Die linkesten Orte der Welt - Thomas Schröter - E-Book

Die linkesten Orte der Welt E-Book

Thomas Schröter

0,0

Beschreibung

Die linkesten Orte der Welt liegen nicht nur in Parlamente und Parteizentralen, sondern in Gemeinderäten, Ward-Offices, Kooperativenlagern, Flussgremien, Lohnrunden und Mikronetz-Containern. Dieses erzählende Sachbuch zeigt, wie linke Politik funktioniert, wenn sie liefert: Wasser, Licht, Wege, Schule, Gesundheit, Wohnen, Löhne, Natur. Anhand von Fallorten von Rojava bis Kerala, von Cherán bis Aotearoa, von Kapstadt bis Uruguay destilliert das Buch die Bausteine wirksamer Gerechtigkeit; Reihenfolgen, Rollen, Rechenschaft. Ein Werkzeugkasten für Kommunen, Aktivist:innen, Studierende und alle, die wissen wollen, wie man den ersten Kilometer baut und hält.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 213

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1 Was heißt links heute Eine Arbeitsdefinition für Leserinnen und Leser

Kapitel 2 Der Maßstab – Kriterien, Daten und blinde Flecken

Kapitel 3 Wie dieses Buch liest – erzählendes Sachbuch zwischen Reportage und Analyse

Kapitel 4 Karten der Möglichkeit – weltweite Übersicht und Auswahl der Fallorte

Kapitel 5 Wien – Wohnen als soziales Grundrecht

Kapitel 6 Barcelona – Kommunalismus, digitale Commons und Stadt als Gemeingut

Kapitel 7 Mondragón – Industrie als Genossenschaftsnetz

Kapitel 8 Marinaleda – Andalusische Kooperative und das Versprechen der Vollbeschäftigung

Kapitel 9 Christiania – Freiraum, Konsens und Konflikt in der Stadt

Kapitel 10 Emilia-Romagna – Italiens leiser Sozialpakt

Kapitel 11 Preston – Community Wealth Building im Alltag

Kapitel 12 Porto Alegre – Das Original der Bürgerhaushalte

Kapitel 13 Belo Horizonte – Politik gegen den Hunger

Kapitel 14 Zapatistische Gebiete in Chiapas – Autonomie, Räte und Bildung von unten

Kapitel 15 Cherán – Purépecha-Selbstregierung ohne Parteien

Kapitel 16 Uruguay – Leise Stabilität und der Sozialpakt

Kapitel 17 Kuba – Versorgung als Staatsversprechen, Freiheit als offene Flanke

Kapitel 18 Kerala – Demokratische Planung und soziale Spitzenwerte bei mittlerem Einkommen

Kapitel 19 Rojava – Räte, Doppelspitzen und Fraueninstitutionen im Ausnahmezustand

Kapitel 20 Okinawa und Nachbarinseln – Zwischen Militarisierung, Gemeingütern und Energie von unten

Kapitel 21 Kapstadt und Johannesburg – Stadtgerechtigkeit gegen alte Trennlinien

Kapitel 22 Tansania – Ujamaa als Labor für Gleichheit und Grundversorgung

Kapitel 23 Burkina Faso 1983–1987 – Der kurze Frühling von Impfungen, Frauenrechten und Anti-Korruption

Kapitel 24 Aotearoa/Neuseeland – Ein moderner Sozialvertrag

Kapitel 25 Profile im Vergleich – Muster, Hebel, Grenzen

Kapitel 26 Werkzeugkasten & Implementierungsfahrplan

Kapitel 27 Epilog, Glossar, Quellenapparat

Prolog

Am Anfang steht kein Manifest, sondern ein Raum. Plastikstühle, der Geruch von Kaffee aus Thermoskannen, ein Mikrofon auf einem wackeligen Stativ. Es ist eine Bürgerversammlung in einer Turnhalle irgendwo auf dieser Erde. Menschen reden über Buslinien, über Mieten, über Arbeit, über Sicherheit und über die Frage, wer in dieser Stadt eigentlich entscheidet. Eine Frau mit leiser Stimme beschreibt die Last von zwei Jobs und die Suche nach einer Wohnung, die nicht die Hälfte ihres Einkommens frisst. Ein junger Mann fragt, warum es immer heißen muss, es sei kein Geld da, wenn doch das neue Stadion mühelos finanziert wurde. Eine ältere Nachbarin erinnert daran, dass die Stadt einmal Kind sein konnte und heute erwachsen sein muss. In diesem Raum wird nicht über große Worte gestritten, sondern darüber, wie das Gemeinsame organisiert wird. Hier beginnt dieses Buch.

Es will erzählen, was links in der Wirklichkeit bedeutet. Nicht als Etikett, nicht als Glaubensbekenntnis, sondern als Praxis, die in Institutionen, in Verfahren, in Regeln und in Gewohnheiten sichtbar wird. Links ist in diesem Sinn keine Fahne über einem Rathaus. Links ist der Entschluss, Rechte nicht nur zu versprechen, sondern sie zu liefern. Es ist die Idee, dass Freiheit mehr ist als Vertrag, dass sie auch Wohnung, Betreuung, Bildung und Gesundheit braucht. Es ist die Einsicht, dass Märkte nützlich sein können, aber nicht die Antwort auf jede Frage sind. Und es ist der Mut, Macht zu teilen, damit Entscheidungen besser werden, weil sie näher an den Lebensläufen der Menschen getroffen werden.

