Du brauchst viele Jahre, um jung zu werden - Barbara Bronnen - E-Book

Du brauchst viele Jahre, um jung zu werden E-Book

Barbara Bronnen

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Beschreibung

Wieso erinnert man sich gestochen scharf an Begebenheiten aus der Kindheit, hat aber vergessen, wie das Buch hieß, das man vor einer Woche gelesen hat? Warum reden Mutter und Tochter so oft aneinander vorbei? Bleibt man genauso unternehmungslustig, wenn die Gelenke nach dem Aufstehen nur noch langsam warm werden? Wie ist das, Sex im Alter? Johanna nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn sie ihre 75jährige Großmutter fragt, wie das ist, wenn man alt wird. Wie das ist, wenn man sich mit der heutigen Jugend vergleicht und mit der eigenen auseinandersetzt. Und Ada, die Schriftstellerin, antwortet ebenso aufrichtig wie überlegt. So entsteht ein offener und doch immer zartfühlender Briefwechsel über das Älterwerden, der vor allen Dingen eines deutlich macht: Alter ist eine Frage des Bewußtseins, nicht der Falten. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Barbara Bronnen

Du brauchst viele Jahre, um jung zu werden

Roman

FISCHER Digital

Inhalt

Für Bernd C. Hesslein und Renate [...]Meine liebe Johanna, [...]

Für Bernd C. Hesslein und Renate Bronnen, meine Vorbilder in der Kunst des Älterwerdens

Auf der MS ›Deutschland‹ zwischen Europa und Afrika, 14. Juli ’03

 

Meine liebe Johanna,

 

es ist fünf Uhr morgens. Ich bin früh aufgestanden – senile Bettflucht! –, um bei Sonnenaufgang auch bestimmt oben an Deck zu sein. Rundum Meer, in weiße Nebel getaucht, hinter mir Afrika, vor mir Italien, in einer guten Woche werden wir in Venedig sein. Ich freue mich auf die Streifzüge durch die geliebte Stadt mit meinen hundert alten Damen, die zuhören, lernen, fragen, sie hängen an meinen Lippen, und weil ich schreibe, glauben sie, ich wisse etwas. Dabei weiß ich immer weniger, je älter ich werde.

Viele alte Witwen, wie ich. Zunächst über seinen Tod nicht überrascht. Danach aber kommt das Verrücktsein. Und dann die Einsamkeit. Wanderschaften, um ihr zu entfliehen. Schließlich die Hinfälligkeit. Und eines Tages trifft es einen selbst.

Rundum Meer – und das Schiff mittendrin, randvoll mit Vergangenheit, voll mit alten Leuten.

Unter uns Trümmer versunkener Schiffe, Wracks in den Tiefen des Meeres. Schiffsgerippe, die das Meer nicht preisgibt. Eine Warnung: Es gibt keine Grenze zwischen Erkundungsfahrt und einer Fahrt ohne Wiederkehr.

Diese Reise ist anders als alle, die ich bisher unternommen habe, wenn mich das Goethe-Institut nach China schickte, nach Finnland oder Amerika, um aus meinen Büchern zu lesen. Zum ersten Mal ließ ich mich von der Deilmann-Reederei anheuern, um an Bord des Flaggschiffs MS ›Deutschland‹ aus meinen Büchern zu lesen, mit den Passagieren darüber zu plaudern und sie zum Abschluß durch Venedig zu führen. Dort ist ein Lesezyklus in der Assoziazione Culturale Italo-Tedesca geplant.

Mich lockt nicht nur das Geld (daß ich deshalb hier bin, brächte mein Publikum ganz schön in Verlegenheit!), sondern auch die Ruhe, der Luxus, die Bühne des Meeres mit all ihren Requisiten. Der Widerschein von Himmel, Sonne und Wolken, die Farbtöne am Morgen, am Abend, bei Sturm und bei Sonne, die Geheimnisse der Navigation, die ich dem Kapitän abluchse, die Seemöwen, unsere Reisegefährten, mit denen ich Bande knüpfe, die Matrosen mit ihren gegerbten Gesichtern: hier altert die Haut rascher als der Geist.

