizabeth Cardwell geheißen hatte, und der ich in Lydius an der Mündung des Laurius, südlich der Wälder begegnet war. Ich hatte sie geliebt und sicher zurück zur Erde bringen wollen, wohingegen sie von meinem Wunsch nichts wissen wollte. Stattdessen war sie eines Nachts im Sattel meines Tarns, dem Ubar der Lüfte, aus dem Sardargebirge geflohen. In meiner Wut hatte ich den Vogel, als er zurückkehrte, vertrieben. In einer Pagataverne in Lydius traf ich sie wieder, nunmehr als Sklavin. Ihre Flucht war eine kühne Tat gewesen, für die ich sie bewunderte, wiewohl nicht ohne Nachspiel. Sie hatte gewagt – und nicht gewonnen. In einem Alkoven, nachdem ich mich mit ihr vergnügt hatte, verlangte sie, dass ich sie kaufte und befreite – ein Sklavenakt wie der Talenas. Ich ließ sie als Sklavin in der Taverne zurück, aber nicht ohne ihren Herrn, Sarpedon von Lydius, zuvor wissen zu lassen, dass sie eine bestens ausgebildete Vergnügungssklavin sei und aufreizend tanzen könne wie keine zweite, was ihm bislang entgangen war. Wieder eingekehrt, um sie vor der Kundschaft auftreten zu sehen, war ich in jener Nacht jedoch nicht. Ich musste Geschäften nachgehen. Sie hatte sich meinem Wunsch widersetzt. Sie war nur eine Frau und hatte mich um einen Tarn gebracht.
Sie glaubte zu wissen, ich sei härter geworden, mehr wie ein Goreaner. Ob das stimmte, konnte ich nicht genau sagen. Ein echter Goreaner, so glaube ich, hätte sie nicht in der Pagataverne zurückgelassen, sondern gekauft und mitgenommen zu seinen anderen Frauen – als köstliche neue Sklavin in seinem Haus. Ich lachte innerlich, denn dieses Mädchen – Elizabeth Cardwell –, die einst als Sekretärin in New York gearbeitet hatte, war eine der erlesensten Gespielinnen, die ich je in Sklavenseide gesehen hatte. An ihrem Schenkel prangte das Mal der vier Boskhörner.
Nein, ich war nicht wie ein typischer Goreaner mit ihr verfahren. Keineswegs hatte ich sie mit Halsreif an mich gebunden, auf dass sie meine Gelüste erfüllte.
Außerdem hatte ich, wie ich mich erinnerte, im Fieberwahn meiner Verwundung nach ihr verlangt, als ich im Heckkastell der Tesephone darniederlag.
Dies beschämte mich, denn es zeugte von Schwäche. Obwohl ich halb bewegungsunfähig war, ja nicht einmal die linke Hand schließen konnte, nahm ich mir vor, jede Spur von Schwäche in mir auszumerzen. Immer noch steckte eine Menge Irdisches in mir, viel Willfährigkeit, Kompromissbereitschaft und Nachsicht. Noch war ich nicht vollends vom goreanischen Geist durchdrungen.
Welcher Weg war der richtige? »Sinniere nicht über das Leben, lebe es!«
Und was hatte es mit meinem Leiden auf sich? Ich hatte die erfahrensten Wundärzte auf Gor zurate gezogen, um meiner Krankheit auf den Grund zu gehen, doch sie hatten nicht viel zu sagen. In Erfahrung konnte ich nur bringen, dass weder mein Gehirn noch meine Wirbelsäule direkten Schaden genommen hatten. Die Ärzte waren ratlos. Meine Wunden waren lebensbedrohlich tief gewesen und würden mir von Zeit zu Zeit Schmerzen bereiten, doch meine Lähmung war ihnen in Anbetracht der Art meiner Verletzungen unbegreiflich.
Eines Tages kam ein weiterer Arzt ungebeten an meine Tür.
»Lasst ihn herein«, hatte ich gesagt.
»Er ist ein Flüchtling aus Turia, ein Verbannter«, hatte Thurnock mir mitgeteilt.
Ich bestand auf meinem Wunsch.
