Chefarzt Dr. Holl 1860 - Katrin Kastell - E-Book

Chefarzt Dr. Holl 1860 E-Book

Katrin Kastell

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Beschreibung

Einer fehlt am Tisch
Arztroman um ein trauriges Geheimnis
Von Katrin Kastell

Miriam Ahrendt scheint ein Traumleben zu führen und wird allseits beneidet. Als Innenausstatterin hat sie sich mit einem Laden selbstständig gemacht, und ihre verspielten, Gemütlichkeit verbreitenden Designs begeistern die Kunden.
Als dann noch der sympathische Chaot Tim in ihren Laden stolpert und ihr buchstäblich vor die Füße fällt, scheint Miriams Glück perfekt: Tim ist Restaurator, bereitet alte Möbel, wie Miriam sie liebt, liebevoll auf, und nicht nur beruflich sind die beiden wie füreinander gemacht.
Sie genießen den Frühling, ziehen Hand in Hand über Flohmärkte, und Tim schmiedet Pläne. Doch immer, wenn er von einer Familie träumt, reagiert Miriam ganz panisch. Warum?
Tim ahnt, dass Unerträgliches seine Liebste quält. Was das ist, muss er herausfinden ...

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Inhalt

Cover

Impressum

Einer fehlt am Tisch

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Paul Bradbury / iStockphoto

eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar

ISBN 9-783-7325-7939-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Einer fehlt am Tisch

Arztroman um ein trauriges Geheimnis

Von Katrin Kastell

Miriam Ahrendt scheint ein Traumleben zu führen und wird allseits beneidet. Als Innenausstatterin hat sie sich mit einem Laden selbstständig gemacht, und ihre verspielten, Gemütlichkeit verbreitenden Designs begeistern die Kunden.

Als dann noch der sympathische Chaot Tim in ihren Laden stolpert und ihr buchstäblich vor die Füße fällt, scheint Miriams Glück perfekt: Tim ist Restaurator, bereitet alte Möbel, wie Miriam sie liebt, liebevoll auf, und nicht nur beruflich sind die beiden wie füreinander gemacht.

Sie genießen den Frühling, ziehen Hand in Hand über Flohmärkte, und Tim schmiedet Pläne. Doch immer, wenn er von einer Familie träumt, reagiert Miriam ganz panisch. Warum?

Tim ahnt, dass Unerträgliches seine Liebste quält. Was das ist, muss er herausfinden …

„Ich bin hin und weg, liebe Frau Ahrendt. Einfach hin und weg.“ Verzückt streckte die Kundin die Hand aus, um rasch noch einmal über das blau schillernde Glas der Tischvase zu streicheln, ehe Miriam das Stück für sie in schützende Noppenfolie wickelte. „Sie haben mich ganz wunderbar beraten. Fast kommt es mir vor, als hätten Sie besser gewusst, was mir vorschwebte, als ich selbst.“

„Dafür bin ich ja da“, erwiderte Miriam lachend. „Zu erraten, was den Kunden vorschwebt, ist mein Beruf.“

Als die Vase sicher verpackt war, stellte sie sie in eine Papiertüte mit der verschnörkelten Aufschrift „Fundgrübchen“. Das war der Name ihres kleinen Geschäfts für Innenausstattungen. Auf die Idee war ihr Vater gekommen.

„Es passt einfach zu diesem wundervoll verspielten Schnickschnack, den du immer wieder auftreibst und den man nur bei dir bekommt“, hatte er gesagt. „Und außerdem bist du doch selbst unser Fundgrübchen, wie jeder Kunde auf den ersten Blick erkennen wird.“

Damit spielte er auf die beiden Grübchen an, die sich in Miriams Wangen abzeichneten, wann immer sie lächelte. Hatte sie seiner Ansicht nach allzu lange nicht gelächelt, tippte er ihr mit den Fingern an die Stellen und fragte sie mit hochgezogenen Brauen, wo sie denn geblieben oder ob sie ausgewandert seien.

Bis vor einem knappen Jahr war Miriam überzeugt gewesen, ihre Grübchen wären tatsächlich ausgewandert und würden sich auch nicht mehr blicken lassen. Dann aber hatte ihre Mutter bei einem ihrer berüchtigten Einkaufsbummel in einer stillen Seitenstraße nicht weit vom Englischen Garten eine leer stehende Kneipe entdeckt.