Wer nach dem linkesten Ort der Welt fragt, hofft auf eine Krone. Dieses Buch verspricht keine Krone. Es verspricht eine Karte. Eine Karte mit unterschiedlichen Maßstäben. Man kann sie nach Umverteilung lesen und sieht dann Staaten, die viel von ihrem Wohlstand über Steuern und Beiträge zurück in gemeinsame Leistungen leiten. Man kann sie nach öffentlicher Infrastruktur lesen und folgt Leitungen, Netzen, Bussen, Kliniken, Schulen und Wohnungen. Man kann sie nach Mitbestimmung lesen und steht plötzlich in Räumen mit offenen Mikrofonen, in Räten, in Werkshallen, in Kommunen, in denen es nicht ungewöhnlich ist, dass man zusammen entscheidet. Man kann sie nach Gleichstellung lesen und merkt, wie stark eine Gesellschaft wird, wenn Frauen nicht nur dabei sind, sondern die Hälfte der Macht selbstverständlich mittragen. Man kann sie nach Arbeitsrechten lesen und erkennt, dass Tarifbindung und Kooperativen nicht nur Löhne erhöhen, sondern auch Würde.

Diese Karte führt an Orte, die sich widersprechen und doch etwas gemeinsam haben. Wien mit seinen Gemeindebauten, in denen Wohnen nicht Objekt eines Spekulationsdramas ist, sondern Aufgabe der Stadt. Mondragón mit Industrie in Händen der Beschäftigten, die gelernt haben, Risiko und Verantwortung zu teilen. Marinaleda, das kleine andalusische Dorf, das aus besetztem Land eine Arbeitsperspektive für alle gebaut hat. Christiania, die Freistadt in Kopenhagen, die zeigt, was passiert, wenn Menschen Regeln nicht aus Angst, sondern aus Zustimmung befolgen. Porto Alegre, wo Bürgerhaushalte gelernt haben, dass Prioritäten nicht vom Förderantrag, sondern vom Stadtteil beginnen. Kerala, der südindische Bundesstaat, der mit Bildung, Gesundheit und Teilhabe einen anderen Weg in die Entwicklung gefunden hat. Die zapatistischen Gemeinden in Chiapas, die unter widrigen Bedingungen Selbstverwaltung und Frauenrechte erfahrbar gemacht haben. Rojava, wo im Schatten des Krieges Doppelspitzen und Räte erfunden wurden, um Macht zu teilen und Gewalt zu begrenzen. Uruguay, das kleine Land mit großer sozialer Vernunft. Kuba mit einem Versprechen auf Versorgung, das in der Praxis Stärke und Engpass zugleich ist. Und viele andere.

Es gibt keinen vollkommenen Ort. Es gibt gelungene Elemente. Die Kapitel dieses Buches beginnen deshalb nicht mit Statistiken, sondern mit Szenen. Eine Hausbegehung in einem Wiener Gemeindebau. Eine Schichtübergabe in einer Genossenschaftsfabrik. Eine Sitzung in einer Nachbarschaftsversammlung. Ein Besuch in einer Klinik auf dem Land. Eine Fahrt durch einen Stadtteil, in dem Bus und Mietvertrag Teil derselben Erzählung sind. Erst danach kommen die Zahlen, die Gesetze, die Verträge, die Verfahren. Erst danach kommen die Zweifel und die Kritik, denn jede soziale Erfindung erzeugt neue Fragen. Wer entscheidet wirklich. Wer bleibt still. Wer trägt Kosten, die im Budget nicht erscheinen. Welche Rechte geraten unter Druck, wenn man andere stärkt. Wo kippt Fürsorge in Bevormundung. Wo wird Partizipation zur Bühne für die, die ohnehin Stimme haben.

Links in diesem Buch ist kein romantisches Gegenbild zu einem kalten System. Es ist die Arbeit am Gemeinsamen. Es ist die Kunst, Konflikte nicht zu verbergen, sondern sie in faire Regeln zu übersetzen. Es ist die Bereitschaft, Ziele in Reihenfolgen zu denken. Erst Absicherung, dann Freiheit. Erst Netze, dann Konsequenz. Erst verlässliche Daten, dann Entscheidungen. Links ist, wenn Verwaltung nicht mit dem Formular beginnt, sondern mit dem Problem, das gelöst werden soll. Links ist, wenn der Staat sich nicht als zahnloser Moderator versteht, sondern als Garant von Zugängen und als Partner von Initiativen, die vor Ort mehr wissen als ein Konzeptpapier.