»Es ist Iskander.«
Iskander von Turia war mir ein Begriff. Ich freute mich, dass er der Stadt, die ihn einst verstoßen hatte, mit seinem Namenszusatz gedachte. Viele Jahre war es her, da er ihre hohen Mauern zuletzt sehen durfte. Im Laufe seiner Ausbildung in Turia hatte er einmal einen jungen Tuchuckkrieger namens Kamchak behandelt. Deswegen – weil er einem Feind geholfen hatte – war er verbannt worden. Wie viele andere hatte es ihn nach Port Kar gezogen, wo er sich einen Ruf erarbeiten konnte, sodass er sich lange Zeit als Leibarzt von Sullius Maximus verdingte, der zu den fünf Ubars gehörte, die Port Kar vor der Machtübernahme durch den Kapitänsrat regiert hatten.
Sullius Maximus war gleichermaßen der Dichtkunst gewogen und Experte für Gifte. Als er aus der Stadt fliehen musste, war Iskander zurückgeblieben. So hatte er sogar an der Seeschlacht des fünfundzwanzigsten Se’Kara teilgenommen. Nach dieser war Sullius Maximus mit der Bitte um Asyl an Tyros herangetreten, was man ihm schließlich gestattete.
»Sei gegrüßt, Iskander«, sprach ich nun.
»Sei gegrüßt, Bosk von Port Kar.«
Iskander von Turia kam zu dem gleichen Ergebnis wie die anderen Ärzte, ergänzte jedoch zu meiner Verwunderung, nachdem er seine Instrumente wieder in seinen Beutel getan hatte, den er über der Schulter trug: »Die Wunden sind dir durch Klingen aus Tyros zugefügt worden.«
»Ja.«
»In den Wunden befindet sich ein kaum wahrnehmbarer Stoff«, fügte er hinzu.
»Bist du sicher?«
»Ich habe es noch nicht genau festgestellt«, sagte er, »aber es dürfte keine andere Erklärung geben.«
»Ein Stoff?« hakte ich nach.
»Ich glaube, es ist ein Gift, das durch eine darin getränkte Klinge in die Wunde gelangt ist.«
»Das ist gegen den Kodex.«
»Vergifteter Stahl«, betonte er.
Mir verschlug es die Sprache.
»Sullius Maximus hält sich auf Tyros auf«, bemerkte er.
»Ich hätte nicht gedacht, dass Sarus von Tyros in Gift getränkte Klingen benutzt«, sagte ich. Derlei Mittel, etwa auch Giftpfeile, widersprachen nicht nur dem Ehrenkodex des Kriegers, sondern grundsätzlich dem männlichen Ehrgefühl. Gift war die Waffe der Frau.
Iskander zeigte sich unschlüssig.
»Sullius Maximus hat ein solches Mittel hergestellt«, erklärte er mir. »Er erprobte es mit Nadeln an den Gliedern eines gefangenen Feindes, der daraufhin vom Hals an abwärts gelähmt war. Über eine Woche lang ließ er ihn als Gast zu seiner Rechten in königlichen Roben sitzen. Dann wurde er seiner überdrüssig und brachte ihn um.«
»Gibt es ein Gegengift?«, fragte ich.
Iskander verneinte.
»Dann besteht keine Hoffnung«, glaubte ich.
»Nein«, entgegnete er. »Es gibt keine Hoffnung.«
»Und wenn es sich nicht um jenes Gift handelt?«
»Vielleicht.«
»Thurnock«, rief ich. »Gib ihm einen goldenen Doppeltarn.«
»Nein«, wiegelte Iskander ab. »Ich verlange keine Bezahlung.«
»Weshalb?«
»Am fünfundzwanzigsten Se’Kara stand ich dir zur Seite.«
»I wish you well«, verabschiedete ich ihn.
»I wish you well, Kapitän«, erwiderte er und entfernte sich.
Ich fragte mich, ob Iskanders Vermutungen der Wahrheit entsprachen.
Falls es dieses Gift wirklich gab: Ließ sich ein Gegenmittel finden?
Es gebe keines, hatte er behauptet.
Wieder erklang es wie ein Singsang in meinem Kopf: »Sinniere nicht über das Leben, lebe es!«
Ich lachte bitter auf.