„Das ist doch wie gemacht für deinen Traum vom eigenen Laden!“, hatte sie befunden und ihre Tochter geradezu genötigt, den Mietvertrag zu unterschreiben.

Tags darauf hatte ihre komplette Familie bereits begonnen, das heruntergekommene Lokal zu renovieren, und während rings um sie ihr kleines Paradies für Sammler und Liebhaber entstanden war, waren Miriams ausgewanderte Grübchen klammheimlich zurückgekehrt.

Im Geschäft kam sie schließlich nicht umhin, viel zu lächeln, denn ihre Kunden hatten Freundlichkeit verdient. Anfangs war es ihr schwergefallen, doch mit jedem Tag wurde es leichter. Ihre Mutter hatte recht behalten: Die Arbeit war Balsam für Miriam. Sie liebte den kleinen Laden und mochte die Leute gern, die ihr Erspartes ausgaben, um sich ein kleines Stück Schönheit für ihr Zuhause zu gönnen.

Natürlich gab es auch die andere Sorte – selbst ernannte Kunstkenner, die über Miriams Sammelsurium die Nase rümpften und sich beklagten, dass sie diesen oder jenen angesagten Marken-Designer nicht führte.

Miriam aber ließ sich von ihrer Linie nicht abbringen. Jedes Stück, das sie in ihrem Geschäft anbot, war eigenhändig ausgewählt. Sie kaufte bevorzugt bei unabhängigen Kunsthandwerkern und kleinen Familienbetrieben ein und stellte sich zu jedem Gegenstand einen Menschen vor, der sich daran erfreuen würde.

Die meisten Kunden wussten ihre Sorgfalt zu schätzen.

Die Dame, die vor ihr stand und im Alter ihrer Großmutter sein musste, gehörte ohne Zweifel zu ihnen. Sie war ein wenig unsicher hereingekommen, weil sie befürchtet hatte, ihr Geld würde für ein Stück aus Miriams Kollektion nicht reichen.

Jetzt hingegen leuchtete ihr die Freude aus den Augen, und sie wirkte um Jahre verjüngt. Die neue Vase sollte ihr allzu nüchternes Zimmer im Seniorenwohnheim ein wenig verschönern.

„Ich freue mich, dass Sie zufrieden sind“, sagte Miriam und hielt der Kundin die Tüte mit der Vase entgegen.

„Zufrieden ist gar kein Ausdruck.“ Freudestrahlend nahm die alte Dame ihren Einkauf entgegen. „Sie haben sich mit mir so viel Mühe gegeben, obwohl Sie doch wussten, dass Sie kein großes Geschäft dabei machen würden.“

„Und ob ich ein großes Geschäft gemacht habe“, erwiderte Miriam. „Einer meiner Pfleglinge hat ein neues Zuhause gefunden, kommt in gute Hände, wird geschätzt und geliebt. Das ist es, was ich mir für jedes von diesen Kunstwerken wünsche. Sie sind etwas Besonderes, haben eine Geschichte, für mich haben sie sogar ein Eigenleben. Und wenn jemand sein Herz für eins von ihnen entdeckt, ist das für mich das beste Geschäft, das ich machen kann, egal, ob fünfzehn oder fünfhundert Euro in der Kasse klingeln.“

„Das haben Sie schön gesagt“, bekundete die alte Dame gedankenverloren. „Beinahe als würden Sie von Ihren Kindern sprechen.“

Miriam versuchte zu lachen, doch der heitere Laut blieb ihr in der Kehle stecken.

„Ich habe keine“, beeilte sie sich zu erklären. „Und das ist auch besser so. Der Laden würde mir für Ehe und Familie gar nicht genug Zeit lassen.“

„Aber eine so liebenswerte junge Frau wie Sie …“, begann die Kundin, brach dann jedoch ab. Offenbar war sie feinfühlig genug, um zu begreifen, dass sie Miriam mit jeder weiteren Frage zu nahe getreten wäre. „Ich bin jedenfalls dankbar, dass Sie sich für mich so viel Zeit genommen haben“, erklärte sie stattdessen. „Heute Abend werde ich meine blaue Vase anschauen und mich in meinem kleinen Zimmer nicht mehr ganz so verloren fühlen. Als hätte ich einen Gefährten, auch wenn es nur ein Gegenstand ist.“

Miriam wusste, wovon die andere sprach. Sie kannte das Gefühl selbst nur zu gut. Gegenstände konnten keinen Menschen ersetzen, aber sie erfüllten eine einsame Wohnung mit ein wenig Leben.