Dieses Buch erzählt von Erfolgen, die sich messen lassen, und von Grenzen, die weh tun. Es zeigt, warum Wohnpolitik ohne Bodenpolitik scheitert. Warum ein Bürgerhaushalt ohne starke Verwaltung verpufft. Warum gute Arbeit ohne starke Organisation nur eine Parole bleibt. Es zeigt, wie Gleichstellung das ganze System verändert, nicht nur Personaldebatten. Es zeigt, wie öffentliche Infrastruktur den Alltag erleichtert, aber auch wie sie zerfällt, wenn Pflege, Wartung und Ausbildung vernachlässigt werden. Und es zeigt, dass Klima und soziale Gerechtigkeit keine Gegensätze sind, sondern nur zusammen tragfähig werden, wenn die Investitionen dort beginnen, wo Menschen ihre Rechnungen zahlen.

Wer hier liest, soll etwas mitnehmen, das über Zustimmung oder Ablehnung hinausgeht. Studierende finden einen Werkzeugkasten mit Begriffen, Quellen und Verfahren. Aktivistinnen finden Geschichten, die Mut machen, aber auch Hinweise, wie man aus Versuch und Irrtum lernen kann. Fachleute finden Vergleichbarkeit und Methodik. Politisch interessierte Leserinnen finden Orientierung, ohne den didaktischen Zeigefinger. Über allem steht die Haltung, dass Respekt vor Fakten und Respekt vor Erfahrung zusammengehören. Deshalb kommen in den Kapiteln diejenigen zu Wort, die eine Idee tragen, und diejenigen, die mit den Folgen leben.

Der Weg durch die Kapitel ist kein Parforceritt, sondern eine sorgfältige Begehung. Wir vergleichen nicht Länder mit Orten, als wären sie gleich groß, sondern wir legen Maßstäbe offen und sagen, wann ein Vergleich Sinn ergibt und wann nicht. Wir benennen, wo Daten fehlen und warum Geschichten dann nicht ersetzt, sondern ergänzt werden. Wir markieren, wo Ideale ihre Form verlieren, wenn sie in Institutionen gegossen werden, und wir zeigen, wo Institutionen Ideale schützen, gerade weil sie nüchtern sind.

Am Ende dieses Buches gibt es keine Schlusspointe, sondern ein Angebot. Wer politisch handeln will, kann wählen zwischen Symbol und System. Dieses Buch ist eine Einladung zum System. Es ist eine Einladung, das Gemeinsame zu bauen, nicht nur zu beklatschen. Es ist eine Einladung, nicht nach dem einen linkesten Fleck zu suchen, sondern nach Bausteinen, die man zusammensetzen kann. Vielleicht beginnt es wieder in einer Turnhalle. Mit Plastikstühlen, mit Kaffee, mit einem wackeligen Mikrofon. Und mit der Erkenntnis, dass Politik nicht dort endet, wo der Alltag beginnt, sondern genau dort anfängt.

Kapitel 1 Was heißt links heute Eine Arbeitsdefinition für Leserinnen und Leser

Links ist ein Wort, das in Debatten oft wie ein Etikett benutzt wird und doch im Alltag von Institutionen, Gesetzen und Gewohnheiten lebt. Wer links sagt, meint selten nur eine Partei oder eine historische Tradition, sondern verweist auf ein Bündel an Zielen, Maßstäben und Methoden. In diesem Buch verwenden wir links nicht als Glaubensbekenntnis und nicht als Abgrenzungsmarke, sondern als Beschreibung einer politischen Praxis. Diese Praxis lässt sich beobachten, messen, kritisieren und verbessern. Sie beginnt im Konkreten und bleibt dort verwurzelt, wo Menschen wohnen, lernen, arbeiten, pflegen, streiten und entscheiden. Damit Lesende die folgenden Kapitel einordnen können, klärt dieses erste Kapitel den Begriff im erzählerischen, aber präzisen Sinn. Es bietet eine Arbeitsdefinition, die auf Werten, Institutionen und überprüfbaren Ergebnissen basiert, und unterscheidet links von benachbarten, teils verwandten, teils gegensätzlichen Konzepten.

Werte statt Etiketten die vier Säulen

Links ist zunächst eine Antwort auf die Frage, wie Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Demokratie zusammengedacht werden können, ohne dass eine dieser Säulen die anderen verschlingt. Freiheit meint dabei nicht nur die Abwesenheit von Zwang, sondern die reale Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, die das eigene Leben tragen. Diese Möglichkeit entsteht selten im luftleeren Raum. Sie braucht Einkommen, Zeit, Bildung, Gesundheitsversorgung, Schutz vor Willkür, Schutz vor Diskriminierung. Gleichheit ist in diesem Verständnis keine Gleichmacherei, sondern die bewusste Korrektur jener Zufälle der Geburt und jener Ungleichheiten der Märkte, die Menschen systematisch Chancen rauben. Solidarität bezeichnet nicht bloß Mitgefühl, sondern organisierte Gegenseitigkeit, die in Regeln und Institutionen übersetzt ist, sodass Hilfe nicht von Stimmung, Mildtätigkeit oder Nähe abhängt. Demokratie schließlich ist mehr als der Gang zur Wahlurne. Sie ist die Verteilung von Macht, Mitbestimmung und Rechenschaft in der ganzen Breite des Alltags, von der Wohnungspolitik bis zur Werkhalle, vom Gemeinderat bis zur Schule, von der Energieversorgung bis zur Pflege.