»Kapitän!«, hörte ich. »Kapitän!« Es war Thurnock und hinter ihm erklangen weitere Schritte. Offenbar versammelten sich die Bediensteten des Hauses.
»Was ist los?«, fragte Luma.
»Kapitän!«, rief Thurnock erneut.
»Ich muss ihn unbedingt sprechen«, drängte jemand. Ich erschrak, denn es was Samos, der Erste Sklavenhändler von Port Kar.
Mit Fackeln in der Hand traten sie ein.
»Steckt sie in die Ringe an der Wand«, wies Thurnock an, woraufhin die Halle sich erhellte.
Allmählich kamen die Angehörigen meines Hauses zusammen. Samos stellte sich auf die andere Seite des Tisches. Thurnock stand neben ihm und hielt immer noch eine Fackel in der Hand. Auch Luma war anwesend und Tab, der Kapitän der Venna, Clitus und der junge Henrius.
»Was ist los?«, wollte ich wissen.
Ein weiterer Mann trat hervor. Es war Ho-Hak, ein Rencebauer aus den Sümpfen. Sein Gesicht war fahl. Der einstige Eisenreif eines Galeerensklaven mit herabhängender Kurzkette beengte seinen Hals nun nicht mehr. Ho-Hak war ein Zuchtsklave, ein sogenannter Exot mit großen Ohren, was ihn unter Kennern begehrt machte. Vor langer Zeit hatte er seinem Herrn das Genick gebrochen. Seine Flucht misslang, sodass er sich auf einer Galeere wiederfand. Von dort gelang ihm abermals die Flucht, bei der er sechs Männer tötete. Schließlich schlug er sich bis in die Sümpfe des weiten Voskdelta durch. Aufgenommen wurde er dort von den Bauern, die auf aus Rencestängeln geflochtenen Inseln leben. Einer ihrer Clans unterstellte sich seiner Führung, und Ho-Hak erfreute sich großen Respekts allerorts im Delta. Er war es, der den Langbogen unter den Rencebauern einführte, sodass sie den Männern aus Port Kar die Stirn bieten konnten, die sie bislang diskriminiert und ausgebeutet hatten. So mancher Kapitän in der Stadt griff nun auf die Dienste der Bogenschützen aus dem Sumpf zurück.
Ho-Hak sagte nichts, warf aber einen blutverschmierten goldenen Armreif auf den Tisch.
Ich kannte das Schmuckstück. Es gehörte Telima, die in die Sümpfe geflohen war, als ich auf die Suche nach Talena in die Wälder des Nordens aufbrechen wollte.
»Telima«, bestätigte Ho-Hak schließlich.
»Wann ist es geschehen?«, fragte ich.
»Vor vier Ahn«, antwortete er. Dann wandte er sich an einen anderen Rencebauern, der bei ihm stand: »Sprich!«
»Ich habe nicht viel gesehen«, fing der Mann an, »nur einen Tarn und ein Ungeheuer. Ich hörte eine Frau schreien und stieß mein Floß in ihre Richtung und hielt den Bogen im Anschlag. Dann schrie sie erneut. Der Tarn hob ab und flog in geringer Höhe über die Rencepflanzen, sodass ich das Ungeheuer auf seinem Rücken erkannte, geduckt und zottig. Dann fand ich ihr Rencefloß, die Ruderstange trieb in der Nähe. Sie war ebenfalls rot vom Blut, und dort entdeckte ich auch den Armreif.«
»Ihr Leichnam?«, fragte ich.
»Tharlarions schwammen dort«, erklärte der Bauer.
Ich nickte.
Ich fragte mich, ob jenes Geschöpf auf Nahrungssuche gewesen war. Im Haus des Cernus hatte ich eins gesehen, das sich von Menschenfleisch ernährte. Gewiss war es für sie so gewöhnlich wie für uns Wildbret.
»Warum hast du es nicht getötet oder auf den Tarn geschossen?«, fragte ich weiter.
Mit dem Langbogen wäre das möglich gewesen.
»Ich bekam keine Gelegenheit dazu«, behauptete er.