Und wenn die Nacht dann herabsinkt, daß man von den Wogen nichts mehr bemerkt außer einem klatschenden Geräusch und dem dunklen Gemurmel unter dem Bauch des Schiffes, und sich das Leben auf das große Dinner mit hundert Gedecken beschränkt, dann studiere ich, wie Sonne, Wind und Wellen das Verhalten der Menschen prägen. Ich habe zugehört und bemerkt, daß das durchsichtige Firmament die Menschen offener macht, sie gehen direkter mit ihren Körpern um, gleichgültig, wie alt sie sind. Das Meer als Szenerie, als Erfahrung und als Ereignis: Der Meerbusen, der Schoß, die Meerestiefe und die Bucht. Das Meer ist absolut und sein Alter relativ – das fordert ebenso heraus, wie es angst macht.

Doch warum schreib ich Dir das alles? Deine Großmutter, die manchmal schon vorsichtig an der Reling entlanggeht – zunächst einmal ist sie selber alt. Dennoch fragt sie sich immer wieder: Was habe ich hier eigentlich verloren? Alt – und doch scheint es in meinem Denken ab und zu eine Häutung zu geben.

Ich bin seltsam nachdenklich geworden auf diesem Schiff, das doch Schutz verspricht. Mit der Dämmerung kommt ein heftiger Wind auf, mein Nachttisch ist winzig und schmal, bei Wellengang wirft es mir die Bücher herunter. Die Klimaanlage macht Zug in der kleinen Kajüte und bauscht den Vorhang vor dem Bullauge. Fortstehlen gilt nicht, mitmachen will ich nicht. Das Rentnervergnügen an ausgedehnten Reisen und die zunehmende Verwandlung meiner Literaturgruppe in ausgelassene Urlaubernaturen ist mir unbegreiflich. Sie verwirklichen ihr anderes Ich, das sportliche, fröhliche, weißt Du, das Goldene Alter. Mühsam, ihrem Frohsinn nicht mit Verlegenheit und Ablehnung zu begegnen. Es ist eine mir unangenehme Mischung aus Angst, Unbescheidenheit und Leere, die diesen Aktionismus fördert. Ich finde das weder sinnvoll noch angemessen. (Wußtest Du übrigens, daß der tägliche Energieverbrauch für so einen Luxusdampfer dem einer Kleinstadt entspricht?) Und die Kulisse des Meeres läßt das Ganze noch absurder erscheinen – dieser forcierte Übermut und diese jugendliche Kleidung schreien geradezu nach einem Hafen, nach Gestade.

Hier sieht man genau, daß das Meer die Spreu vom Weizen trennt – es fordert Haltung und Stil. Die Art, wie jemand sich vor dem Meer bewegt, läßt uns erraten, wer er ist und woher er kommt. Wie leicht wäre hingegen hier die Gestalt Deiner Urgroßmama – meine Mutter mit ihrem altmodischen weißen Kleid und dem brüchigen Strohhut mit dem rosa Band, der seit Jahrzehnten auf ihrer Kommode liegt! Für sie wäre das Meer ein Ort der Begegnung und der Ruhe. Still und bescheiden säße sie an Deck, bemüht, wenig Platz einzunehmen, und in ihren graublauen Augen glitzerte das Meer. Die Stille des fortgeschrittenen Lebens, das seine Geschichte hat, ohne davon Gebrauch zu machen.

Du bist doch da für Deine Urgroßmutter, wie versprochen, du bist doch da? Das ist für mich beruhigend. Sie braucht nicht viel, das weißt Du, außerdem, Deine Mutter ist ja immer gehetzt und Emanuel bereitet gerade seine Ausstellung vor.