Die Kundin verabschiedete sich, und Miriam beschloss, das Schild „Mittagspause“ an die Tür zu hängen und sich dem köstlichen Falafel-Wrap zu widmen, den ihre Cousine Antje ihr vorhin aus dem „Marrakesch“ mitgebracht hatte.

„Pausen-Snack vom Meisterkoch“, hatte sie gesagt. „Damit du uns vor lauter Arbeit nicht vom Fleisch fällst.“ Dem marokkanischen Imbiss um die Ecke, dessen Inhaber Achmed sämtliche Speisen nach alten Familienrezepten zubereitete, konnte keine der Cousinen widerstehen.

Antje war sieben Jahre älter als Miriam. Dennoch waren die beiden Mädchen, die keine echten Geschwister hatten, aufgewachsen wie Schwestern. Überhaupt hatte ihre Familie etwas von dem dicht verwebten Wandteppich, der über dem Ladentisch hing. Alle Mitglieder waren unzertrennlich miteinander verbunden, und hätte man an einem Ende ein Fädchen herausgezogen, so hätte sich das ganze farbenprächtige Gebilde aufgelöst.

Miriam musste an Thorsten denken. Er hatte seine Familie höchstens zu Weihnachten kurz besucht, wenn es sich nicht hatte vermeiden lassen.

„Geht dir diese enge Bindung zu deinen Leuten nicht manchmal auf die Nerven?“, hatte er gestöhnt, als wieder einmal eine Familienfeier angestanden hatte, auf der Miriam auf gar keinen Fall fehlen wollte.

Die Ahrendts waren alles andere als Kinder von Traurigkeit und fanden immer einen Anlass zu feiern. Gemeinsam, versteht sich. Die Kälte und Distanz, mit der Thorstens Verwandte miteinander umgingen, hatte Miriam kaum begreifen können. Sie hatte Thorsten dafür bedauert.

Ihn aber hatte die Herzlichkeit, mit der ihre Familie ihn aufgenommen hatte, befremdet.

„Ich kann damit nicht umgehen, Miri“, hatte er gesagt. „Sicher, deine Leute sind nett, und dass sie uns die Anzahlung für die Wohnung vorstrecken, ist erste Sahne. Aber ich komme mir bei ihnen vor, als wäre ich unter einen Haufen hungriger Raupen gefallen und müsste nur darauf warten, dass sie mich auffressen.“

Miriam schüttelte die Erinnerung ab. Gedanken an Thorsten waren das Letzte, was sie jetzt, wo sie sich mit Appetit ihrem Mittagsimbiss widmen wollte, gebrauchen konnte.

Sie wickelte den Falafel-Wrap aus dem Papier und sog das betörende Aroma der Gewürze ein, das daraus aufstieg – Ingwer, Kardamom, Kümmel, frischer Koriander und ein zarter Hauch von Zimt.

„Irgendwann machen wir drei mal eine Frauenreise nach Marokko“, pflegte Antje zu versprechen, wenn sie zusammen im „Marrakesch“ saßen und Achmed ihnen nicht nur von den kulinarischen Schönheiten seiner Heimat vorschwärmte.

„Wir drei“, das waren Antje, Miriam und Nele, Antjes fünfzehnjährige Tochter und Miriams Patenkind.

Miriam liebte sie wie eine eigene Tochter. Gerade jetzt, wo Nele in das Alter kam, in dem junge Mädchen rebellierten und im Verhältnis zu ihren Müttern keineswegs eitel Sonnenschein herrschte, trat sie, die gewissermaßen zwischen den Generationen stand, häufig als Vermittlerin auf.

„Du bist die beste Patentante aller Zeiten“, lautete Neles Urteil.

Eine schönere Anerkennung hätte sich Miriam nicht wünschen können. Auch wenn hinter der Freude ein Schmerz lauerte.

Sie war dankbar dafür, dass Antje und Nele sie so liebevoll in ihr Familienleben einbezogen, aber sie wusste und verstand, dass die beiden einen solchen Traumurlaub nicht mit ihr verbringen würden. Hätten sie es sich leisten können, so wären sie mit Volker nach Marokko gefahren, Antjes großer Liebe seit dem Sandkasten und Neles angehimmeltem „Vatchen“.