In dieser Vierheit wird sichtbar, warum links niemals nur eine Steuerfrage ist und ebenso wenig ein reines Kulturprogramm. Wer links sagt, will beides zugleich ernst nehmen. Er will materielle Lebensbedingungen verbessern und symbolische Anerkennung sichern. Er will Rechte nicht nur aufschreiben, sondern liefern. Er will Institutionen bauen, die Respekt vor Differenz mit dem Anspruch auf gleiche Teilhabe verbinden. Und er will Macht so organisieren, dass jene, die betroffen sind, gehört werden, ohne dass Entscheidungsprozesse im Klein-Klein versanden.

Die Achsen der Praxis Umverteilung, Infrastruktur, Arbeit, Teilhabe, Gleichstellung, Gemeingüter, Ökologie

Aus Werten folgt Praxis. In diesem Buch unterscheiden wir sieben Achsen, auf denen linke Politik im Alltag Kontur erhält. Umverteilung beantwortet die Frage, wie gesellschaftlicher Reichtum über Steuern, Beiträge und Transfers so mobilisiert wird, dass niemand unter das Niveau fällt, das ein menschenwürdiges Leben voraussetzt, und dass Lebenschancen nicht vom Elternhaus abhängen. Öffentliche Infrastruktur fragt, ob die Netze tragen Busse, Bahnen, Leitungen, Kliniken, Schulen, digitale Zugänge, Wohnraum. Gute Infrastruktur ist kein Luxus, sondern ein Freiheitsinstrument, das Wege verkürzt, Kosten senkt, Zeit schenkt.

Arbeit betrifft Löhne, Arbeitszeiten, Sicherheit, Qualifikation und Mitbestimmung. Sie ist eine Quelle von Einkommen und Identität und zugleich ein Ort von Macht und Ohnmacht. Links heißt hier, jene Ungleichgewichte auszugleichen, die individuelle Verhandlungsmacht nicht lösen kann. Teilhabe meint die Verfahren, in denen entschieden wird Bürgerhaushalte, Versammlungen, Betriebsräte, Räte, lokale Foren. Sie beantworten, wer wann wie gehört wird und wie daraus bindende Entscheidungen entstehen. Gleichstellung richtet den Blick auf Geschlecht, Herkunft, Behinderung, Alter, sexuelle Orientierung, Religion, Sprache. Nicht Diskriminierung allein, sondern die aktive Herstellung gleicher Möglichkeiten ist der Prüfstein.

Gemeingüter sind jene Ressourcen, die wir nur gemeinsam sinnhaft verwalten Boden, Wasser, Luft, Daten, Wissen. Sie stellen die Frage, wie Eigentum und Zugang organisiert werden, damit langfristiges Gemeinwohl kurzfristige Vorteile überdauert. Ökologie schließlich ist kein Annex, sondern strukturbildend. Eine Politik, die die Klimakrise, Biodiversität und Stoffkreisläufe ausblendet, verfehlt im 21. Jahrhundert die Grundlage der Gerechtigkeit. Auf jeder dieser Achsen gibt es Instrumente, Indikatoren, Konflikte und Lernprozesse. Orte sind in diesem Sinn nicht links oder rechts als Ganzes. Sie sind Mischungen. Manchmal exzellent auf einer Achse, schwach auf einer anderen. Genau diese Heterogenität macht die Suche nach den linkesten Orten spannend.

Abgrenzungen Sozialdemokratie, Sozialismus, Liberalismus, Konservatismus, Libertarismus

Weil links im Alltag oft mit anderen Begriffen verschmilzt, lohnt eine nüchterne Abgrenzung. Sozialdemokratie ist historisch die institutionenfreundliche Übersetzung linker Ziele in parlamentarische Kompromisse. Sie stärkt Tarifpartnerschaft, Sozialstaat und öffentliche Dienste bei gleichzeitigem Bekenntnis zur Marktwirtschaft. Sozialismus bezeichnet im engeren Sinne die Überführung zentraler Produktionsmittel in öffentliches oder kollektives Eigentum, reicht von demokratischen Genossenschaftsmodellen bis zu staatszentrierten Planwirtschaften. Liberalismus schützt Grundrechte, Minderheiten, individuelle Freiheit und Wettbewerb. Wo er soziale Voraussetzungen dieser Freiheit ignoriert, gerät er in Konflikt mit linken Anliegen. Wo er Freiheitsrechte gegen autoritäre Versuchungen schützt, ist er Verbündeter. Konservatismus bewahrt Institutionen, Gewohnheiten, kulturelle Kohärenz. Er kann mit linker Infrastrukturpolitik koexistieren, kollidiert jedoch, wenn Bewahrung Ungleichheiten zementiert.