Du fehlst mir, meine kleine Johanna, Quatsch: große! Wenn Du Zeit hast, schreib mir mal ans ›Gritti‹ in Venezia; nach Stationen in Tunis und Palermo bin ich dort noch fünf Wochen. Warum? Erst einmal ist es meine Arbeit, Lesereisen zu unternehmen. Zum anderen: Du kennst meinen Aberglauben, nicht über meine Pläne zu sprechen. Weiß Gott nicht nur, um vorüberziehende Schiffe oder schöne alte Männer zu betrachten! Hast Du immer noch grüne Haare?

 

Deine Ada.

 

 

 

München, 18. Juli ’03

 

Ada, meine liebe Groß-Mamma,

 

weißt Du noch, Marokko, Marrakesch? Nur rasch ein paar Zeilen zwischenrein, weil ich weiß, daß Du Dich freust. Dein Brief aus Tunis hat mir wieder unsere schöne Marokko-Reise in Erinnerung gerufen, mein Gott, waren wir ausgelassen!

Erinnerst Du Dich noch, wie wir in Marrakesch, unsere Gesichter wie Musliminnen mit Tüchern getarnt, vorsichtig aus der Hotelhalle spähten und dann in wilder Panik zu unserem Mietauto gerannt sind, um die Meute der aufdringlichen Fremdenführer abzuschütteln? Tagelang sind wir in den verwinkelten Gassen herumgezogen, von Glück- und Segenswünschen verfolgt, durch Museen und Moscheen, duftende Kaffeehäuser, Gewürz-, Seiden-, Leder- und Goldmärkte. Bis wir schließlich in einem der grünen Gärten mit ihrem künstlichen Vogelgezwitscher gelandet sind, um den rosa Tiepolo-Sonnenuntergang zu erwarten.

Die rosa Brille muß ich irgendwo verloren haben. Wenn man fünf Stunden eine alte verwirrte Frau gepflegt hat, ist die Welt nicht mehr farbenfroh. Da hat man sämtliche schönen Museen vergessen, die ausschweifende Abschlußfeier in der Akademie und die anschließende Reise, Dein tolles Geschenk, und sitzt abends völlig abwesend vor seiner Staffelei. Die Farbe tröpfelt auf deinen Rock und deine Bilder sind erschreckend farblos. Eigentlich nähmst du am liebsten nur Schwarz.

Mit Uroma ist etwas Merkwürdiges passiert. Etwas sehr Merkwürdiges. Und es wird immer merkwürdiger von Tag zu Tag. Es ist schlicht eine Tragödie.

Als Du wegfuhrst, ging es ihr für ihre vierundneunzig noch gut. Alle, die sie besuchten, haben sich mit einem ungläubigen Kopfschütteln wieder entfernt, so gutaussehend und geistreich fand man sie. Schon der Eintritt in ihr rosa und hellblaues Zimmer, ihre hellen und wachen Augen und ihre hastigen Jungmädchenschritte brachten die ganze Welt in Ordnung. Ich hab nie darüber nachgedacht, daß sich das jemals ändern könnte. Wirklich, ich hab gedacht, daß das ewig so weitergeht.

Es war beruhigend.

Seit einiger Zeit aber ist es vollkommen anders. Sie schaut nicht mehr hübsch aus und wäscht sich nicht. Ihr Gesicht ist irgendwie seltsam verrutscht. Beim Gehen schaltet sie in den falschen Gang und läuft gegen den Schrank. Plötzlich hat sie keine Kraftreserven mehr, sitzt da und weint. Sie braucht Windeln und wenn wir nichts bringen, ißt sie nichts.

Und das Schlimmste: Sie ist geistig gebrochen. Mit einem Mal hat nichts mehr für sie einen bestimmten Namen. Alles ist irgendwie namenlos oder austauschbar: Einen Stuhl nennt sie ein Bett, den Tisch ein Buch. Alle Dinge scheinen Teile eines unbekannten Sterns zu sein.