»In welche Richtung ist der Tarn geflogen?«
»Nach Nordwesten.«
Ich war mir sicher, dass der Tarn der Küstenlinie folgte, denn es ist äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich, diese Tiere außer Sichtweite des Festlands zu reiten. Das widerstrebt ihrem Instinkt. Während der Schlacht des fünfundzwanzigsten Se’Kara hatten wir Tarne auf hoher See eingesetzt, die jedoch unter Deck in den Frachträumen der Schiffe eingesperrt waren, bis wir uns weit genug von der Küste entfernt hatten. Interessanterweise ließen sie sich, nachdem wir sie freigelassen hatten, ohne Weiteres befehligen. Beim Angriff sollten sie sich als überaus nützlich erweisen.
Ich schaute Samos an und fragte: »Was weißt du darüber?«
»Nur, was man mir erzählte«, antwortete er.
»Beschreibe dieses Wesen«, hielt ich den Rencebauern an.
»Ich habe es nicht richtig gesehen«, ließ er mich glauben.
»Das kann nur einer der Kurii gewesen sein«, sagte Samos.
Ich hatte den Namen noch nie gehört. »Kurii?«
»Das Wort ist eine goreanische Abwandlung des Namens, den sie sich selbst geben«, erklärte er.
»In Torvaldsland bedeutet das Wort Ungeheuer«, warf Tab ein.
Das fand ich interessant, denn falls Samos richtiglag und »Kurii« wirklich die Verballhornung ihres eigenen Namens für ihre Rasse war, während man in Torvaldsland ganz allgemein Ungeheuer so nannte, schien es mir durchaus möglich, dass die Kreaturen zumindest den Menschen in bestimmten Gegenden der Region, wahrscheinlich den abgelegenen, ein Begriff waren.
Der Tarn war nach Nordwesten geflogen und orientierte sich vermutlich am Wasser oder den Wäldern, indem er möglicherweise sogar die trostlosen Gestade von Torvaldsland selbst ansteuerte.
»Kannst du dir vorstellen«, fragte ich Samos, »dass dieses Geschöpf aus Hunger getötet hat?«
Er überließ die Antwort dem Rencebauer. »Sprich.«
»Das Ungeheuer war mir schon zuvor aufgefallen, zweimal, auf verlassenen, halb verdorrten Renceinseln, wo es in Lauerstellung lag.«
»Hat es gefressen?«
»Nicht in jenen Sümpfen«, beteuerte der Mann.
»Hatte es Gelegenheit dazu?«
»Vermutlich noch mehr als bei seinem Angriff.«
Ich fühlte ihm weiter auf den Zahn: »Hat es nur einmal angegriffen?«
»Ja.«
»Nun, Samos?«
»Für mich war es ein bewusster Angriff«, antwortete Samos. »Wer sonst in den Sümpfen trägt einen goldenen Armreif?«
»Aber warum?«, fragte ich mich. »Warum?«
Samos schaute mich an und sagte: »Die Dinge zwischen den Welten bekümmern dich offensichtlich immer noch.«
»Er ist gelähmt!«, rief Luma dazwischen. »Das sind rätselhafte Worte. Er kann doch nichts tun. Geht!«
Ich senkte den Kopf.
Ich spürte, wie sich meine Hände am Tisch zu Fäusten ballten. Plötzlich überkam mich ein teuflisches Hochgefühl.
»Bringt mir einen Becher!«, befahl ich.
Ich bekam einen schweren goldenen Becher und nahm ihn in die linke Hand. Langsam drückte ich ihn zusammen und warf ihn schließlich von mir.
Meine Untergebenen traten erschrocken zurück.
»Ich gehe«, sagte Samos. »Im Norden gibt es zu tun. Ich suche Vergeltung.«
Ich widersprach: »Nein Samos, ich gehe.«
Damit erntete ich erstaunte Blicke ringsum.
»Das kannst du nicht«, sagte Luma.
»Telima war einmal meine Frau«, hielt ich ihr vor Augen. »Die Rache gebührt mir.«
»Aber du bist gelähmt! Du kannst dich nicht bewegen!«
Ich wandte mich Thurnock zu: »Über meinem Lager hängen zwei Schwerter: ein einfaches mit abgegriffenem Heft und ein kostbares mit juwelenbesetztem Griff.«
»Ich kenne sie«, entgegnete er leise.
