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Nach ihrer Entführung kommen Fenrirs Erinnerungen an ihr altes Leben endlich zurück. Allerdings vertraut der Schamane und ihr bester Freund ihr nicht mehr. Geschweige denn die anderen im Dorf, in dem Fenrir lange Zeit gelebt hatte. Es hat sich einiges verändert, was sie nicht nur traurig macht, sondern auch erschüttert. Sie möchte wieder bei ihnen leben und beweisen, dass sie es würdig ist, ein Teil der Familie zu sein. Wird es ihr gelingen, den Schamanen zu überzeugen und wieder integriert zu werden?
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Impressum
Autor: Jadelyn Aurora & Kaya Hetalia
Herausgeber: Sabrina Nieminen
Tupamäentie 20
41800 Korpilahti
-Finnland-
Covergestaltung: Unter Verwendung von Shutter-stock-Motiven
Herstellung und Vertrieb:
tolino media GmbH & Co. KG, München
Erschienen 2023 im Selbstverlag
Ab der 2. Auflage liegen die Rechte bei Jadelyn Aurora
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
„Bleib weg, du Monster!“, rief eine elegant aussehende Frau aufgebracht und beeilte sich, davonzulaufen.
Diese harten Worte hallten dank dem leichten Wind durch die Nacht und den Wald. Das Rascheln der Blätter rückte in den Hintergrund, als Rina ihre Mutter in der Dunkelheit verschwinden sah.
„Du Monster?“, fragte sie traurig und geschockt. Einen Moment lang starrte Rina auf den Punkt, an dem sie ihre Mutter das letzte Mal gesehen hatte und warf dann dem Schamanen, der ihr die Fähigkeit gegeben hatte zu sehen, einen hilfesuchenden Blick zu. Der Mann mit dem graubraunem Bart und ebenso farbigen Haaren wirkte mit seinem faltigen Gesicht alt.
„Warum sagt sie Monster zu mir?“, wollte sie mit zitternder, fast weinender Stimme wissen.
Sanft und in einer Geste, die beschützend wirkte, legte er ihr eine Hand auf den Rücken. „Sie ist eine dumme Frau, wenn sie dich Monster nennt“, sagte er mit rauer, leicht rasselnder Stimme. „Du bist besonders und wertvoll.“
Als Rina zu ihm hochsah, erkannte sie schwarze Augen, die tief in den Augenhöhlen lagen. Seine Erscheinung war irgendwie gruselig, aber der Mann war nett. „Aber sie ist doch meine Mutter“, sagte sie unschlüssig. Behandelten Eltern ein Kind plötzlich so? „Hilfst du mir, sie zu finden?“
Der fremde Mann nickte. „Komm, wir gehen ihr hinterher“, sagte er sanft und reichte ihr die Hand. Er war bereit, ihrer Mutter zu folgen, um Rinas Vertrauen zu gewinnen, allerdings glaubte er nicht, dass diese das Mädchen wiederhaben wollte.
Vertrauensvoll nahm Rina seine raue, wohl vom harten Arbeiten gezeichnete, Hand und drückte sich sogar leicht an ihn. Die Situation, plötzlich sehen zu können, überforderte sie und sie verstand gar nicht, dass sie selbst in der Dunkelheit recht gut sehen konnte. Ihre Mutter hatte stets gesagt, dass man nichts sehen konnte, wenn kein Licht an war. „Danke, dass du mir hilfst und ich endlich sehen kann“, sagte sie zögernd, denn es war nur höflich, sich zu bedanken. Das hatte man ihr beigebracht.
Rina sah sich um. Es war beängstigend, plötzlich so viele Umrisse sehen zu können. Sie hatte zwar immer erklärt bekommen, wie die Dinge auszusehen hatten, doch es war das erste Mal, dass sie diese wirklich wahrnahm. Waren das wirklich Bäume?
Sie bewegte sich und spürte, dass es sich seltsam anfühlte. Als wäre ihr Gleichgewichtssinn plötzlich ganz anders.
Der fremde Mann, den ihre Mutter als Schamane bezeichnet hatte, hielt sie, damit sie nicht fiel, während sie gemeinsam und langsam durch das Unterholz gingen.
Schweigend und mit einer Gänsehaut übersät, weil die Eindrücke sie erschlugen, lief sie mit ihm mit. Dabei versuchte sie, die Schritte ihrer Mutter zu hören, doch außer dem Knacken der Äste und den Geräuschen der Nacht war nicht viel mehr zu hören. „Wo ist sie hin?“, fragte Rina flüsternd. Sie sah sich um und versuchte zu erkennen, wo ihre Mutter vielleicht entlanggegangen war. Allerdings wusste sie gar nicht, wie Fußabdrücke aussahen oder nach was sie sonst schauen musste.
„Ich weiß es nicht“, sagte der Mann entschuldigend und drückte leicht ihre Schulter, weil er sie beruhigen wollte.
Ihr Blick schweifte nach links und rechts, doch von ihrer Mutter war nichts mehr zu sehen. „Mag sie mich nicht mehr?“, fragte sie mit weinerlicher Stimme und schniefte. Der Schamane war nett und sie fühlte sich wohl, obwohl er ihr fremd war. Zurzeit war er jedoch ihr einziger Ansprechpartner. Was sollte sie machen, wenn ihre Mutter nicht zurückkam?
Ihr Vater würde nicht nach ihr suchen, da er sie nicht mochte und sonst hatte sie niemanden. „Komm mit zu mir. Ich werde deiner Mutter schreiben, wo sie dich findet, damit sie dich abholen kann, wenn sie das will“, schlug er vor. Seine Stimme klang erschöpft. Wahrscheinlich waren sie zu weit gelaufen. Er war immerhin ein alter Mann.
Rinas Augen wurden groß. Er würde sie tatsächlich zu sich nehmen? Ihr war der Gedanke unwohl, aber ihr blieb nichts anderes übrig, als einzuwilligen. Es wäre absurd, die Freundlichkeit des Mannes abzulehnen. Sie konnte nirgendwo anders hin. Hoffentlich würde ihre Mutter sich beruhigen und sie abholen.
Im Moment machte sich Rina aber eher Sorgen um den Schamanen. Immerhin musste er sie mitnehmen. „Geht es dir gut?“, fragte sie vorsichtig.
„Mir geht es gut“, versicherte er abwinkend. „Ich bin sicher, dir gefällt es bei mir“, erwiderte er, während er weiterlief. „Ich habe einige Kinder bei mir aufgenommen. Sie alle haben auf die eine oder andere Art ihre Familie verloren“, erklärte er, während er sie langsam führte.
„Du hast Kinder?“ Rinas Stimme war ungläubig. War dieser Mann so etwas wie ein Samariter? Ihre Mutter hatte manchmal dieses Wort für Menschen benutzt, die etwas Gutes taten.
Es wäre toll, wenn Rina andere Kinder kennenlernen könnte. Bisher kannte sie keine. Ihr Leben hatte sich nur zuhause abgespielt. Mit ihren Eltern und vor allen Gefahren außerhalb geschützt, auch wenn ihr Vater nicht immer nett gewesen war. Auch ihre Mutter war manchmal unfreundlich gewesen und sie erinnerte sich an die zahlreichen Streits, die im Hause Itsua geherrscht hatten. Oft ihretwegen.
„Ja. Ich habe einige Kinder. Sie alle leben bei mir, helfen mir und ich helfe ihnen“, erzählte er, während er sie auf einen Weg lotste, der durch den Wald führte. So konnten sie einfacher laufen und mussten nicht ständig über Gestrüpp steigen.
„Das ist wirklich nett von dir“, meinte Rina nachdenklich. Dadurch, dass der Weg nun offener war, konnte sie auch mehr erkennen. Gleichzeitig spürte sie, dass es nicht der Weg war, den sie gekommen waren. Sie erinnerte sich daran, dass er sich anders angefühlt hatte.
„Ich kann Kinder doch nicht einfach sich selbst überlassen“, winkte er ab, während er sich auf seinen Stab stützte und lief. Rina fiel allerdings auf, dass er nicht müde wurde. Im Gegenteil. Es schien eher so, als würde er langsam stärker werden und aufblühen. Als würde die Fassade der Schwäche von ihm abfallen.
Sie fand seine Art nett. Vor allem, dass er gutherzig war. Er gab ihr ein geborgenes Gefühl, weshalb sie mit ihm mitging. Rina vermisste ihre Mutter, aber sie war froh, dass wenigstens der Mann bei ihr war. Hier im Wald hätte sie sich bestimmt verlaufen und wäre wohl verhungert.
Schließlich lichtete sich das Unterholz des Waldes und eine Lichtung kam zum Vorschein, auf der mehrere Häuser gebaut waren. Sie wirkten nicht edel, aber auch nicht heruntergekommen. Stabil und doch gut in die Umgebung eingebunden. Es sah eher wie ein kleines Dorf aus, wobei sie gar nicht wissen konnte, wie so etwas überhaupt aussah. Es war noch dunkel, doch langsam wurde der Himmel heller. Etwas, was Rina noch nie gesehen hatte.
„Ist das dein Zuhause?“, fragte Rina flüsternd und ehrfürchtig. Ihr taten die Beine von dem vielen Laufen weh und sie fühlte sich erschöpft sowie müde.