Das macht mich krank. Ich bin in Panik und habe das Gefühl, daß es, was Alter und Tod betrifft, tausend Dinge gibt, an die ich noch nie einen Gedanken verschwendet habe. Das alles war so weit von meinem Leben entfernt. Es war so einfach.

Jetzt plötzlich verändert sich was. Ich bin durchlässig geworden. Auf einmal prallen die Katastrophenmeldungen in den Zeitungen zur »Überalterung« (schreckliches Wort!) unserer Gesellschaft nicht mehr an mir ab. Ich brauch nur den Fernseher anzuschalten – schon entwickelt irgendein Politiker ein neues Konzept, wie man die überzähligen Alten am besten um die Ecke bringen kann. Die ganze Diskussion bringt mich auf und raubt mir den Schlaf.

Kurz: Mit einem Mal entdecke ich rundum nur Riesenprobleme – emotionale, soziale und finanzielle – und Alte, die eine hoffnungslose Zukunft vor sich haben. Selbst die Jungen grübeln vor ihrer Cola, wann für sie der rechte Zeitpunkt zum Verscheiden gekommen ist. Sechzig ist zu früh, siebzig kein guter Zeitpunkt, achtzig goldrichtig, die bittere Pille zu schlucken. In diesem Augenblick sehe ich mich selbst, über Jahrzehnte hinweg, eine einsame Alte, und blicke auf meinen verlassenen Tod …

Wirklich, ich möchte niemals alt werden, schon der Gedanke macht mich krank. Natürlich fürchte ich mich davor, natürlich habe ich Angst, natürlich habe ich Alpträume.

Mutter und ich sind wie im Schockzustand. Und da kommt Dein Brief, Groß-Mamma, in meiner tiefsten Verzweiflung, der Brief vom Flaggschiff der alten Leute! Wirklich, da hast Du nichts verloren, Du in Deiner letzten Jugend, der Jugend Deiner fünfundsiebzig Jahre! Ich hab Dich immer nur jung gekannt!

»Warum schreib ich Dir das alles?« fragst Du Dich, ja warum? Weil ich Dich brauche, deshalb! Gerade Du mit Deiner gut formulierten Sicht von der Welt, lesbar in Deinen Büchern, Du kannst mir helfen. Schreib mir. Sprich mit mir. Eins ist mir klar: Nur wenn ich stark genug bin, wissen zu wollen, kann ich es schaffen, da hindurchzukommen. Na los. Hilf mir, das Leben trotz Alter und Tod wieder herrlich zu finden. Jetzt rauch ich noch eine. Ist eh egal.

 

Deine Johanna.

 

P.S. Schon zwischen Tür und Angel, zwischen Aktzeichnen, Uroma und Chorprobe, die Frage: Wie ist das eigentlich, alt zu werden, wie hält man das aus?

 

Deine Johanna.

 

P.S. Meine Haare sind jetzt rabenschwarz.

 

Deine Kleine.

 

 

 

Venedig, 26. Juli ’03

 

Meine liebe Johanna,

 

es tat gut, Deinen Brief zu bekommen. Du vermißt mich und willst von mir etwas erfahren. Das wärmt und gibt mir das Gefühl, tatsächlich über Wissen zu verfügen. Du denkst, daß ich darüber reden möchte? Über Alter und Tod? Bekommst Du das von Deinem Dürer nicht handgreiflicher erklärt? Nein?

Das legt aber auch eine Last auf meine Schultern, denn beim Altwerden geht so vieles fast unmerklich vor sich – höchste Zeit, mich intensiver damit zu beschäftigen.

Natürlich bekümmert und verstört Dich die Hinfälligkeit meiner Mutter und macht Dich traurig, nicht anders als mich. Tatsächlich schienen sich über Jahrzehnte die reifen Jahre fortzusetzen. So daß wir glaubten, bei ihr würde das Alter sozusagen stillschweigend übergangen.