Libertarismus setzt radikal auf Markt und Eigentum und betrachtet Umverteilung als Eingriff in Freiheit. Damit steht er den meisten linken Instrumenten entgegen, teilt aber mit Teilen der Linken Skepsis gegenüber bürokratischer Bevormundung.

Diese Begriffe sind keine Schubladen, aus denen sich reale Politik sauber befüllen ließe. In der Praxis entstehen Koalitionen auf Zeit. Bürgerrechte werden oft liberal gegen autoritäre Linke verteidigt, soziale Rechte oft links gegen marktliberale Kürzungen gesichert. Entscheidend ist, ob Resultate den vier Säulen dienen und auf den sieben Achsen tragfähig sind.

Macht und Methode vom guten Vorsatz zur belastbaren Institution

Links bleibt leer, wenn es nicht in Verfahren und Verantwortlichkeiten übersetzt wird. Gute Absichten erzeugen ohne Methode Frust. Methode heißt hier drei Dinge. Erstens Reihenfolge. Wer zuerst Versprechen macht und erst danach Netze baut, scheitert an der Realität. Wer zuerst Daten erhebt, dann Prozesse aufsetzt und erst dann Mittel verteilt, reduziert Fehler. Zweitens Zuständigkeiten. Aufgaben brauchen klare Anker Verwaltungen, die liefern können, Gemeinbetriebe, die Standards halten, zivilgesellschaftliche Partner, die nicht nur konsultiert, sondern beauftragt werden. Drittens Rechenschaft. Jede Ausgabe, jeder Indikator, jede Regel braucht eine Rückkopplung. Was wurde geplant, was geliefert, was gelernt. Wo diese drei Elemente fehlen, kippt linke Politik in Symbolik oder in Überforderung.

Beispiele werden in den folgenden Kapiteln lebendig. Ein Bürgerhaushalt, der nur Wünsche einsammelt, ohne Planungs- und Baukapazität, produziert Enttäuschung. Eine Mietpreisbremse ohne Neubau, Bodenpolitik und Verwaltungsvollzug bleibt ein Versprechen auf Papier. Eine Pflegegarantie ohne Ausbildungsoffensive und Arbeitszeitpolitik wird zur Lücke im Alltag. Methode schützt Werte vor Verschleiß. Sie ist die unspektakuläre Seite des Fortschritts.

Verteilung und Anerkennung eine falsche Gegnerschaft

Oft wird so getan, als müsse sich linke Politik zwischen Klassenfragen und Anerkennungsfragen entscheiden. Entweder Löhne und Mieten oder Diskriminierung und Diversität. Diese Gegenüberstellung ist analytisch bequem und politisch zerstörerisch. Denn Armut und Ausgrenzung verstärken sich. Wer diskriminiert wird, verdient seltener gut, wohnt schlechter, hat weniger Zeit und schlechtere Gesundheit. Wer arm ist, kann Diskriminierung schlechter abwehren. Eine Praxis, die Löhne erhöht, Mieten senkt, öffentliche Dienste ausbaut und zugleich Gewalt, Bias und Ausschlüsse bekämpft, handelt nicht widersprüchlich, sondern kohärent. Gleichstellung hebt die Produktivität und die Qualität von Entscheidungen. Antidiskriminierung schafft Vertrauen in Institutionen. Materielle Sicherheit ermöglicht riskantere, freiere Lebensentwürfe. Die Orte in diesem Buch zeigen, dass diese Zusammenführung machbar ist, wenn man sie will und organisiert.

Staat, Markt, Zivilgesellschaft eine Arbeitsteilung ohne Romantik

Links bedeutet nicht automatisch mehr Staat in jeder Frage und schon gar nicht Staat gegen Gesellschaft. Es bedeutet eine kluge Arbeitsteilung. Der Staat setzt Garantien, Mindeststandards, Netze, Finanzierung und Rechenschaft. Der Markt liefert Innovation, Effizienz, Vielfalt, wo Wettbewerb sinnvoll und regulierbar ist. Die Zivilgesellschaft erzeugt Nähe, Vertrauen, Experimentierfreude und Kontrolle. Gemeingüter und öffentliche Dienste bilden das Rückgrat. Genossenschaften, Sozialunternehmen und nicht gewinnorientierte Träger füllen die Zwischenräume. Private Anbieter werden dort eingebunden, wo sie Standards erfüllen, Risiken teilen und öffentliche Ziele anerkennen. Diese Arbeitsteilung ist kein Naturzustand, sondern Ergebnis von Recht, Planung und Politik. Sie muss laufend überprüft, nachjustiert, demokratisch legitimiert werden. Je klarer die Rollen, desto geringer die Enttäuschungen.