„Ja, das ist es“, sagte er, während Rina beobachtete, wie ein Junge aus dem Haus gerannt kam. Er schien gewartet zu haben und wirkte nun irritiert, als er Rina bemerkte. „Das ist Kale“, stellte der Schamane ihn vor. Der Junge wirkte übermütig und grinste sie freundlich an.
„Hallo“, sagte er und reichte ihr sogar die Hand.
Eingängig musternd nahm sie seine warme Hand und drückte sie sanft. So, wie sie es gelernt hatte. Der Junge trug eine schlichte Leinenhose und ein Hemd. Sein Grinsen machte ihn sofort sympathisch. „Hallo, ich bin Rina“, stellte sie sich mit einem Lächeln vor.
„Wirst du heute hier schlafen?“, fragte er und blickte zu dem Schamanen. Dieser nickte.
„Bereite ihr bitte ein Bett vor. Ich werde mich um die Angelegenheit mit ihrer Mutter kümmern“, wies der alte Mann ihn an. „Kale wird dir alles zeigen“, versicherte er an Rina gewandt.
„Danke, dass du mich mitgenommen hast“, erwiderte sie müde, aber dankbar. Zum Glück gab es solche Menschen wie ihn.
Die Kinder des Schamanen waren hoffentlich alle so nett wie dieser Kale, dessen durchdringenden, blauen Augen sie scheinbar ungeniert musterten. Er brachte Rina damit in Verlegenheit und sie fragte sich, ob jeder sie so angestarrt hatte, als sie noch blind gewesen war.
Unwohl sah Rina zur Seite, um Kales Blick auszuweichen. Die plötzliche Müdigkeit und die Erschöpfung des Tages holten sie ein, sodass ihre Beine unter ihr nachgaben und sie auf den Boden sank. Es wurde Zeit, dass sie sich ausruhte.
Obwohl Rina die Hoffnung, dass ihre Mutter vielleicht doch noch kommen würde, nie wirklich aufgab, so musste sie sich doch nach mehreren Monaten eingestehen, dass ihr Leben nun hier war. Man hatte sie freundlich aufgenommen und sie war bereits in den Alltag integriert. Sie half dabei, Essen zu machen, die Häuser zu pflegen und beobachtete oft die Kinder beim Üben mit den Holzschwertern.
Wenn sie ihnen zusah, fragte sie sich, ob es für die Kinder eher ein Spiel war oder einfach nur eine Freizeitbeschäftigung.
Mit den meisten kam sie gut aus und wenn sie nichts zu tun hatte, nahm sie sich Zeit, die Umgebung anzusehen. Dabei stellte sie immer wieder fest, dass sie von dichten Bäumen eingekreist waren. Es wirkte beruhigend. Als würden sie dadurch geschützt werden. Das gefiel Rina, da sie anfangs unsicher gewesen war, ob sie sich hier wohlfühlen würde.
Jedoch gab Kale und auch der alte Mann ihr ein geborgenes Gefühl. Gerade der Junge lockte sie mit seiner Art oft aus sich heraus und sie lernte dank ihm einige Kinder näher kennen.
Kale kam zu ihr gerannt. Als er bei ihr ankam, stützte er die Hände auf seine Oberschenkel und schnappte nach Luft. „Willst du nicht auch mitmachen?“, fragte er und hielt ihr das Schwert hin. „Das macht Spaß und du machst deinen Körper stark“, behauptete er mit einem auffordernden Grinsen.
Unschlüssig betrachtete Rina die Waffe. Schon oft hatte sie sich gefragt, wie es wohl war, damit zu spielen.
Sie war allerdings noch nicht ganz fertig damit, die Wäsche zu reinigen, weshalb sie darauf zeigte. „Ich muss sie zuerst fertig machen, dann würde ich es gerne versuchen“, sagte sie mit kindlicher Stimme. Das hatte sie oft, wenn sie sich entschuldigte, was auch jetzt der Fall war.
„Ach, das kann jemand anderes machen“, winkte Kale ab, der Rina am Arm packte und fast schon mit sich zog. Er war allerdings nicht zu stark und gab ihr die Möglichkeit stehenzubleiben.
„Aber …“, wollte sie protestieren, weil jeder seinen Aufgaben nachgehen und sie gewissenhaft erledigen sollte. Außerdem schienen die anderen noch mit ihren beschäftigt zu sein, doch Rina konnte Kale kaum etwas abschlagen. Nur deshalb gab sie klein bei, und warf die Bürste, mit der sie die Hemden gesäubert hatte, zur Seite. Es war noch nie vorgekommen, dass Kale sie aktiv aufgefordert hatte, mitzumachen. Diese Gelegenheit wollte sie sich nicht entgehen lassen.
Er zog sie mit sich und reichte ihr das Holzschwert, bevor er begann, ihr zu erklären, wie sie dieses halten musste. Dabei war er sanft und geduldig. Gleichzeitig konnte Rina aber auch seine Aufregung gut sehen. Er wollte unbedingt mit ihr üben, das merkte man ihm an.
Warum er allerdings ausgerechnet sie auserkoren hatte, verstand sie nicht. Kale hatte bereits oft mit den anderen gespielt. Diese waren ziemlich geschickt im Umgang mit dem Schwert und damit wahrscheinlich viel besser geeignet als sie. Rina konnte sich nicht vorstellen, dass es mit ihr so viel Spaß machte, wie mit den anderen.
Um ihn nicht zu enttäuschen, versuchte Rina, es richtigzumachen. Geschickt stellte sie sich jedoch nicht an. „Ich wusste gar nicht, dass es so wichtig ist, wie man das Schwert hält“, gestand sie, nachdem Kale ihr zum wiederholten Mal die Finger richtig um den Knauf der Waffe gelegt hatte.
„Sonst tust du dir selbst weh beim Halten“, erklärte er mit einem Lächeln. „Und du willst ja auch nicht, dass du beim Spielen was auf deine Finger bekommt, oder?“, fragte er verschmitzt.
Entsetzt starrte Rina ihn an und schüttelte hastig den Kopf. „Verletzt du dich denn beim Spielen? Ist das normal?“, fragte sie unsicher. Noch nie hatte sie gespielt und sich dabei weh getan. Mit Puppen konnte man sich nicht verletzen.
„Natürlich ist das normal“, winkte Kale ab. „Wenn du Spaß hast und übermütig bist, dann passiert das“, sagte er beruhigend. „Aber keine Angst. Wir wissen, wie wir Kratzer behandeln können.“
Rina lächelte schief. Solange der Schamane nichts sagte, da sie mit ihrer Arbeit noch nicht fertig war … Er war streng, aber gerecht. Seinen Zorn wollte sie jedoch nicht auf sich ziehen.
„Dann möchte ich es gerne versuchen. Was muss ich machen?“, fragte sie wissbegierig und betrachtete das Schwert, aber auch Kale.
Dieser erklärte ihr einige Dinge, die sie beachten musste, bevor er meinte, dass sie eigentlich erst einmal nur auf sein Holzschwert einschlagen sollte. Er schien dabei nicht davon auszugehen, dass sie ihm weh tun könnte.
Zaghaft, weil Rina ihn nicht verletzen wollte, klopfte sie sein Schwert an.
Das Gefühl, das sie dabei heimsuchte, war merkwürdig. Es hatte eine zufriedenstellende Wirkung, gegen etwas zu klopfen. Und etwas Beruhigendes. „So?“, fragte Rina vorsichtig.
„Genauso“, stimmte Kale grinsend zu, der scheinbar zufrieden mit ihrem ersten Versuch war. „Vielleicht noch etwas stärker, aber du machst das gut.“
Ein zaghaftes Lächeln erschien auf Rinas Lippen. Was solche Spiele anbelangte, war sie vorsichtig. Unter anderem auch, weil sie noch die eine oder andere Koordinationsschwierigkeit hatte. Das kam aber zum Glück immer seltener vor. „Und wie macht man weiter?“, wollte sie wissbegierig wissen.
„Es ist als körperliche Betätigung und als Geschicklichkeitsspiel gedacht“, erklärte er. „Es geht darum, den anderen anzutippen und selbst nicht getroffen zu werden“, sagte Kale, wobei er noch mehr grinste. „Aber wir tasten uns langsam heran“, versprach er beruhigend, wobei er ihr sogar zuzwinkerte.
Einen Moment lang dachte Rina gründlich nach und nickte dann. „Das ist ungefähr so, wie wenn man blind ist“, behauptete sie aus Erfahrung. „Man versucht, andere zu orten, aber selbst nicht gegen etwas zu rennen und sich zu verletzen.“ Es war zwar nicht genau das Gleiche, doch früher hatte sie stets aufpassen müssen, wohin sie gegangen war, ohne jemanden umzurennen und ihm oder sich wehzutun. Mit der Zeit hatte sie sich gut daran gewöhnt.
Kale runzelte die Stirn. „Ja. Irgendwie schon“, stimmte er zögerlich zu.
„Warst du auch blind?“, fragte Rina neugierig und klopfte sein Holzschwert erneut an. Ein wenig kräftiger als zuvor, aber so, dass nichts passierte. Ihr fiel dabei auf, dass ihr die Bewegungen guttaten und ihren Körper lockerten. Zusätzlich stärkte es ihre Koordination. So, wie Kale es bereits angedeutet hatte.