Nun plötzlich dieser Bruch. Von heute auf morgen hat sie ihre Unabhängigkeit verloren und Deine Mutter und Du, Ihr müßt sie versorgen. Das tut natürlich weh. Und bringt Dich auf.

Vielleicht besitzt ihr Körper einfach nur ein Gefühl für Anstand?

Jedenfalls, sie kann durchaus sterben. Es ist allerdings ein seltsam berührender Gedanke, daß meine Mutter eines Tages aufhören wird zu sein, daß alles ohne sie weitergeht. Daß ich eines Tages mit einer kleinen Schaufel ein wenig Erde auf sie häufen werde, in ihrem kleinen Sarg. Daß ich mit lehmigen Schuhen wieder nach Hause gehen werde, nachdem die Trauergäste ihre Kränze niedergelegt und ein paar Worte mit mir gesprochen haben.

Trotzdem denke ich daran auch mit einer gewissen Gelassenheit. Es ist wirklich. Und nur weil es so unglaublich wirklich ist, können wir es so schwer ertragen.

Ich weiß, daß Dich das enttäuscht, denn ich kann Dich damit nicht beruhigen. Wen beruhigt es schon, daß er eines Tages diese Welt verlassen muß? Deine Mutter bombardiert mich mit alarmierenden Telefonaten. Vielleicht gelingt es Euch jetzt, einander wieder näherzukommen? Aber ich mische mich da nicht ein; ich will mich nur auf das einstimmen, was Du wissen möchtest.

Das Alter. Sieh ihm ins Gesicht. Es ist da, ob Du willst oder nicht.

Vermutlich ist das, was sich bei uns in Deutschland abspielt, nur eine Vorahnung dessen, was eines Tages in der Welt stattfinden wird. Die ganze Welt wird eines Tages von dem geringeren Teil der Menschen, die Arbeit haben, abhängig sein, in ihrem Lebensstandard. Früher hat knapp die Hälfte der Bevölkerung Arbeit geleistet, heute sind wir von der Arbeit eines Fünftels abhängig. Und immer weniger Menschen werden sie finden. Das macht einen Großteil der Menschen – vor allem die alten – zu ohnmächtigen Kreaturen.

Lieb von Dir, daß Du glaubst, ich als Schriftstellerin wisse über die Dinge Bescheid, viel besser als einer, der Schuster oder Busfahrer ist. Dabei braucht man viel Mut, Erfahrung, Ausdauer, Zuversicht, Kraft und Geduld, um einen Bus zu fahren. Ich will damit sagen, ich kann Dir bestenfalls Hinweise geben. Lebenshilfe jedenfalls nicht – das habe ich in meinen Büchern stets geflissentlich vermieden. Sicherheiten kann ich schon gar nicht bieten.

So, das Frühstück droht. Dazu lese ich, wie gewünscht, aus meinem Hotelroman. Und dann geht’s weiter mit dem Altedamenverein.

Ich blicke auf den silbrigen Canal Grande hinab und auf die silbrigen Köpfe, die nach und nach auf die Terrasse kommen. Ich kriege jede Menge doppelsinniger Komplimente, in denen stets der Gedanke ›für Ihr Alter …‹ mitschwingt. Gestern hätte ich bei meiner Lesung beinahe gekichert, als mir eine Geschichte meiner Mutter einfiel. Du weißt doch, jedes Jahr fuhr sie zweimal nach Meran, zur Baumblüte und zur Weinernte. Und als kurz vor ihrem 90. Geburtstag das erste Mal ihre Müdigkeit siegte und sie zu Hause blieb, sagte sie nur: »Was soll ich denn in Meran, unter lauter Alten.«

 

Ich bin nach der Lesung geflohen, um allein zu frühstücken, und ließ mir gerade ein herrliches Frühstück in meiner kleinen Suite auf den Balkon servieren. Das Problem ist, daß ich mir das nur leisten kann, weil die ›Deutschland‹ die Kosten übernimmt und quasi die Zeit des Nichtschreibens bezahlt. Dafür versuche ich das Denken meiner alten Damen ein wenig zu verändern – schön, wenn man mich dafür entlohnt!