Miriam gönnte Antje ihr Familienglück von Herzen. Daran, dass ihr selbst dergleichen nie vergönnt sein würde, war schließlich nicht ihre Cousine schuld.

***

Entschlossen tauchte Miriam ihren Wrap in die Schale mit Hummus, einen cremigen Dip aus Kichererbsen, der nirgendwo, nicht einmal in Marrakesch selbst, so gut schmecken konnte wie bei Achmed in München.

Sie wollte gerade den Mund öffnen und genussvoll in die Delikatesse beißen, als ihr einfiel, dass sie vergessen hatte, den Riegel vor die Tür zu schieben. Auch das Schild mit der Aufschrift „Mittagspause“ hatte sie nicht wie geplant nach draußen gehängt.

Als sie aufsprang, um das Versäumte nachzuholen, war es in zweifacher Hinsicht zu spät. Erstens war die Versuchung allzu groß gewesen. Herzhaft hatte sie in den Wrap gebissen und spürte nun, wie cremiges Hummus sich rund um ihre Lippen verteilte. Zweitens läutete die Ladenglocke.

Miriam konnte ihr Mittagessen gar nicht so schnell auf dem Ladentisch niederlegen, wie ihr nächster Kunde – ein junger Mann mit wirrem blondem Haarschopf – in ihr Geschäft stolperte. Mit ihm wehte ein Schwall kühlen Februarwindes in den Laden, der jedoch schon eine Ahnung vom Frühling in sich trug.

Der Mann stolperte buchstäblich. Die Tür musste er mit dem Ellbogen aufgeklinkt haben, denn in beiden Händen hielt er ein zierliches Tischchen aus Rosenholz.

Beim Anblick des Möbelstücks schlug Miriams Herz schneller. Fuß und Bein des Tischchens waren mit geschnitzten Trauben und Reben verziert, die sich in der Einlegearbeit auf der Platte wiederholten. Es war ein wunderschönes Stück, wie man es selten zu sehen bekam. Ihren verschmierten Mund vergaß sie darüber.

Der junge Mann dagegen vergaß wohl, über das Tischchen hinweg zu sehen, wohin er trat. Somit entging ihm die Stufe, die hinunter in den Laden führte. Er strauchelte, schaffte es nicht, sein Gleichgewicht wiederzufinden, und schlug der Länge nach hin.

Mit einem Satz war Miriam bei ihm und fing das Tischchen auf, ehe die filigrane Schnitzarbeit beschädigt werden konnte. Dann erst fiel ihr siedend heiß ein, wie sie aussehen musste. Um sich aber den Mund abzuwischen, war es nun so oder so zu spät.

Der Kunde lag zu ihren Füßen ausgestreckt. Hatte er sich verletzt? Miriam verspürte Gewissensbisse, weil sie sich zwar um das Möbelstück, nicht aber um ihn gekümmert hatte.

„Haben Sie sich wehgetan?“, fragte sie besorgt. „Es tut mir leid, ich hätte ein Warnschild wegen dieser Stufe anbringen sollen.“

„Ja, und darauf hätten Sie schreiben sollen: Augen auf hilft beim Sehen.“

Aus seiner misslichen Lage blickte der junge Mann auf und Miriam geradewegs ins Gesicht. Ihr Herz vollführte einen Satz. Er hatte ohne Zweifel die grünsten Augen, die sie je bei einem Menschen gesehen hatte. Augen, die sie an den tschechischen Stausee erinnerten, an dem sie mit ihrer Familie unvergessliche Sommer verbracht hatte. An der funkelnden Wasseroberfläche hatte sich Miriam nicht sattsehen können, und genauso funkelten die Augen des Fremden.

Ein Schalk blitzte darin, und sein Lächeln hatte etwas Verschmitztes wie bei einem kleinen Jungen.

„Soweit ich es beurteilen kann, sitzen meine Knochen alle noch halbwegs in den Halterungen, in die sie gehören. Eher hätte ich mir um Leonardo Sorgen gemacht. Vielen Dank, dass Sie ihn gerettet haben.“

„Leonardo?“, fragte Miriam perplex.

Mit einem Kopfnicken wies der junge Mann auf das Tischchen.