„Nein. Ich bin mit diesen Augen geboren worden“, sagte er und richtete sein Schwert ein wenig aus, damit sie es leichter treffen, ihm aber nicht zu leicht aus der Hand schlagen konnte. „Anfangs haben es meine Eltern akzeptiert, doch das Dorf nicht und so wurde ich irgendwann weggejagt.“
Überrascht hielt Rina in ihrem Angriff inne. „Wirklich?“, fragte sie entsetzt und traurig. „Nur wegen deiner Augen? Sie sind doch normal“, meinte sie nachdenklich. Alle Kinder, die hier beim Schamanen lebten, hatten solche Augen. Rina kannte keine anderen. Die ihrer Mutter hatte sie damals im Wald nicht gesehen. Dazu war es zu dunkel und ihre Augen zu neu gewesen.
„Nein, leider nicht“, meinte Kale kopfschüttelnd. „Sie sind nicht normal.“ Damit deutete er auf seine Augen. „Siehst du das hier? Dieser Schlitz? Das müsste rund sein.“
Rina kam ihm näher. So nah, dass sie es besser sehen und gleichzeitig seinen Geruch einatmen konnte. Kale hatte etwas Sonderbares an sich, das sie mochte. Er war, genau wie der Schamane, beschützend. Allerdings war Kale auch ziemlich frech und hatte eine große Klappe. „Und das müsste rund sein? Warum? Wer sagt denn, dass die Runden normal sind?“, fragte sie verwirrt.
„Weil alle anderen Menschen, außer uns, runde Pupillen haben“, erklärte er, bevor er sich bückte, um auf den Boden zwei Augen zu zeichnen. Eines so, wie es sein musste und das andere so, wie ihre waren.
Überrascht neigte Rina den Kopf, um sich Kales Zeichnung genauer zu betrachten. „Das wusste ich nicht“, gestand sie leise. Hätte sie das damals gewusst, hätte sie vielleicht versucht, die Augen ihrer Mutter zu betrachten, doch sie hatte mit anderen Eindrücken zu kämpfen gehabt. Waren sie auch rund gewesen? „Warum sind dann unsere nicht normal?“, fragte sie unschlüssig. Für sie ergab das alles keinen Sinn.
Kale zuckte die Schultern. Er schien es auch nicht zu wissen. „Es ist schwierig“, sagte er seufzend und erhob sich wieder. „Komm, lass uns weitermachen.“
„Ja“, sagte Rina begeistert, obwohl sie ein schlechtes Gewissen hatte. Sie musste noch die Wäsche zu Ende säubern, bevor es Abendessen gab, aber sie hatte Spaß mit Kale, für den sie große Sympathie entwickelt hatte.
Also widmete sie sich ihm noch eine Weile und genoss es irgendwie, mit dem Holzschwert auf seines zu schlagen.
Das dumpfe Geräusch war angenehm und weckte in ihr den Wunsch, fester zuzuschlagen. Das gehörte sich für eine Frau jedoch nicht. Frauen mussten elegant und vornehm sein, das hatte ihre Mutter immer gesagt. Daher beschränkte sie sich darauf, Kales Schwert leicht zu treffen. Dabei geriet sie sogar ins Schwitzen, weil es ganz andere Muskeln in Anspruch nahm als die anderen Dinge, die sie immer tat.
„Du kannst ruhig fester zuschlagen“, lachte Kale, der sichtlich Spaß an dem Ganzen hatte. Er war nicht einmal annähernd so erschöpft wie Rina.
„Das machst du überraschend gut“, erklang eine tiefe, raue Stimme, die Rina dazu brachte, erschrocken zum Schamanen zu schauen, der sich in ihrer Nähe auf einem Baumstamm niedergelassen hatte und ihnen zusah.
Sofort ließ Rina das Schwert fallen und begann, sich mehrmals zu entschuldigen. Durch den Spaß, den sie mit Kale hatte, hatte sie ihre Aufgabe völlig vergessen. Ihr war nicht aufgefallen, wie spät es bereits war.
Der Schamane machte eine wegwerfende Handbewegung. „Macht ruhig weiter. Ich habe deine Aufgaben für heute an Rara abgegeben“, erklärte er, bevor er sich erhob. „Mir war nicht bewusst, dass du ein solches Talent für das Schwert hast.“
Rina fragte sich, was er mit diesen Worten meinte. Sie konnte sich darunter nichts vorstellen. „Wie meinst du das?“, fragte Rina dezent verwirrt, als sie sich hinabbeugte, um die Waffe aufzuheben. Es war doch das erste Mal, dass sie so etwas überhaupt in der Hand hielt. Wie konnte er das so schnell beurteilen?
„Für dein erstes Mal hast du es gut gemacht“, sagte er mit Stolz in der Stimme. „Für dich ist es noch ein Spiel, daher will ich dir den Spaß daran nicht nehmen. Du kannst, wenn du willst, mit Kale spielen, wann immer du willst.“
„Wirklich?“, fragte Rina atemlos und warf dem Jungen neben sich einen begeisterten Blick zu. Die Worte des Schamanen schmeichelten ihr, weshalb sie rot wurde. „Was ist dann mit meinen Aufgaben? Ich möchte sie doch gut machen.“
„Wir werden sehen, dass du genug Zeit dafür hast“, versicherte der Schamane beruhigend.
Freudig grinsend warf Rina Kale erneut einen Blick zu. Es freute sie, dass sie die Erlaubnis des Schamanen bekommen hatte, mehr zu spielen. Sie hatte öfters beobachtet, dass manche mehr spielten, als dass sie arbeiteten, aber bisher hatte sie nicht herausfinden können, warum das so war.
Mit vor Freude zitternder Stimme bedankte sich Rina bei dem Schamanen, der ihr ein besserer Vater war als ihr richtiger. Sie kam auf ihn zu und umarmte ihn kurz. „Was meintest du damit, dass du mir den Spaß nicht verderben willst?“, fragte sie leise.
„Die Älteren machen das nicht mehr zum Spaß“, sagte er sanft und legte ihr eine Hand auf den Kopf. „Aber du bist zu jung. Wenn du alt genug bist, werde ich es dir erklären.“
Rina nickte zustimmend. Es brachte nichts, weiter zu bohren. „Darf ich dann noch vor dem Abendessen mit Kale weiterspielen?“, fragte sie mit großen, unschuldigen Augen.
„Natürlich“, sagte er Schamane, der auch von den anderen Kindern nur so oder aber Vater genannt wurde. Er hatte es Rina freigestellt, wie sie ihn nennen wollte. „Kommt aber rechtzeitig zum Essen“, sagte er, bevor er Rina noch einmal tätschelte. Er hatte seine eigenen Vorteile aus der Situation und würde Rinas Begabung nutzen.
„Danke, Vater“, sagte sie glücklich und gab ihm einen schnellen Kuss auf seine raue Wange, die ihr manchmal wie Leder vorkam. Nicht viele gaben ihm diese Zärtlichkeit, doch Rina war sensibel und mochte Zärtlichkeiten, die sie auch gerne teilte.
Ihr Respekt für den alten Mann war enorm und sie war glücklich bei ihm. Zwar war sie traurig, dass ihre Mutter bisher nicht zurückgekommen war, doch hier, mit all den anderen Kindern, fühlte sie sich wohl. Zudem lernte sie auch täglich neues dazu.
„Ich schaue euch noch etwas zu“, verkündete der Schamane und blieb eine Weile sitzen, um beide Kinder zu beobachten.
Voller Stolz widmete sich Rina wieder Kale und wurde sogar übermütiger. Mit der offiziellen Erlaubnis konnte sie sich frei entfalten und ihre glänzenden Augen sprachen Bände. Rina versuchte, Kales Schwert immer wieder zu treffen und auch seine Worte in die Tat umzusetzen. Dass der Schamane ihnen zusah, erfüllte sie mit Freude und sie wollte ihm beweisen, dass er mit seiner Entscheidung gut beraten war, denn Rina würde auch in Zukunft ihre Arbeiten gut erledigen. Das nahm sie sich fest vor.
Als Rina eines Abends vom Spielen mit Kale zurück in den großen Speiseraum kam, warteten dort bereits die anderen. Das Essen wurde gerade ausgeteilt und so holte sie sich etwas ab, bevor sie sich setzen wollte. Allerdings wurde sie aufgehalten, als der Schamane sie bat, ihm zu folgen. Zu einem Tisch, den er nutzte, wenn er mit den Kindern sprechen wollte. „Ich möchte, dass du Kale heute Abend zum Unterricht begleitest.“
Die Kinder, die hier mit dem Schamanen sprachen, sagten normalerweise nichts zu den anderen, weshalb diese meistens nicht wussten, was hier besprochen wurde.
„Was für Unterricht? Darf ich ihm zusehen?“, fragte Rina neugierig und entspannte sich. Sie hatte geglaubt, etwas falsch gemacht zu haben. Kale hatte bisher nur vage angedeutet, dass er abends wegen etwas Wichtigem nicht mit ihr spielen konnte.
„Du wirst mitmachen“, entschied der Schamane mit einem Lächeln, bevor er auf ihr Essen deutete. „Iss ruhig, ich erkläre dir alles.“
Also fing sie an zu essen, konnte aber nicht verhindern, rot zu werden. Ihr Blick lag erwartungsvoll auf dem Schamanen. Sie wollte wissen, was er zu sagen hatte.