Übrigens bewohne ich keine 2000-Euro-Suite, sondern eine kleine Wohnung in der Mansarde des ehrwürdigen ›Gritti‹, eine Art chambre de bonne, mit Blick auf die silbernen Schnäbel der schwarzen Gondeln, die vorübergleiten, meist Japaner an Bord. Gar nicht übel, aber ein wenig schwerfällig eingerichtet, orientiert an den Luxusappartements. Am kleinen Empire-Schreibtisch mit verschnörkeltem Fuß ein Arrangement weißer Lilien und weißer Rosen, ein Empire-Toilettetisch, verspiegelt, mit indirekter Beleuchtung. Ein in die Mahagonitäfelung eingelassenes Bett mit Brokatverspannung, von einem venezianischen Leuchter in dumpfem Rosé diskret beleuchtet. Echte Perser, goldbraunsamten bezogene Stühle. Eine Tizian-Kopie pompös überm Bett. Nehme an, Deilmann hat eine Sondervereinbarung mit dem Gritti-Konzern.

Eine künstliche Umgebung, in der ich mich wie eine Schauspielerin fühle, die, kaum senkt sich der Vorhang, zu einem Nichts zusammenschrumpft. Dieser Luxus verbindet mich mit den Königinnen und Königen, den Premierministern und Präsidenten, den Literaturgrößen und Unsterblichen des Films, der Oper und des Theaters, die dieses Haus einst schmückten. Und wie überall in Venedig riecht es modrig und feucht, außen herausgeputzt, innen wuchert der Schimmel. Das üppige Panorama des 16. Jahrhunderts, das der Doge Andrea Gritti aufzog, Abkömmling eines Geschlechts, das nach dem Tod eines Dogen verkündete: Però ne faremo un altro – machen wir einen neuen!

Die Italiener haben es immer verstanden, den Tod pragmatisch hinzunehmen, ohne unseren Hunger nach Dramatischem und Tragischem: La vita è così! Wir Deutschen handeln ja immer vom Vergangenem und scheuen das Jetzt. Und wenn wir davon sprechen, tun wir es nicht gerade mit Überzeugung – siehe politische Debatten. Unsere Politiker scheinen selbst nicht daran zu glauben, daß noch etwas Neues möglich ist. Und statt Freude zu zeigen, daß die Menschen älter werden und etwas daraus zu machen, malt man gleich eine Katastrophe an die Wand, die die gesamte Menschheit bedrohe. Dabei lechzen die meisten Alten danach, gebraucht zu werden, und sind noch recht jung im Kopf.

Doch, Du hast recht, meine altersdurchdrungene Natur mit Deinen Fragen zu belästigen. Ich merke schon, ich habe Blut geleckt. Gut, versuchen wir es.

Also statt grün nun schwarz, Dein Haar. Und wie ich Dich kenne, schwarz auch der Rest. Wie zum Hohn wollen heute die Jungen den Blick auf die Sterblichkeit lenken. Dagegen die Farbigkeit der Alten um mich; sie schauen sich in die Augen, als wollten sie sagen: Pardon! Ich bin alt. Dafür leuchte ich wie der Sonnenuntergang. Wozu die Augen der Freundin höflich bedeuten: Schön, meine Liebe, so merkt man es kaum.

 

In Liebe, Deine Groß-Mamma Ada.