„Bitte verzeihen Sie. Eine Art Berufskrankheit. Ich bin Restaurator und gebe sämtlichen Dingen, die ich bearbeite, Namen. Damit ich sie ansprechen kann und sie sich nicht fürchten, wenn ich mit der Feile komme. Sie dürfen ruhig lachen.“

Miriam lachte nicht. Ihr Blick hing den grünen Augen fest.

„Gestatten Sie, dass der verdrehte Kerl mit den zwei linken Füßen sich vorstellt?“, fragte er, noch immer lang vor ihr hingestreckt und strahlend lächelnd. „Ich bin Tim Landgrebe. Ich habe meine Werkstatt nur zwei Straßen weiter und bin auf der Suche nach einer Lampe, die zu meinem Leonardo passt. Sie sind mir wärmstens empfohlen worden.“

***

Ein Schritt, und es war um ihn geschehen gewesen. Buchstäblich. Wieder einmal war Tim über seine eigenen Füße gestolpert und bäuchlings vor der Frau gelandet, die ihm sein Freund Sigi Meerbaum als „die kommende Innenausstatterin Münchens“ empfohlen hatte. Jedenfalls glaubte er, dass er diese vor sich hatte. Mit Sicherheit konnte er nur sagen, dass sich ihr Anblick in sein Herz brannte, aus dem es nie wieder auszulöschen sein würde.

Mit hundertprozentiger Sicherheit.

Gab es Menschen, die an die Liebe auf den ersten Blick nicht glaubten?

Dann waren sie noch nie einer Frau mit dunklem Pagenschnitt, perfekt herzförmigem Gesicht und den weltschönsten rehbraunen Augen begegnet, die mit einem Hechtsprung einen Florentiner Beistelltisch vor dem Zerschellen bewahrt hatte. Sie waren noch nie einer Frau begegnet, die Lippen wie eine sich gerade öffnende Rosenknospe hatte – rundherum mit cremigem Hummus beschmiert.

Manche Leute behaupteten, in den Sekunden vor dem Eintritt des Todes zöge das Leben noch einmal an einem Menschen vorbei. Aber das war nicht richtig. Es waren die Sekunden vor dem Eintritt der Liebe, in denen es an einem vorbeizog, und es enthüllte nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft. All das Glück, das ihn mit dieser Frau erwartete, glaubte Tim in jener Handvoll von Sekunden vor sich zu sehen.

Er sah sich Hand in Hand mit ihr durch den Englischen Garten laufen und im Frühlingswind lachen, sah sie eine Reisetasche und einen Picknickkorb auf den Rücksitz seines uralten Kleinwagens hieven, ehe er sich aufmachte, ihr sein geliebtes Florenz zu zeigen. Er sah sich in einer Gondel in Venedig, wo er sie auf Knien bat, seine Frau zu werden, und hörte ihr glückliches „Ja“, das über den Canale Grande hallte.

Er sah sie in strahlendem Weiß auf einer Kirchentreppe und gleich darauf sie beide, Wange an Wange über die Wiege ihres Kindes gebeugt. Der Traum, den er so lange im Verborgenen geträumt hatte, schien auf einmal konkrete Gestalt annehmen.

Er sah sie gemeinsam ihr Kind auf seinem ersten Schultag begleiten, sah, wie aus dem Kind eine ganze Kinderschar wurde, und stand voller Stolz neben seiner schönen Frau in einer Aula, in der ihr Erstgeborenes seinen Schulabschluss erhielt. In ihren Augenwinkeln bildeten feine Lachfältchen das einzige Zeichen der verstrichenen Jahre.

Erst als er sich Hand in Hand mit ihr auf einem Sofa sitzen sah und Enkelkinder sie johlend umtanzten, gebot er sich Einhalt.

„Und Sie?“, fragte er. „Miriam Ahrendt, liege ich damit richtig?“

„Woher kennen Sie meinen Namen?“ Erschrocken wischte sie sich über die Lippen, was jedoch das Hummus nicht beseitigte, sondern nur über ihre Wangen verteilte.

„Ich bin nicht der Einzige, der ihn kennt“, erwiderte er, ohne sich von dem Blick ihrer schönen Augen lösen zu können. „In unserem Viertel sind Sie und Ihr ‚Fundgrübchen’ bereits so etwas wie eine Berühmtheit geworden. Der Name ist übrigens entzückend.“

Genau wie Sie, hätte er um ein Haar hinzugefügt, doch im letzten Moment verkniff er es sich.