„Ich möchte, dass du zusammen mit Kale die Grundlagen der Welt lernst. Über deine Augen und deine Gaben“, erklärte er, während er selbst ein Stück Brot abbrach und damit gekochtes Gemüse aufnahm und aß.
Rina hielt kurz im Löffeln ihrer Suppe inne, aß dann aber weiter. Ihr Gesicht war vor Freude, aber auch Stolz roter geworden. Es war eine Ehre, dass er sie auserkoren hatte. „Das freut mich“, sagte sie überglücklich, nachdem sie heruntergeschluckt hatte. Am liebsten hätte sie die ganze Welt umarmt. „Was meinst du mit meinen Gaben?“, wollte Rina jedoch nachdenklich wissen.
„Das wirst du noch erfahren“, sagte er beruhigend und tätschelte leicht ihren Kopf. „Alles mit der Ruhe.“
Rina lächelte und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Die Kinder unterschiedlichen Alters lachten und plauderten fröhlich. Sie mochte es und hörte ihnen gerne zu, ohne mitzureden.
Da der Schamane nicht weiter auf die Sache mit der Gabe einging, erkundigte sich Rina, ob der Unterricht immer nach dem Abendessen war. So konnte sie einplanen, dass sie mit ihren Arbeiten bis dahin fertig war.
Der Mann nickte. „Ja, aber einen Tag in der Woche hast du frei. So wie bisher immer“, sagte er, während er seinen Teller leerte.
„Darf ich dich etwas fragen, Vater?“, wollte Rina vorsichtig wissen.
„Was möchtest du wissen, Rina?“, erwiderte er die Frage mit einem Lächeln.
Rina druckste etwas herum, weil sie keinen falschen Eindruck machen wollte, aber schließlich fragte sie mit gesenkter Stimme, ob er glaubte, dass ihre Mutter sie irgendwann noch abholen würde. Die Frage lag ihr immer noch auf dem Herzen, obwohl sie damit angefangen hatte zu leben.
Er legte ihr eine Hand auf ihre. „Du kannst hier so lange bleiben, wie du willst“, sagte er sanft. „Ob deine Mutter kommt oder nicht, weiß ich leider nicht.“
„Ich … muss dir etwas gestehen“, sagte Rina und senkte den Blick auf seine Hand. Sie drehte ihre um, sodass sie seine nehmen konnte. „Ich möchte von hier nicht mehr weg. Ich liebe zwar meine Mutter, aber ihr Verhalten hat mir weh getan“, flüsterte sie bedrückt und schaffte es nicht, ihm ins Gesicht zu sehen. Damit die anderen nichts von dem Gespräch mitbekamen, senkte sie ihre Stimme weiter. „Aber du warst da und hast mich mitgenommen. Ich fühle mich bei dir und den anderen wohl.“
Er legte ihr seine zweite Hand auf ihre, um diese zu halten. „Du musst hier nicht weg“, versicherte er sanft. „Du kannst bleiben, solange du willst.“
Ein zaghaftes Lächeln breitete sich auf Rinas Lippen aus. „Danke, Vater. Ich schulde dir so viel“, sagte sie gerührt und wischte sich verstohlen eine Träne aus den Augenwinkeln. Sie hatte Glück, dass er so gutherzig war. „Wo muss ich denn nachher hin? Soll ich Kale einfach hinterher?“, fragte sie und beendete ihr Essen.
„Ja, geh am besten mit Kale mit“, antwortete er sanft und fuhr ihr noch einmal durch die Haare. Sie hatte diese Geste bisher noch bei keinem anderen Kind gesehen. War das, weil sie aktuell die Jüngste war?
Auch diese Kleinigkeit erfüllte Rina mit Stolz und sie wurde erneut verlegen. So wie immer, wenn ihr jemand ein bisschen Zärtlichkeit entgegenbrachte. Sie mochte den Schamanen gerne. „Danke, Vater“, erwiderte sie glücklich und bemerkte, dass das Essen wohl bald beendet war, da einige Kinder bereits aufstanden, um ihre leeren Teller wegzubringen.
Allerdings wusste sie auch, dass sie Zeit hatte, in der sie ruhig essen konnte. Ihr Vater legte großen Wert darauf.
Zwar war Rina fertig, doch sie hatte noch Hunger und holte sich Nachschlag. Nach dem Spielen mit Kale aß sie immer viel. Zum Glück gab es genug zum Essen, sodass niemand hungrig vom Tisch aufstehen musste.
„Möchtest du auch noch etwas, Vater?“, fragte Rina höflich und lächelnd.
„Bring mir bitte einen Kaninchenschenkel mit“, stimmte er zu und lächelte zurück. Es war selten, dass eines der Kinder anbot zu helfen.
Rina nahm seinen Teller, bevor sie ihm, aber auch sich selbst noch etwas holte. Zusätzlich, um ihm eine Freude zu bereiten, legte sie ihm Möhren und Paprika dazu. Sie hatte ihn oft dieses Gemüse essen sehen, weshalb sie davon ausging, dass er das mochte.
Mit dem Teller kam sie zurück und stellte ihn vor Vater ab.
„Hab dank“, sagte er lächelnd. „Aber iss du auch richtig“, bat er. „Für den Unterricht brauchst du Kraft.“
Rina zeigte auf ihren Teller, der die gleiche Portion aufwies wie zuvor. „Was genau ist das eigentlich für Unterricht? Lerne ich Lesen und Schreiben?“, fragte sie wissbegierig, achtete aber darauf, ihre guten Manieren nicht zu vergessen. Mit vollem Mund durfte man nicht sprechen.
„Ja. Lesen und Schreiben wird das erste sein, was du lernst“, stimmte der Schamane zu. „Aber du wirst auch viele andere Dinge lernen. Über Geschichte und Politik.“
Vor Freude verschluckte sich Rina und sprang auf, um den Schamanen übermütig zu umarmen und einen Kuss auf die Wange zu drücken. Es war Wahnsinn, dass sie die Möglichkeit bekam, das alles zu lernen. Zuhause, als sie noch blind gewesen war, hätte sie vermutlich ihr Leben lang mit Puppen gespielt und sonst nichts. Vielleicht hätte ihr jemand noch vorgelesen, wenn sie älter gewesen wäre, doch das glaubte sie mittlerweile nicht mehr.
Die ehemals hübsche Fassade ihres früheren Lebens hatte durch das Leben beim Schamanen erhebliche Risse bekommen und Rina verstand, trotz ihres Alters, dass ihr vieles vorenthalten worden war. Wohl auch, weil ihre Mutter stets Angst um sie gehabt hatte. Aber war das wirklich so gewesen?
„Oh, ich danke dir unendlich, Vater! Ich möchte mich erkenntlich zeigen!“, sagte Rina übermütig und bemerkte, wie einige zu ihnen hinübersahen. Unter anderem auch Kale, dem sie glücklich zulächelte.
„Schon gut, schon gut“, lachte ihr Vater, der sie erneut tätschelte. „Viele andere bekommen diese Gelegenheit auch. Du bist noch jung, daher wollte ich warten, aber Kale war der Meinung, dass du schon bereit dazu bist.“
„Dann muss ich mich bei ihm auch bedanken“, sagte sie, drückte ihren Vater noch einmal und ließ sich dann wieder am Tisch nieder, um zu essen. Am liebsten hätte sie alles in sich hineingeschlungen, doch sie wusste, dass der Schamane Wert darauflegte, dass alle langsam aßen und sich Zeit nahmen.
Für ihn war es wichtig, dass sie alle satt waren und gut aßen. Warum wusste Rina nicht, aber sie schätzte, dass es damit zusammenhing, dass sie viel arbeiteten und auch das Spielen anstrengend war. Zudem halfen sie auch dabei, Nahrung zu besorgen und andere Dinge, die Vater dann in der Stadt verkaufte. Manchmal nahm er Hilfe mit, aber das war eher selten.
Das mochte sie gerne. Jeder bekam Arbeiten, die zu einem passten, aber man durfte auch wechseln. Manchmal wechselten sie auch wöchentlich, vor allem die jüngeren Kinder. „Vater, bist du eigentlich ein Arzt? Weil du mir die Fähigkeit gegeben hast, sehen zu können?“, wollte Rina plötzlich wissen.
„Ja, etwas in diese Richtung“, stimmte er zu. „Aber ich bin kein Arzt, wie du sie kennst. Meine Medizin ist das alte Wissen, die Natur und die Magie dieser Welt.“
Mit großen Augen sah Rina ihn an und verschluckte sich beinahe an ihrem Saft. Diesen hatten die Kinder selbst hergestellt, nachdem sie die roten Früchte von den Sträuchern gepflückt hatten. „Du bist wirklich toll“, flüsterte sie ehrfürchtig. Für sie war er wie ein Heiliger. „Das möchte ich auch lernen. Du bist mein Vorbild.“
Er lachte, bevor er begann zu essen. Gemeinsam leerten sie ihre Teller, damit sie genug Kraft für den Rest des Abends hatten.
Was dieser wohl für Rina bereithielt? Sie war gespannt darauf, was sie alles lernen würde.