»Bring mir die schnelle, reichhaltig verzierte Klinge aus Port Kar.«
Thurnock eilte davon.
»Ich will Paga«, sprach ich dann, »und bringt mir rotes Boskfleisch.«
Henrius und Clitus wichen von der Tafel.
Thurnock brachte die Waffe, ein feines Schwert. Ich hatte es am fünfundzwanzigsten Se’Kara getragen. Seine Schneide war graviert, am Heft funkelten Edelsteine.
Ich nahm den Becher mit Paga entgegen. Seit meiner Rückkehr aus den Wäldern hatte ich nichts mehr von dem herben Trank gekostet.
»Ta-Sardar-Gor«, erbrachte ich einen Tischspruch, indem ich etwas davon verspritzte. Dann stand ich auf.
»Er kann stehen!«, rief Luma. »Er steht!«
Ich legte den Kopf in den Nacken und stürzte den Paga hinunter. Man brachte das rote Fleisch, das noch heiß dampfte. Ich vergrub meine Zähne darin, dass mir der Saft an den Mundwinkeln herablief.
Blut und Paga brodelten verheißungsvoll in mir. Das Fleisch wärmte mich.
Ich stieß den Goldbecher weg, zerpflückte das Fleisch und aß mich satt.
Schließlich legte ich mir die Scheide am Gurt um die linke Schulter.
»Sattle einen Tarn«, befahl ich Thurnock.
»Ja, Kapitän«, keuchte er.
Ich stand nun vor dem Kapitänsstuhl. »Mehr Paga«, verlangte ich. »Ich trinke auf das Blut der Lebenden.«
Auch diesen Becher schleuderte ich von mir, sobald ich ihn geleert hatte.
Mit einem jähzornigen Schrei hämmerte ich die Fäuste auf die Tischplatte, dass die Bretter brachen, ehe ich meine Decke wegwarf und den Kapitänsstuhl umstürzte.
»Geh nicht«, mahnte Samos. »Es könnte eine List sein, um dich in einen Hinterhalt zu locken.«
Ich lächelte ihn an. »Natürlich ist es eine List, denn Telima ist für diejenigen, mit denen wir es zu tun haben, nicht von Belang.« Er sollte mich anschauen, ehe ich fortfuhr: »Mich wollen sie, und diesen Wunsch möchte ich ihnen nicht abschlagen.«
Samos drang weiter in mich: »Bleib.«
»Im Norden gibt es doch zu tun«, sprach ich ihm nach.
»Lass es mich übernehmen«, bat er.
»Mein ist die Rache.«
Ich drehte mich um und schritt zum Ausgang der Halle. Luma schlug sich die Hände vor den Mund, als sie vor mir zurückwich.
Wieder fiel mir der innige Blick ihrer wunderschönen Augen auf. Sie hatte Angst.
»Begib dich in meine Gemächer!«, gebot ich.
»Ich bin frei«, wisperte sie.
»Leg ihr einen Halsreif an«, trug ich Thurnock auf, »und schick sie zu meiner Bettstatt.«
Seine Hand umfasste den Arm der hageren blonden Schreiberin.
Und zu Clitus sagte ich: »Sieh zu, dass auch Sandra, die Tänzerin, mir aufwartet.«
»Du hast ihr die Freiheit geschenkt, Kapitän«, hielt Clitus mir grinsend vor.
»Dann leg auch ihr einen Halsreif an.«
»Jawohl, Kapitän.«
Ich erinnerte mich sehr gut an Sandra, an ihr schwarzes Haar, an ihre gebräunte Haut und ihre hohen Wangenknochen. Ich lechzte nach ihr.
Lange war es her, dass ich mit einer Frau geschlafen hatte.
»Tab.«
»Ja, Kapitän?«
»Die beiden Frauen waren bis jetzt frei. Lass sie, wie es sich gehört, Sklavenwein trinken, sobald sie ihren Halsreif bekommen haben«, instruierte ich ihn.
»Jawohl, Kapitän.« Auch er grinste.