Messbarkeit ohne Dogma Indikatoren, Geschichten, Vergleichbarkeit

Wer Orte vergleichen will, braucht Maßstäbe, aber auch Demut. Kennziffern wie Armutsquote, Lebenserwartung, Lohnentwicklung, Mietbelastung, Tarifbindung, Betten je Einwohner, Taktzeiten im ÖPNV, Kinderbetreuungsquote, Anteil geförderten Wohnens, Emissionen pro Kopf, Beteiligungsraten in Bürgerhaushalten, Frauenanteile in Führungsgremien liefern harte Anker. Sie machen sichtbar, ob Versprechen Ergebnisse erzeugen. Doch Zahlen brauchen Erzählungen. Sie sagen wenig über Würde, Erleben, Vertrauen, Konflikte. Erzählen ohne Zahlen verführt zur Projektion. Zahlen ohne Erzählen entmenschlichen. Dieses Buch hält beides zusammen. Jede Fallstudie beginnt in einem Raum mit Menschen, dann kommen Institutionen und Indikatoren, dann die Kritik. Damit schaffen wir Vergleichbarkeit ohne Dogma.

Kritische Linien Bevormundung, Bürokratie, Korruption, Trittbrett

Linke Praxis ist nicht frei von Risiken. Bevormundung droht, wenn Schutzrechte in Detailregelung ersticken und Menschen Autonomie verlieren. Bürokratie droht, wenn Kontrolle Selbstzweck wird und Verfahren jene ausschließen, die keine Zeit und keine Sprache für Formulare haben. Korruption droht, wo Macht konzentriert und Rechenschaft schwach ist gemeinnützig ebenso wie staatlich oder privat. Trittbrettfahren droht, wenn starke Systeme Leistung nicht mehr honorieren und Vertrauen erodiert. Diese Risiken sind real. Sie sind kein Argument gegen das Projekt, sondern für sein gutes Design. Transparenz, Einfachheit, Beteiligung, unabhängige Kontrolle, Zeitlimits, Evaluation, offene Daten und Just Culture sind Gegenmittel, die in diesem Buch immer wieder auftauchen. Orte, die gelernt haben, sich selbst zu korrigieren, halten länger.

Globaler Süden, globaler Norden unterschiedliche Ausgangslagen, gemeinsame Maßstäbe

Ein Vergleich zwischen Wien und Rojava, zwischen Uruguay und Kerala, zwischen Christiania und Marinaleda verlangt Respekt vor Ausgangslagen. Koloniale Geschichte, Kriege, Schulden, Demografie, Geografie, Klima, Infrastrukturstand, Staatlichkeit, Rechtsrahmen, Kapitalzugänge, Migration all das bestimmt, was möglich ist. Daraus folgt, dass wir keine identischen Ergebnisse fordern, sondern identische Fragen stellen. Schafft die Politik reale Freiheit. Senkt sie Risiken. Teilt sie Macht. Korrigiert sie strukturelle Ungleichheit. Schützt sie Natur und Klima. Baut sie Institutionen, die lernen. Die Wege sind unterschiedlich, der Prüfstein ist derselbe.

Die Arbeitsdefinition für dieses Buch

Links bezeichnet in diesem Buch die politisch institutionalisierte Praxis, Freiheit als reale Option für alle herzustellen, indem Ungleichheiten verringert, Gemeingüter geschützt, öffentliche Infrastrukturen gestärkt, Arbeit fair organisiert, Macht geteilt und ökologische Grenzen respektiert werden. Sie ist erzählbar, weil sie im Alltag spürbar wird, und messbar, weil sie Ergebnisse erzeugt, die sich prüfen lassen. Sie ist offen für Kritik und verpflichtet auf Korrektur. Sie bevorzugt keine soziale Gruppe, sondern priorisiert Verwundbare, weil daran die Qualität einer Ordnung sichtbar wird. Sie misstraut Heilsversprechen und vertraut auf Verfahren. Sie sucht nicht den vollkommenen Ort, sondern die beste Kombination von Bausteinen.

Mit dieser Definition im Gepäck lässt sich die Reise beginnen. In den folgenden Kapiteln betreten wir Orte, an denen einzelne Achsen besonders tragfähig ausgeprägt sind. Wir sehen Wien, wo Wohnen eine andere Bedeutung bekommt, wenn die Stadt baut, besitzt und reguliert. Wir sehen Barcelona, wo digitale Gemeingüter mit Kommunalismus zusammentreffen. Wir sehen Mondragón, wo Industrie demokratisch organisiert ist und Risiken geteilt werden. Wir sehen Marinaleda, wo ein Dorf Vollbeschäftigung zur Praxis gemacht hat. Wir sehen Christiania, wo eine Stadtgemeinschaft Konsens versucht und Konflikte nicht verdrängt. Wir sehen Porto Alegre als Ursprung partizipativer Haushalte, Kerala als Beispiel geplanter Teilhabe, die Zapatistas als Schule der Autonomie, Rojava als gewagte Institution der Parität im Krieg, Uruguay als leisen, verlässlichen Sozialstaat und Kuba als Versprechen auf Versorgung mit seinen Spannungen. Überall gilt dieselbe Frage. Was bleibt im Alltag. Was lässt sich zählen. Was lässt sich erzählen. Und was lässt sich übertragen, ohne den Kontext zu verraten.