Fast schon ungeduldig wippte sie mit ihren Füßen unter dem Tisch hin und her, blieb jedoch sitzen, bis Vater mit dem Essen fertig war. Immerhin gehörte sich das so.
„Geh und rede mit Kale“, sagte er auffordernd. „Ich verteile die Aufgaben für heute Abend.“
„Ja!“, sagte sie gehorsam und sprang auf, um ihren Teller fortzubringen und nach Kale zu suchen. Dieser hatte sein Essen bereits vor ihr beendet und war nicht mehr im Raum. Ob er glücklich über die Neuigkeit war?
Sie fand ihn draußen vor dem Speiseraum, wo er gerade mit ein paar älteren Jungen redete. Rina kannte die beiden zwar, doch sie hatte nicht viel mit ihnen zu tun.
Die Älteren waren meist mit schwierigeren Aufgaben betreut. Unter anderem auch das Jagen mit Pfeil und Bogen.
Um sie bei ihrem Gespräch nicht zu stören, stellte sich Rina an die Seite und wartete. Dabei versuchte sie nicht den Anschein zu erwecken, es eilig zu haben oder zu lauschen. Sie wusste, dass die anderen das nicht mochten.
Schließlich verließen die beiden Älteren Kale. Sie wirkten unzufrieden, doch das war nichts Neues bei ihnen.
Kale schlenderte auf Rina zu, als er diese entdeckte. „Wie sieht dein Abendplan aus?“, fragte er. Er verbrachte viel Zeit mit ihr, weil sie im gleichen Alter waren. Allerdings war Kale auch sonst recht beliebt.
Rina war froh darüber, dass Kale so nett war und Zeit mit ihr verbrachte. Sie mochte den aufmüpfigen Jungen gerne und er brachte sie oft zum Lachen. „Der Schamane möchte, dass ich dich heute Abend zum Unterricht begleite!“, stieß Rina freudig hervor und umarmte Kale voller Übermut. „Ist das nicht toll, dass wir zusammen lernen dürfen?“, fragte sie übereifrig.
Kale, der größer war als Rina, blickte zu ihr hinab. „Du freust dich darauf zu lernen?“, fragte er, weil er ihre Motivation nicht nachvollziehen konnte. Er kannte niemanden, der gerne lernte. Das war ihm zu langweilig.
Eifrig nickte Rina. „Ja, ich freue mich darauf“, sagte sie ernst und sah in seine blauen Augen. „Ich hatte bisher nie die Möglichkeit, Schreiben und Lesen zu lernen“, sagte sie entschuldigend und senkte ihren Kopf. Ihr war klar, dass er daran vielleicht nicht so viel Spaß hatte, wie sie.
Kale winkte ab. „Du bist ja auch noch jung. Die meisten fangen gar nicht in dem Alter an“, versicherte er, bevor er ihre Hand nahm und sie mit sich zog, um ihr zu zeigen, wo sie entlang mussten.
Aufgeregt folgte sie ihm und wollte wissen, ob sie etwas mitnehmen musste. Sie hatte das Gefühl vor Glück kaum denken zu können! „Oder bekomme ich im Unterricht etwas? Und wer ist unser Lehrer?“, sprudelten die Fragen aus ihr heraus.
Kale lachte. „Die Grundlagen werden dir ältere Kinder beibringen“, sagte er und erzählte dann, dass sie die Dinge, die sie brauchte, bekommen würde. „Sobald du das kannst, wird Vater dich mit uns unterrichten.“
„Oh“, erwiderte Rina noch aufgeregter. Bisher hatte sie nicht gewusst, dass die Älteren den Jüngeren die Grundlagen beibrachten. Die Tatsache, dass Vater sie unterrichten würde, erfüllte sie jedoch mit einer großen Portion Stolz. Wenn sie die Jüngste war, hatte sie dann Potenzial, was er in ihr sah? Oder lernten alle früher oder später alles?
Sie konnte es nicht sagen und hatte im Moment auch keine Möglichkeit, zu fragen.
Kale führte sie in einen Raum, der einige Stühle und Tische besaß. Er war recht klein.
Ansonsten war auch keiner da, weshalb Rina sich fragend umsah. Der Raum war spartanisch und auch praktisch eingerichtet. „Warum ist hier niemand?“, fragte sie verblüfft. Waren sie etwa die Einzigen, die Unterricht erhielten?
„Ich denke, Liliana kommt gleich. Wahrscheinlich muss Vater ihr noch sagen, dass du heute bei ihr Lesen und Schreiben lernst“, winkte Kale ab. „Ich warte hier mit dir.“
„Liliana?“, fragte Rina und ging sämtliche Gesichter der Älteren in Gedanken durch, konnte aber kein Passendes zu dem Namen finden. Sie kannte aber auch nicht alle mit dem Namen, weil sie die zu selten sah. „Lernst du nicht mit mir?“, fragte sie etwas traurig.
„Nein, heute nicht. Ich kann bereits Lesen und Schreiben“, versicherte er und blickte sich suchend um. Dann bemerkte er eine ältere Frau. Sie war eine der Erwachsenen, die in den umliegenden Städten und Dörfer arbeiteten und nur zum Schlafen hierher zurückkehrten.
Rina erkannte sie. Ihre braunen, freundlichen Augen, die aber auch Strenge zeigen konnten, hatten ihr bei ihrer ersten Begegnung imponiert. Damals war Rina um die Ecke gefegt, weil sie etwas holen wollte und mit ihr zusammengestoßen. Liliana hatte es ihr nicht übelgenommen, sie aber aufgeklärt, dass sie aufpassen musste, damit sie anderen nicht aus Versehen weh tat.
Auch heute trug Liliana ihre Haare hochgesteckt. So, wie Rina sie meistens sah. Es war eher selten, weil Rina viel zu tun hatte, doch ab und an liefen sie sich über den Weg. „Guten Abend“, grüßte Rina sie höflich und versuchte, ihre Begeisterung zu verstecken.
„Hallo, Rina“, lächelte Liliana. „Ich habe gehört, du möchtest Lesen und Schreiben lernen?“, fragte sie schmunzelnd.
Eifrig nickte Rina. „Ja, das möchte ich!“, sagte sie im Brustton der Überzeugung. „Das wollte ich schon immer. Ich freue mich, dass du mir hilfst“, versicherte sie ernst. Seit Vater ihr die Erlaubnis erteilt hatte, dass sie es lernen durfte, würde sie alles tun, damit sie gut darin wurde und er stolz auf sie sein konnte.
Liliana lächelte. „Dann fangen wir am besten gleich an“, entschied sie, bevor sie Kale zunickte. Rina war bei ihr gut aufgehoben und sie würde sich um diese kümmern. Er konnte seiner eigenen Aufgabe nachgehen.
Nur kurz darauf begann Rina, zum ersten Mal in ihrem Leben Buchstaben und Zahlen zu sehen. Liliana war geduldig und erklärte viel, was es Rina erleichterte, die Dinge zu verstehen. Sie hingegen passte konzentriert auf, stellte Fragen und versuchte, alles zu Lilianes Zufriedenheit zu machen.
Einige Wochen vergingen, in denen Rina eine Menge zu tun hatte. Nicht nur ihre täglichen Arbeiten mussten erledigt werden, sondern auch der abendliche Unterricht bei Liliana, der ihr unheimlich viel Spaß machte.
Rina erwischte sich dabei, wie sie außerhalb der Unterrichtszeit die Buchstaben, aber auch Wörter vor sich hinmurmelte und sie teilweise sogar mit dem Finger auf den Boden malte.
Daher konnte sie schon bald einen Großteil der Buchstaben, aber auch Zahlen. Sie hatte sogar ein einfaches Buch von Liliane bekommen, das sie abends, aber auch in den Pausen las. Es war eher ein Kinderbuch, aber ein perfekter Einstieg, wie Rina feststellte.
Nur wenn sie mit Kale und den Holzschwertern spielte, vergaß sie alles um sich herum und genoss die Zeit mit ihm.
Oft wurde sie vom Schamanen beobachtet, bemerkte aber auch, dass manchmal andere Kinder da waren, um ihnen zuzusehen. Nicht immer waren sie begeistert, doch sie schwiegen.
„Komm, es ist Waschtag“, meinte Kale.
Da sie nicht jeden Tag die Zeit fanden, sich ausgiebig zu waschen, hatte jedes Kind seinen eigenen Tag, an dem es mit einigen anderen zusammen im großen Teich baden durfte. Zumindest, wenn es warm war. Sobald es kalt wurde, durften sie zusammen in großen Wannen baden.
„Ich komme sofort!“, versicherte Rina, die ihr Buch schnell versteckte und die fertige Wäsche, die sie hatte draußen in der Sonne liegen lassen, aufnahm. Diese würde sie zuerst hineinbringen, bevor sie sich waschen konnten. Ihr war aufgefallen, dass ihre Kleider zunehmend schmutziger wurden, je mehr sie spielte. Vor allem, weil sie ab und zu hinfiel und auch schwitzte.
Das machte ihr jedoch nichts und auch ihr Vater meckerte nicht. Daher ging sie davon aus, dass es normal war.
„Ich kann es kaum erwarten im See zu schwimmen“, freute sich Kale, der Rina folgte. Er hatte zusammen mit ihr Waschtag.