Der saure Sklavenwein dient einem bestimmten Zweck: Er schützt über einen goreanischen Monat lang. Ich wollte die beiden nicht schwängern. Er wird bei Sklavinnen nur abgesetzt, wenn ein Herr bewusst Nachwuchs mit ihnen zeugen möchte.
»Der Tarn, Kapitän?« Thurnock erwartete Befehle.
»Lass ihn satteln. Ich werde in Kürze nach Norden aufbrechen.«
»Ja, Kapitän«, schloss er.
Der Weihrauch reizte meine Nase.
Es war heiß im Tempel, beengend stickig, denn viele hatten sich hineingezwängt. Man sah kaum etwas, da der Rauch schwer in der Luft hing.
Der Erste Eingeweihte von Kassau, einer Stadt am nördlichen Waldrand, saß reglos in seinen weißen Roben und mit einem hohen Hut auf dem Thron rechts hinter dem weißen Geländer, das das Heiligtum der Eingeweihten von den Gemeinplätzen im Tempel trennte, wo diejenigen verweilen mussten, welche nicht mit dem Öl der Priesterkönige gesalbt waren.
Neben mir schluchzte, überwältigt von ihren Gefühlen, eine Frau. »Heil den Priesterkönigen«, wiederholte sie unaufhörlich bei sich, während sie immerzu nickte.
In ihrer Nähe stand ein schlankes blondes Mädchen, dessen Haare in einem mit Golddraht durchwirkten Netz aus rotem Garn steckte. Auf ihren Schultern lag ein weißes Cape aus dem Fell eines Seesleens, wie sie nur im Norden vorkommen. Ihr ebenfalls rotes Wams war goldbestickt; darunter trug sie eine langarmige Bluse aus weißer Wolle aus dem fernen Ar. Passend dazu hatte sie einen langen rot gefärbten Wollrock mit schwarzem Gürtel an, dessen goldene Schnalle auf Cos gefertigt worden war. Ihre polierten Schuhe aus schwarzem Leder reichten bis über die Knöchel und waren doppelt geschnürt – je einmal um Fußrücken und Gelenk.
Sie bemerkte, dass ich sie interessiert ansah, schaute dann jedoch weg.
Sie war nicht die einzige Frau unter den Anwesenden. Auf den Dörfern im Norden, in den Waldstädten und noch weiter nördlich entlang der Küste, verhüllen sich die Frauen im Gegensatz zu den Ortschaften im Süden nicht.
Kassau ist der Sitz des Ersten Eingeweihten des Nordens, der die Geisteshoheit von Torvaldsland für sich beansprucht, das nach allgemeiner Auffassung dort beginnt, wo das Gehölz gen Norden hin dünner wird. Besagtes Anrecht wird wie vieles, was die Eingeweihten beschließen, von wenigen angefochten, aber von den meisten ignoriert. Mir war bekannt, dass die Männer aus Torvaldsland sich den Priesterkönigen zwar im Großen und Ganzen gewogen zeigten, ihnen jedoch keine besondere Ehrfurcht entgegenbrachten. Sie beriefen sich auf alte Götter und ebensolche Bräuche. Die Religion der Priesterkönige, welche die Kaste der Eingeweihten eingeführt hatte und durch regelmäßige Zeremonien zu festigen suchte, setzte sich bei den primitiven Nordmenschen kaum durch. Dagegen hatte sie sich in vielen Städten festsetzen können, so auch in Kassau. Die Eingeweihten machten regen Gebrauch von ihrem Einfluss und ihrem Gold, indem sie Druck auf Kaufleute ausübten und Warenembargos verhängten, um anderen ihren Glauben und dessen Rituale aufzudrängen. Mancher Stammesführer, der sich von ihnen bekehren ließ, zwang seine Untergebenen, gleichfalls zu konvertieren. Dies stellte keine Seltenheit dar; die Erleuchtung eines Oberhauptes führte allzu häufig dazu, dass sein Volk ihm folgte, da es sich ihm treu verbunden wähnte. Vereinzelt kam es auch vor, dass die Eingeweihten die Religion der Priesterkönige durch weltliche Herrscher mit Feuer und Schwert verbreiten ließen. Gelegentlich verurteilte man diejenigen, die auf ihre alten Traditionen pochten oder dabei ertappt wurden, wie sie das Zeichen der Hammerfaust über ihrem Bier machten, zum Tod oder folterte sie. Ich hatte von jemandem gehört, den man in einem der großen Holzkübel zur Zubereitung von Fleisch für Niedere bei lebendigem Leib gekocht hatte. Das Wasser wird mit heißen Steinen erhitzt, die man, sobald sie erkalten, wieder mit einer Harke herausnimmt, um sie erneut in die Flammen zu legen. Ein anderer Unglücklicher soll gleichsam bei vollem Bewusstsein über einem langsam brennenden Feuer am Spieß gebraten worden sein; angeblich gab er dabei keinen Laut von sich. Ein weiterer kam zu Tode, als sich eine Viper, die man ihm in den Mund gesteckt hatte, sich durch seine Wange bohrte.