Am Ende dieses Kapitels steht eine Einladung. Leserinnen und Leser sind keine Zuschauer. Wer studiert, findet Begriffe, die man in Hausarbeiten nicht nur gebrauchen, sondern prüfen kann. Wer organisiert, findet Instrumente, die man beantragen, verhandeln, verteidigen muss. Wer verwaltet, findet Reihenfolgen, die Budgets und Kapazitäten ernst nehmen. Wer politisch entscheidet, findet Messlatten, die Versprechen binden. Wer einfach wissen will, wie ein gutes Leben gemeinsam organisiert werden kann, findet Orte, an denen Menschen das versuchen. Links ist in dieser Arbeitsdefinition kein Kampfruf, sondern ein Angebot an die Wirklichkeit. Es will liefern. Und es lässt sich daran messen, was es liefert.

Kapitel 2 Der Maßstab – Kriterien, Daten und blinde Flecken

Wozu ein Maßstab, wenn wir Geschichten erzählen?

Erzählungen machen Politik sichtbar, aber ohne Maßstab bleiben sie Behauptung. Dieses Kapitel legt offen, wie wir „links“ mess- und vergleichbar machen, ohne die Vielfalt der Orte zu verflachen. Es beschreibt die Achsen, entlang derer wir prüfen; die Indikatoren, mit denen wir beobachten; die Verfahren, mit denen wir Zahlen lesbar machen; und die blinden Flecken, die wir bewusst markieren. Ziel ist kein Schönheitswettbewerb, sondern ein belastbarer Rahmen, der Vergleiche ermöglicht, ohne Kontext zu verschlucken.

Sieben Achsen – vom Wert zur Beobachtung Im ersten Kapitel haben wir die sieben Achsen benannt, auf denen linke Praxis Kontur bekommt: Umverteilung, öffentliche Infrastruktur, Arbeit, Teilhabe, Gleichstellung, Gemeingüter, Ökologie. Hier operationalisieren wir sie. „Operationalisieren“ heißt: wir definieren, was als beobachtbares Zeichen gilt, dass ein Ort auf einer Achse tragfähig aufgestellt ist. Wir arbeiten mit Kennziffern, die international üblich sind, und mit Beobachtungen aus dem Feld, die Zahlen erden. Wichtig ist die Richtung: Auf jeder Achse fragen wir, ob Politik reale Freiheit schafft, Risiken senkt, Macht teilt und ökologische Grenzen respektiert.

Umverteilung – wer trägt wen, wie zuverlässig, wie fair?

Messlogik: Anteil sozialer Ausgaben an der Wirtschaftsleistung, Progression und Effekt der Steuern nach Haushaltsgruppen, Armutsquote vor und nach Transfers, Einkommensmobilität über Generationen. Ergänzend: Verlässlichkeit der Auszahlungssysteme, Zugänglichkeit ohne Stigmatisierung, administrative Fehlerquoten. Fallstricke: Hohe Ausgaben sind nicht automatisch hohe Wirkung; entscheidend ist, ob Transfers Armut tatsächlich mindern und Chancen öffnen.

Öffentliche Infrastruktur – Netze als Freiheit

Messlogik: Dichte und Erreichbarkeit von Schulen, Kitas, Gesundheitszentren, ÖPNV-Takt, bezahlbarer Wohnungsbestand, Wartezeiten im Gesundheitssystem, Breitbandabdeckung, durchschnittliche Mietbelastungsquote. Ergänzend: Zustand (Instandhaltung), Barrierefreiheit, Nutzerkosten. Fallstricke: Investitionen werden gern gezählt, Betrieb und Pflege seltener; wir gewichten Zuverlässigkeit mindestens so hoch wie Neubau.

Arbeit – Einkommen, Sicherheit und Stimme

Messlogik: Tarifbindung, Gewerkschaftsdichte, Reallohnentwicklung im unteren und mittleren Dezil, Anteil prekärer Beschäftigung, Mindestlohn relativ zum Medianlohn, Arbeitsunfallrate, Weiterbildungszugang, betriebliche Mitbestimmung. Ergänzend: Verfahrensgerechtigkeit in Arbeitskonflikten, Reichweite von Kooperativen. Fallstricke: Niedrige Arbeitslosigkeit kann auf Verdrängung in informelle Segmente beruhen; deshalb betrachten wir Qualität der Arbeit, nicht nur Quantität.

Teilhabe – wie wird entschieden, wer gehört wird

Messlogik: Existenz verbindlicher Beteiligungsverfahren (z. B. Bürgerhaushalt mit Budgethoheit), Teilnahmequoten über soziale Gruppen hinweg, Rückkopplung der Ergebnisse (Umsetzungsrate), Transparenz von Budget- und Beschaffungsdaten. Ergänzend: Dichte lokaler Versammlungen, Rechenschaftsformate, Ombudsstellen. Fallstricke: Beteiligung als Show („Consultation without teeth“); wir prüfen Bindungsgrad und Umsetzung, nicht die Zahl der Workshops.