„Ich auch nicht“, sagte sie fröhlich und zwinkerte ihm zu. Er war einer der schönsten Tage, wenn sie gemeinsam baden konnten. Hinzu kam die Wärme, die ein Bad noch schöner machte. „Ich möchte mit dir um die Wette schwimmen und im seichten Wasser planschen.“ Bisher hatte Rina jedoch noch nicht gelernt, wie man schwamm. Meist planschte sie am Rand des Teiches herum.
Kale lachte. „Schwimmen ist nicht so meines“, winkte er ab. Rina wusste, dass er es ebenfalls nicht konnte.
„Dann hüpfen wir eben wie die Frösche hin und her“, lachte Rina vergnügt und nahm sich, aber auch Kale ein sauberes Handtuch vom Stapel. Eigentlich war es egal, was sie mit dem frechen Jungen, den Vater gerne manchmal Bengel nannte, unternahm. Es machte alles mit ihm Spaß und sie ging davon aus, dass der Schamane mit Kales frecher Zunge kein Problem hatte. Tatsächlich wirkte der alte Mann so, als wäre er glücklich, dass die Kinder so unterschiedlich waren.
Wie überall hatte er eindeutig seine Lieblinge, doch er hatte ein offenes Ohr für alle seine Kinder. Gleichzeitig war er aber auch streng, wenn es darum ging, dass die Kinder sich nicht an die Regeln hielten. Regeln, die dazu da waren, dass ihnen nichts geschah.
Auf dem Weg zum Teich begegneten sie anderen, die sie grüßten. Einige Kinder waren dabei, Beeren zu pflücken, während andere in den Beeten herumwühlten, um neues Gemüse anzupflanzen. „Es wird wirklich Zeit, sich zu waschen. Ich bin durch die Arbeit in der Sonne ganz verschwitzt“, gab Rina zu und blinzelte dem Sonnenlicht entgegen. Die letzten Tage waren ziemlich warm gewesen, sodass eine Abkühlung gerade richtig kam. „Wo bist du eigentlich gerade mit der Arbeit eingeteilt?“, wollte sie von Kale wissen. Sie selbst bekam das immer nur am Rande mit, da sich ihre Aufgabengebiete nicht überschnitten.
„Ich bin diese Woche das erste Mal bei den Jägern“, sagte Kale stolz. „Ich darf mit Pfeil und Bogen mein erstes Tier erlegen“, erklärte er stolz, während sie dem See immer näherkamen.
Ehrfürchtig warf sie Kale einen Seitenblick zu. „Wirklich? Ist das toll! Ich möchte das auch irgendwann“, behauptete Rina begeistert. So konnte sie noch mehr zum Leben hier beisteuern. „Bringst du es mir irgendwann heimlich bei?“
„Ich werde mit Vater reden“, sagte er nickend, wollte aber gar nicht erst anfangen, ihr etwas heimlich zu lernen. „Er wird entscheiden, ob du bereit dafür bist.“ So war es immer. Sie konnten ihre Wünsche vortragen, doch der Schamane würde entscheiden. Wenn man diesen Weg umging, so wusste Kale, musste man damit rechnen, bestraft zu werden.
Es half auch nichts, zu betteln und zu flehen. Bei seinen Entscheidungen war er unerbittlich und Rina wusste, dass sie wohl warten musste, bis er ihr die Erlaubnis erteilte. Aber gerade das machte es viel schöner, weil sie es als eine Art Ehre betrachtete, wenn Vater etwas erlaubte. „Meinst du denn, dass ich bereit wäre?“, fragte Rina nachdenklich, während sie sich entkleidete. Die schmutzige Wäsche warf sie ins Gras, da sie diese nicht mehr anziehen würde.
„Gute Frage“, murmelte Kale, der sich ebenfalls entkleidete. „Ich weiß nicht, ob dein Körper das schon mitmacht. Es ist anstrengend.“
Ungeniert, weil Kale und sie immer gemeinsam badeten, betrachtete Rina ihn. Dann sah sie an sich hinab. „Stimmt. Du bist ganz anders gebaut als ich und du hast stärkere Arme“, bemerkte sie und drückte sanft seinen Oberarm, an dem leichte Muskeln zu spüren waren.
Kale lachte, weil diese Geste für ihn unerwartet kam. „Ich übe auch schon viel länger als du mit dem Holzschwert“, sagte er, war aber definitiv stolz darauf, dass er bereits so stark war.
Rina lächelte und ließ dann von ihm ab, um sich ins Wasser gleiten zu lassen. Genüsslich seufzte sie und spritzte sich das kühle Nass ins Gesicht. „Wie lange spielst du damit schon?“, fragte Rina und sank ein wenig weiter ins Wasser, bis nur noch ihr Kopf herausragte. „Oder machst du noch etwas anderes, um so stark zu sein?“ Bisher hatte sie es kein einziges Mal geschafft, ihn bei ihren Spielen zu Boden zu befördern. Er hingegen hatte es schon oft hinbekommen.
„Bei mir ist es nicht mehr unbedingt spielen“, sagte er. „Ich bekomme Unterricht im Schwertkampf.“ Kale kam ebenfalls ins Wasser und ließ sich zufrieden seufzend nieder.
„Wirklich? Kein Wunder, dass du so stark bist“, murmelte Rina und legte ihren Kopf an seiner Schulter ab. Ihre Hände ließ sie im Wasser hin und her schwimmen. Rina mochte es, den kleinen Wellen zuzusehen. „Warum bekommst du eigentlich im Schwertkampf Unterricht? Brauchst du das beim Jagen von Tieren?“
„Schwertkampf ist wichtig, wenn uns jemand angreift“, sagte Kale ernst. „Vater hat erzählt, dass wir mit unseren Augen besonders sind, aber viele Menschen uns nicht mögen. Ich möchte nicht, dass jemand hier angreift und dabei meine Familie verletzt.“
Entsetzt zog Rina die Luft ein. „Wirklich?“, flüsterte sie geschockt und richtete sich im Wasser so schnell auf, dass sie Kale unbeabsichtigt nass spritzte. „Davon wusste ich noch gar nichts!“ Der Gedanke, dass jemand hierherkam und sie angriff, war beängstigend.
„Alles gut“, sagte er beruhigend. „Das musst du auch nicht wissen. Es gibt keinen Grund, dir Sorgen zu machen“, versicherte er, bevor er sie nass spritzte, um sie abzulenken.
Darauf ging Rina gerne ein und sie pfefferte ihm eine Ladung Wasser ins Gesicht. „Aber ich möchte doch auch einen Teil dazu beitragen, dass uns nichts geschieht“, bemerkte Rina keuchend und wich ihm aus, als er erneut Wasser nach ihr warf.
„Das wirst du sicherlich“, meinte Kale, der es scheinbar gar nicht so schwer nahm. Er hatte seinen Spaß, indem er Rina nassspritzte.
Sie versuchte, auf seinen Rücken zu springen, doch durch das viele Wasser im Gesicht bekam sie kaum eine Gelegenheit dazu und musste so stark lachen, dass sie sich einfach weiter nass spritzen ließ.
Irgendwann hörte Kale schwer atmend auf. „Hast du genug?“, fragte er neckend.
„Nein“, antwortete Rina grinsend und pfefferte ihm eine gehörige Ladung Wasser ins Gesicht, bevor sie schnell untertauchte. Das kühle Nass machte sie noch übermütiger als sonst. Außerdem hatte sie gute Laune.
Kale lachte, während er sich etwas von ihr entfernte. Der See war an den Rändern nicht tief, doch es war immer jemand in der Nähe, der aufpasste, dass sie nicht zu tief hineingingen.
Plötzlich packte Rina ihn an der Hüfte und zog ihn an sich, während sie gleichzeitig auftauchte. „Ich hab dich“, lachte sie amüsiert und sprang auf seinen Rücken. „Wir sollten uns waschen. Es gibt bald Abendessen“, bemerkte sie und wollte ihn wieder loslassen, konnte aber nicht, weil Kale sie noch hielt.
Dieser lachte, bevor er sich ins Wasser fallen ließ und sie mit sich zog. Dann tauchte er mit ihr wieder auf und schüttelte sich etwas. „Ja, wir sollten uns waschen.“
Rina zog ihn energisch zum Ufer und schüttelte ihre silbernen Haare aus dem Gesicht. Durch das Spielen hatte sie Wasser ins Ohr bekommen, was irgendwie unangenehm, aber nicht gefährlich, war.
Während Rina sich wusch, erzählte sie von dem Unterricht bei Liliane. „Weißt du, dass ich mir jetzt, nachdem ich sehen kann, alles besser vorstellen kann, wenn ich lese?“
Kale lachte. „Das kann ich durchaus verstehen. Ohne etwas zu sehen, weißt du ja auch nicht, wie die Dinge aussehen.“
Rina nickte ernst. Sie hatte nie gewusst, wie Dinge richtig aussahen. Zwar hatte sie Beschreibungen bekommen, aber es war nicht das Gleiche. Dadurch, dass sie langsam lesen lernte, entstanden neue Bilder in ihrem Kopf. Es machte sie süchtig, sodass sie kaum eine Minute ohne Buch auskommen konnte.
Man ließ sie, doch Rina wusste, dass einige Kinder sich darüber lustig machten. Immerhin zog sie oft das Lesen dem Spielen vor. Außer die Schwertspiele mit Kale. Die machte sie weiterhin gerne und regelmäßig.