Ich betrachtete das bleiche, hochmütige Gesicht des Ersten Eingeweihten, der umgeben von seinen kahl geschorenen geringeren Brüdern in weißen Roben auf dem Thron saß. Eingeweihte essen weder Fleisch noch Hülsenfrüchte. Sie werden in die Kunst der Mathematik eingeweiht und sprechen Altgoreanisch miteinander, das unter den gewöhnlichen Menschen ausgestorben ist. Auch ihre Messen halten sie in dieser Sprache ab, wobei allerdings bestimmte Teile in zeitgenössisches Goreanisch übersetzt werden. Kurz nachdem ich auf den Planeten Gor gekommen war, hatte man mich gezwungen, einige Langgebete an die Priesterkönige auswendig zu lernen, was mir nie so recht gelingen wollte, weshalb ich sie mit der Zeit vergaß.
Höre ich sie jedoch, erinnere ich mich ihrer wieder. Gerade jetzt verlas einer der Eingeweihten auf der Empore hinter dem weißen Geländer eines laut für die Versammelten.
Solche Zusammenkünfte, die Gottesdienste und Exerzitien der Eingeweihten, hatten mir nie gefallen, doch heute wollte ich aus besonderem Anlass daran teilnehmen.
Ivar Forkbeard war tot.
Ich kannte diesen Mann aus Torvaldsland nur vom Hörensagen. Er war ein großer Seefahrer gewesen, umtriebig als Pirat, Händler und Krieger. Kein Geringerer als er hatte mit seinen Männern Chenbar von Tyros, den Seesleen, aus einem Kerker in Port Kar befreit. Sie waren bis ins Gefängnis vorgestoßen und hatten seine Ketten mit den stumpfen, hammerähnlichen Enden ihrer langen einblättrigen Äxte von den Wänden geschlagen. Er hatte als furchtlos und gefährlich gegolten, weil er behände im Umgang mit Stich- und Hiebwaffen gewesen war, zudem war er Späßen, dem Alkohol und hübschen Mädchen nicht abgeneigt gewesen – er wurde für verrückt gehalten. Als Lohn hatte er sich Chenbars Körpergewicht in Saphiren aus Shendi aufwiegen lassen. Was solche Dinge anging, konnte er doch nicht so verrückt gewesen sein.
Nun war Ivar Forkbeard nicht mehr am Leben.
Es hieß, er habe sich zur Abbitte, da er ein verwerfliches Leben geführt hatte, zum Tempel der Priesterkönige in Kassau tragen lassen, als es mit ihm zu Ende ging, damit der Erste Eingeweihte dort, so er sich gnädig zeigte, seine Gebeine mit dem geweihten Öl der Priesterkönige salbte.
Dies sollte bedeuten, dass Forkbeard seine Sünden zwar nicht zu Lebzeiten, so doch zumindest zur Stunde seines Todes einsah, indem er sich dem Willen und der Weisheit des Glaubens der Priesterkönige fügte.
Eine solche Bekehrung, selbst wenn sie erst auf dem Totenbett erfolgte, war für die Eingeweihten ein großer Erfolg.
So spürte ich auch das Siegesgefühl des Ersten Eingeweihten auf seinem Thron, obschon sein ausdrucksloses Gesicht kaum etwas davon durchblicken ließ.