Gleichstellung – von der Norm zur Normalität

Messlogik: Lohnlücke nach Geschlecht und Herkunft, Frauen- und Minderheitenanteile in Führungsfunktionen, Gewalt- und Schutzindikatoren, Kinderbetreuungsquote, rechtlicher Status von LGBTQ+-Personen, Antidiskriminierung mit Durchsetzung. Ergänzend: Repräsentation in Gremien (Quoten, Doppelspitzen), Verfügbarkeit niederschwelliger Rechtsdurchsetzung. Fallstricke: Reine Rechtslage ohne Praxisbelege; wir koppeln Norm und gelebte Wirkung.

Gemeingüter – was gehört allen, wer verwaltet es?

Messlogik: Öffentlicher/kooperativer Anteil an Wohnen, Wasser, Energie, Anteil frei lizenzierter Wissensgüter, Open-Data-Praxis, Bodenvorratspolitik, Zugangspreise zu Basisdiensten. Ergänzend: Governance-Qualität öffentlicher Unternehmen, Schutz vor Monopolisierung, Transparenz in Konzessionen. Fallstricke: „Öffentlich“ ist nicht automatisch gut; wir prüfen Leistung, Rechenschaft, Effizienz und Korruptionsresistenz.

Ökologie – Gerechtigkeit in langen Zeiträumen

Messlogik: Emissionen pro Kopf und deren Trend, Energie-Mix, Sanierungsrate im Gebäudebestand, ÖPNV- und Radmodalanteil, Flächenverbrauch, Wasserqualität, Biodiversitätsindikatoren. Ergänzend: „Just Transition“ – Unterstützung für Haushalte mit niedrigen Einkommen bei der Umstellung, Arbeitsmarktpfade für betroffene Branchen. Fallstricke: Export von Emissionen; wir berücksichtigen konsumbezogene Emissionen, wo möglich.

Indikatoren ohne Fetisch – wie wir mit Zahlen arbeiten

Zahlen sind Landkarten, nicht Gelände. Deshalb normalisieren wir Werte, um Äpfel nicht mit Birnen zu verwechseln: pro Kopf, pro Haushalt, kaufkraftbereinigt, als Anteil am Median, im Trend über fünf bis zehn Jahre statt Momentaufnahme. Wo nur unterschiedliche Ebenen vorliegen – Stadt, Region, Staat –, wählen wir ein „Nested Reading“: Wir beschreiben die Leistung des Ortes, verorten ihn in seinem übergeordneten Rahmen und sagen, was lokal beeinflusst ist und was nicht.

Vom Bündel zur Aussage – Profile statt Rangliste

Wir bauen keine „Krone des Linkesten“. Stattdessen ordnen wir Orte in Profile. Ein „Wien-Profil“ würde z. B. in Infrastruktur/Wohnen sehr stark, in Emissionen mittel, in Beteiligung solide abschneiden. Ein „Rojava-Profil“ wäre außergewöhnlich in Gleichstellung/Teilhabe unter Kriegsbedingungen, aber fragil in Infrastruktur. Diese Profile verhindern falsche Eindeutigkeit. Um Orientierung zu erleichtern, verwenden wir drei Aggregationsschritte: erstens Z-Scores oder Perzentile je Indikator, zweitens Achsenmittel mit Gewichtung, drittens ein Spinnendiagramm mit Unsicherheitsband. Gewichte setzen wir grundsätzlich gleich an, zeigen aber in Sensitivitätsanalysen, wie Aussagen kippen, wenn man Schwerpunkte setzt (z. B. Klima doppelt zählt).

Zeit – die unterschätzte Dimension

Gute Politik braucht Vorlauf, schlechte wirkt manchmal sofort. Wir arbeiten deshalb mit Zeitfenstern und Verzugsannahmen: Bildungsreformen messen wir über Kohorten, Wohnpolitik über Fertigstellungen und Mietbelastungsquoten, Arbeitsreformen über mittlere Lohnentwicklung, Klimapolitik über zehnjährige Trendlinien. Wo ein Ort krisenbedingt abstürzt oder boomt, markieren wir Schocks und trennen Politikvon Konjunktureffekt, so gut es geht.

Skala – Land, Region, Stadt, Stadtteil

Ein Nationalstaat kann umverteilen, eine Kommune vor allem organisieren. Wir schreiben das offen dazu. Für Städte bilden wir „Einzugsraum-Indikatoren“ mit Pendlergürteln, damit Sozial- und Wohnlasten nicht künstlich verlagert wirken. Bei Regionen mit Sonderstatus vermerken wir fiskalische Abhängigkeiten. Bei autonomen Gebieten und Kommunen prüfen wir, welche Hebel tatsächlich lokal liegen und welche nur durch Gewohnheitsrecht getragen werden.

Gutehart lässt grüßen – wenn die Kennzahl das Ziel frisst

Sobald eine Kennzahl zur Zielvorgabe wird, wird sie manipulierbar. Wir begegnen dem mit drei Regeln: Erstens Redundanz – nie nur eine Zahl, immer ein Bündel. Zweitens Gegenindikatoren – zu kurzer Wartezeit im Krankenhaus gehört die Komplikationsrate. Drittens Realitätsproben – Feldbeobachtung, Interviews, Dokumentenstudien zur Umsetzungspraxis.

Triangulation – drei Arten von Wissen