Sie war früher als er fertig, weshalb sie sich das Handtuch schnappte und sich darin einwickelte, nachdem sie sich aus dem Wasser begeben hatte. Am Ufer ließ sich Rina nieder und ließ sich noch sonnen, bevor sie zusammen zurückgehen würden. Das Lachen der anderen Kinder erfüllte sie mit einer tiefen Zufriedenheit und sie schloss ihre Augen, um das Leben zu genießen.
Irgendwann kam Kale zu ihr und wickelte sich ebenfalls ein. „Wir können uns die neuen Sachen holen gehen“, sagte er, während er sich etwas schüttelte, um sein Haar zu trocknen.
Dadurch bekam Rina einige Wassertropfen ab und quietschte, ohne sich großartig zu bewegen. „Was für neue Sachen?“, fragte sie schläfrig und sah ihn aus halb geschlossenen Augen an.
„Na, willst du im Handtuch zum Essen gehen?“, fragte er lachend. „Unsere gewaschenen Sachen“, meinte er belustigt.
Schwerfällig erhob sich Rina mit einem breiten Grinsen. „Ich hätte nichts dagegen, nur im Handtuch essen zu gehen, aber Vater wird das nicht gutheißen“, antwortete sie und streckte sich ausgiebig. Dabei kam ihre schlanke, zierliche Figur gut zur Geltung.
Kale lachte weiter. „Ja, das würde er wohl nicht“, stimmte er zu. „Zudem hast du eine leichte Lederrüstung bekommen. Damit wir unser Schwertspiel weiter ausweiten können.“
„Eine Lederrüstung?“, fragte Rina quietschend und mit Begeisterung. Sie hatte einige Kinder gesehen, die eine solche trugen und sie fand diese nicht nur hübsch, sondern auch praktisch. „Ist das toll! Wie weitet man das Spiel denn aus?“
„Indem wir neue Dinge lernen. Vater möchte dich auch unterrichten. Wann hat er nicht gesagt, aber sicherlich bald“, meinte Kale gut gelaunt, der mit ihr zusammen zu dem Raum ging, in dem sie ihre Kleider abholen konnten.
Bevor sie diese nahm, grapschte Rina mit klopfenden Herzen nach Kales Arm. „Ich darf an eurem Unterricht teilnehmen?“, fragte sie atemlos. Sie fühlte sich so glücklich, dass sie Kale umarmen musste. Scheinbar war Vater mit ihr zufrieden genug, dass sie endlich daran teilnehmen durfte. Ein Traum, den Rina verfolgt hatte, seitdem sie Lesen und Schreiben lernte, wurde endlich wahr!
Kale lachte, wobei er überfordert über ihre Reaktion war. „Ja, er hat gesagt, er überlegt, wann er dich einweiht. Dann wirst du auch Bogenschießen lernen dürfen. Aber alles mit der Ruhe.“
Rina fiel vor Schreck die frische Kleidung aus der Hand und sie beeilte sich, diese aufzuheben. „Ehrlich? Noch besser kann es gar nicht werden“, behauptete sie überzeugt und wusste, dass sie rot im Gesicht war. Eine größere Ehre gab es nicht.
Kale lachte weiter, bevor er begann, sich anzuziehen. „Mach langsam. Vater wartet beim Essen“, meinte er und war über Rina belustigt. Ihre Reaktion war heftig und so ganz verstand er sie nicht.
Seine Worte brachten sie dazu, langsamer zu machen. Vater mochte keine Hektik. Wahrscheinlich, weil er alt war. Er erzog sie alle dazu, alles in Ruhe und mit Bedacht zu tun. Das war auch Rina wichtig, weshalb sie sich langsam anzog und sich in Gedanken zur Ordnung rief. Es konnte vorkommen, dass Vater es sogar sein ließ, wenn sie zu aufgedreht war. Und das wollte sie nicht.
Gemeinsam liefen sie schließlich in den Speiseraum, wo die anderen bereits aßen.
Wie erwartet, wartete dort Vater an seinem Tisch und winkte beide zu sich.
Rina warf Kale einen fragenden Blick zu und lief dann zu Vater. „Du möchtest uns sprechen, Vater?“, fragte sie höflich und umarmte ihn zur Begrüßung. Zusätzlich gab sie ihm einen Kuss auf die Wange.
„Ich möchte zuerst mit Kale sprechen, dann mit dir. Setzt euch also bitte beim Essen zu mir“, bat er. Es war Tradition, dass wichtige Dinge beim Essen besprochen wurden.
„Natürlich. Soll ich dir etwas zum Essen bringen, während du mit Kale sprichst?“, fragte Rina und versuchte, ihre Aufgeregtheit zu verstecken.
„Ein bisschen Obst reicht mir heute“, sagte er, nickte aber zustimmend.
Besorgt sah Rina ihn an. Es war nicht normal, dass er so wenig aß, weshalb sie ihn fragte, ob alles in Ordnung war. Sein Gesundheitszustand war ihr wichtig. Immerhin hatten die Kinder niemanden mehr, wenn er starb.
„Mach dir keine Sorgen. Ich habe schon einen Teller gegessen und dann noch ein Gespräch, bei dem ich etwas esse“, sagte er beruhigend und mit einem Lächeln.
Erleichtert, dass er deshalb nur so wenig aß, nickte Rina und wandte sich ab, um ihm einen Obstteller vorzubereiten. Darunter befanden sich Früchte von den Büschen, aber auch von den Bäumen. Mit dem Teller kam sie zurück und stellte ihn vor dem Schamanen ab, bevor sie ging, um Kale und ihr etwas zu besorgen. Sie wollte die beiden nicht bei ihrem Gespräch stören, weshalb sie die Zeit nützlich verbringen wollte.
Sie bemerkte, wie die beiden sich unterhielten, bevor Vater ihr das Zeichen gab, dass nun sie an der Reihe war. Kale blieb allerdings sitzen.
Wahrscheinlich sollte er der Unterhaltung beiwohnen, was ihr nichts ausmachte. Bevor sie sich allerdings niederließ, brachte sie Kale seinen Teller und holte dann ihren. „Worüber möchtest du sprechen, Vater?“, fragte Rina fast schon ungeduldig.
„Ich habe mich gerade mit Kale unterhalten, der bestätigt hat, dass du Fortschritte gemacht hast“, sagte er und nickte Kale dankbar zu. „Daher dachte ich mir, du willst vielleicht mit ihm zusammen in die Stadt, um dort ein paar Dinge zu verkaufen. Einfach, damit du ein paar Dinge außerhalb des Waldes kennenlernst.“
Mit offenem Mund starrte Rina ihn, aber auch Kale, an. Vor Überraschung fiel ihr die Gabel aus der Hand auf den Tisch und sie erzeugte ein klirrendes Geräusch. „Ich darf was?“, fragte sie mit brüchiger Stimme. Mit dieser Erlaubnis hatte sie nicht gerechnet, sondern eher, dass sie ein wenig mehr üben durfte.
„Ich möchte, dass du ein wenig die nähere Stadt kennenlernst, Leute und Gegenden siehst. Du hast vor unserem Treffen nichts gesehen. Du solltest dir daher ein eigenes Bild machen“, sagte er entschieden. „Und wenn du zurückkehrst, dann möchte ich mit dir ein paar Dinge ausprobieren.“
Einige Sekunden lang starrte Rina ihn weiter an, bevor Tränen in ihre Augen traten. Vater war lieb, ihr so ein gutes Leben zu geben. Dass er sogar daran gedacht hatte, dass sie kaum etwas kannte …
Ihr kamen allerdings Kales Worte in den Sinn, dass es böse Leute gab, die ihnen vielleicht weh tun wollten. Waren in der Stadt auch solche Leute? Rina hoffte es nicht.
„Was für Dinge möchtest du mit mir … ausprobieren?“, fragte sie vorsichtig. „Schwertübungen?“
Der Schamane nickte. „Schwertübungen, Bogenschießen und ein paar andere Dinge. Damit ich sehe, was dir liegt.“
Nicht gerade damenhaft entfuhr Rina ein Schrei der Begeisterung. Vor Freude begann sie mit den Beinen zu zappeln und konnte sich kaum noch auf das Essen konzentrieren. „Was machen Kale und ich in der Stadt?“, versuchte sie sich mit anderen Fragen abzulenken und zu essen.
„Wenn du so weitermachst, rennst du gleich ein paar Runden um die Häuser“, meinte der Schamane nüchtern. Das ließ er die Kinder immer tun, wenn sie zu aufgeregt waren. „Kale wird es dir zeigen, sobald ihr dort seid.“
Seine Warnung saß und Rina senkte beschämt den Kopf. „Es tut mir leid“, murmelte sie und seufzte. Sie war einfach viel zu aufgeregt.
„Da du offensichtlich zu viel Energie hast, wirst du nach dem Essen ein paar Runden mit Kale üben“, entschied er, während er einen Apfel aß.
„Ja, Vater“, sagte Rina reumütig und musste das Grinsen fast schon unterdrücken. Als ob ihr das zusätzliche Üben etwas ausmachte! Sie liebte das Spielen und Üben, weil es ihr oft half, einfacher in den Schlaf zu finden. Außerdem wusste sie, dass Kale gerne übte.
„Ich werde euch Gesellschaft leisten“, entschied er. „Also esst jetzt.“
Gehorsam fing Rina an zu essen und stieß Kale unter dem Tisch mit ihrem Bein leicht an. Wenn Vater zusah, musste sie sich extra Mühe geben. Das gefiel ihr sogar, wenn er dabei war.
Dieser stieß sie zurück an, weil er nicht wusste, was sie wollte.
Rina lächelte vor sich hin und erkundigte sich, wie es Vater ging. Ob ihm bewusst war, dass seine eigentliche Strafe eine tiefe Zufriedenheit bei ihr auslöste? Seitdem sie sich noch mehr bewegte, wurde sie auch stärker. Das mochte sie.
Gemeinsam aßen sie, bis der Schamane ein anderes Kind zu sich winkte, um mit diesem zu sprechen. Für Rina und Kale war das eine Entlassung. „Wir treffen uns bei Sonnenuntergang draußen.“
„Ja, Vater“, sagte Rina erneut und räumte dann mit Kale zusammen die leeren Teller weg, bevor sie nach draußen gingen. „Ich bin so froh, dass wir noch zusammenspielen können!“, flüsterte sie Kale zu und rieb sich ihren vollen Bauch.
„Ich hoffe, dass Vater nicht zu unerbittlich ist“, meinte Kale nachdenklich. „Er kann streng und fordernd sein, wenn er sehen will, was du kannst.“
Rina lehnte sich gegen die warme Hauswand und starrte vor sich hin. „Wie meinst du das? Ich möchte ihm doch zeigen, was du mir bisher beigebracht hast. Ist es denn falsch, wenn er etwas verlangt?“, wollte sie vorsichtig wissen. Wie streng Vater war, wenn es um die Übungen ging, wusste sie nicht. Bisher hatte sie noch keiner Übung der anderen beigewohnt.
„Nein, ist es nicht. Aber selbst, wenn wir beide müde werden, kann es sein, dass er uns weitermachen lässt“, erklärte Kale. „Wir werden so lange weitermachen, bis er sagt, dass es genug ist.“
Einen Moment lang schwieg Rina, bevor sie zustimmend nickte. „Dann wird es so sein. Ich habe keine Angst davor, todmüde vor ihm umzufallen, wenn ich ihm beweisen kann, was ich gelernt habe“, sagte sie ernst und nahm sich vor, sich nicht kleinkriegen zu lassen.
„Das ist eine gute Einstellung“, meinte Kale. „Aber beschwer dich morgen nicht über Muskelkater“, sagte er lachend.
Energisch schüttelte sie den Kopf. „Nein, das werde ich nicht“, versprach sie. Rina würde die Zähne zusammenbeißen und durchhalten. So, wie Vater es wohl erwartete. Ihr war bewusst, dass er manchmal testete, wie weit sie über sich hinausgehen konnten. „Lass uns spielen und uns aufwärmen. Ich freue mich darauf, wenn Vater kommt.“ Außerdem war der Übungsplatz gerade frei. Das sollten sie nutzen.
„Aber nicht zu viel, sonst sind wir schon kraftlos, wenn Vater kommt“, sagte er ernst. Aufwärmen wäre trotzdem gut.
„Du bestimmst“, sagte Rina versöhnlich und hakte sich bei ihm ein, um ihn mitzuziehen. Obwohl Kale größer war, ließ er sich ohne große Mühe mitziehen.
Sobald sie auf dem Übungsplatz, der ein großer Kreis war, standen und die Holzschwerter in den Händen hielten, begannen sie zu spielen.
Dabei vergaß Rina all die Stimmen um sich herum. Das Gelächter der anderen Kinder, die noch Kleinigkeiten erledigten und sich für die Nachtruhe vorbereiteten, hallte zu ihnen. All das würde in den Hintergrund geraten, wenn sie mit Kale spielte.
Sie tanzten förmlich umeinander und der Klang ihrer Schwerter spielte eine ganz eigene Melodie.
Die Geräusche zogen Rina in eine andere Welt. Alles, was sie wahrnahm, war lediglich Kale und sein Holzschwert. Seine Bewegungen und wie er auf ihre Angriffe reagierte.
Sie bewegten sich beide schnell und elegant, doch Rina selbst bekam das nicht so ganz mit. Sie konzentrierte sich darauf, dass sie Kale schlug, ihm auswich und versuchte, ihn zu Fall zu bringen.
Es funktionierte nur ganz selten, dass sie es schaffte. Dazu musste sie sich auch einiges einfallen lassen.
Rina bemerkte nicht, wie die Sonne langsam unterging und die Kinder sich ins Haus begaben. Auch nicht, dass es ruhiger um sie herum wurde.
Stattdessen versuchte sie, Kale mit Angriffen auf sein Schwert abzulenken. Sie traf es mittlerweile viel öfters, wobei es ihr noch an Kraft fehlte, es ihm aus der Hand zu schlagen.
Als sie es erneut traf und all ihre Kraft hineinlegte, ging sie gleichzeitig fast schon in die Hocke, um ihn mit ihrem Bein zu Fall zu bringen.
Kale, der damit nicht gerechnet hatte, schwankte, schaffte es aber gerade so, sich zu halten. „Gut so“, sagte er keuchend, während er einen Ausfallschritt machte und dann weitermachte.
Keuchend, weil Rina dadurch fast selbst ihr Gleichgewicht verlor, richtete sie sich wieder auf. Kales Lob bedeutete ihr viel. Immerhin war er schon viel weiter als sie. Deshalb gab sie auch nicht auf und versuchte mit kleinen Tricks immer weiter, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Dieses Mal gelang es ihr und Kale landete am Boden.
Kaum lag dieser, erklang ein einzelnes Klatschen, das über die Lichtung hallte. Es war kurz, knapp und sorgte dafür, dass Rina sich einen Schritt zurückbewegte und aufhörte. Sie kannte diesen Ton. So rief der Schamane die Kämpfenden zur Ruhe.
Sich den Schweiß von der Stirn wischend, blieb Rina stehen und atmete tief ein und aus. Stolz hielt sie Kale die Hand hin, damit er wieder aufstehen konnte. Den Blick zum Schamanen vermied sie, da sie völlig außer Atem war und sich nicht eingestehen wollte, wie müde sie durch das Spielen geworden war. Der kleine Sieg, Kale zu Boden gebracht zu haben, verlieh ihr Flügel.
„Macht weiter“, befahl der Schamane schließlich, klang dabei aber auch irgendwie zufrieden.
Fast schon automatisch nickte Rina und stellte sich Kale wieder gegenüber auf. Für einen Moment schloss sie ihre Augen und atmete tief durch. Sie durfte durch die Anwesenheit des Vaters nicht nervös werden oder sich ablenken zu lassen.
Mit ihrem Schwert stupste sie Kales an. Als Zeichen, dass sie beginnen konnten.
Der Tanz zwischen ihnen ging erneut los und elegant umrundeten sie sich, während sie weiterkämpften und versuchten, sich zu Fall zu bringen.
Es war wirklich schwer, Kale zu Boden zu befördern. Er hingegen schaffte es einmal, Rina fast in den Dreck zu werfen, doch sie wich mit einer schnellen Rolle geschickt aus, um ihn von der Seite anzugreifen. Allerdings traf sie nicht sein Schwert, sondern seine Hand.
Das sorgte dafür, dass Kale ein Stück zurückwich, doch er gab keinen Schmerzenslaut von sich. „Das war gut“, sagte er stattdessen stolz.
Rina lächelte, um ihren Schock, dass sie ihn dort getroffen hatte, zu verstecken. Es war keine Absicht gewesen, doch sie konzentrierte sich darauf, Kale wieder zu Fall zu bringen und ihm das Holzschwert aus der Hand zu schlagen. Das versuchten sie ständig, doch ihr Griff um den Knauf war bereits so fest geworden, dass es nur noch selten geschah.
Allerdings merkte Rina, wie erschöpft sie durch die viele Bewegung wurde. Ihre Kraft ließ nach, weshalb sie mehr versuchte, ihn zu verwirren und ihn müde zu machen. Aufgeben gab es nicht, sondern nur weitermachen und besser werden.
Zudem wollte sie ihren Vater stolz machen, der sie noch immer beobachtete. Sie wusste nicht genau, auf was er wartete, doch er schien ein Ziel zu haben. Bis dahin wollte sie durchhalten.
Solange er nichts sagte, würde sie auch nicht aufhören. Egal, was er erwartete.
Es war bereits dunkel, doch dank der Drachenaugen konnte sie gut genug erkennen, wie Kale sich bewegte. Auch jetzt störten sie die Geräusche um sie herum überhaupt nicht.
Durch die späte Abendstunde und der wachsenden Müdigkeit, schaffte Kale es letztendlich, Rina zu Boden zu befördern. Ein unbedachter Moment hatte ausgereicht. Keuchend und sich den Sand von der Stirn wischend rappelte sich Rina wieder auf. „Du bist unheimlich stark und ausdauernd“, bemerkte sie bewundernd und atemlos.
„Das reicht“, rief der Schamane, bevor er sich erhob und auf die beiden zulief. „Ihr seid ausdauernd. Das gefällt mir. Du hast viel gelernt, Rina“, lobte er.