 

 

 

München, 28. Juli ’03

 

Liebe liebe Groß-Mamma,

 

es ist alles wirklich schrecklich und ziemlich schizophren. Mutter ist geschäftlich verreist – irgendeine ungeheuer wichtige Sache für ihren Pharmakonzern –, und Uroma spielt mehr denn je verrückt und führt mich an der Nase rum: Mal ist sie unauffindbar in ihrer Alzheimerschen verborgen, dann wieder taucht sie unvermutet auf und wirkt völlig normal … Nimmt es plötzlich wieder wahr, das Grün der Linden vor ihrem Fenster, den Geruch des Kaffees und das Rauschen des Windes. Der Zugang zu ihrem eigenen Zustand ist ihr nicht mehr versperrt. Das heißt auch, sie geht mit anderen Augen durch die Welt – für sie keine Wohltat. Denn dann ahnt sie die Wahrheit, weiß, daß sie ihr Gedächtnis verliert.

Ach Gott, sagt sie, nein, das nicht, nein! Und weint. Ein armes, schutzloses Ding, das Angst hat, zu verdummen und total ausgeliefert zu sein. Sie klammert sich wie eine Ertrinkende an mich, hilf mir, sagt sie, Johanna, hilf!

Dann taucht wieder ihre alte Widerborstigkeit auf, weißt Du, die Herrschaftsallüren. Neu ist dabei die Rolle des Stocks: Sie weist damit auf ein Papierchen am Boden oder mißbraucht ihn, um mich zu piesacken, wenn ich nicht schnell genug bin. Ich bin ja nicht herzlos, aber das ist die unterste Ebene, das ist unmöglich.

Ich sitz noch bei ihr und trau mich nicht weg. Denn urplötzlich war wieder der alte Zustand da und sie findet nicht ins Bett. Ist Altwerden ansteckend? Früher, in der Schule, was haben wir über das Wort »Flatterarm« gekichert – gestern stellte ich fest, bei mir hat es schon angefangen. So glatt, wie sie mal waren, sind meine Arme nicht mehr. Ein leichtes Kräuseln an der Innenseite des Oberarms ist unübersehbar, vor allem bei Sonnenlicht. Auch unter den Augen die ersten Fältchen. Ich kann das nicht ausstehen. Wozu ist das gut?

Natürlich macht mir das was aus. Die Leute, die behaupten, sie machten sich nichts draus, wie sie aussehen, lügen. Man sieht einfach entsetzlich schlampig aus mit Falten!

Gestern abend hab ich eine heiße Wanne genommen, um mich zu beruhigen, und ging danach, noch dampfend, vor den großen Spiegel. Klar, noch bin ich irgendwie jung – aber schon irgendwie. Ich bin ja kein Idiot. Ich hab durchaus ein Gespür dafür, wo’s mit dem Altwerden schon anfängt und wo’s wirklich abscheulich wird. Unterm Kinn zum Beispiel, da verdoppelt es sich jetzt schon. Die verräucherte Lunge wenigstens sieht man nicht. Mein Bauch allerdings könnte straffer sein.

Ich hab ziemlich lang in den Spiegel geguckt, die Augen zusammengekniffen und meinem Alter ins Gesicht gesehen. Eine Schöne wie Du bin ich eh nicht. Klein, krauses, eigentlich mittelblondes Haar, undefinierbare Augenfarbe zwischen Grün, Grau und Blau, alles von Mutter geerbt. Die sieht zur Zeit übrigens ganz schrecklich aus, weiß und verhärmt, das blondgefärbte Haar strohig und ganz aus der Fasson. Wechseljahre, auch so eine nette Sache, die das Leben für uns bereithält. Ich hasse es, sie so zu sehen, weil mir das Angst vor meiner Zukunft macht, vom sexuellen Fiasko einmal abgesehen.

Pappa brennt mit seiner Schülerin durch, sie tut nach außen ruhig und vernünftig, sucht sich eine Stelle und tröstet sogar Uroma, die Pappa liebt – aber an mir läßt sie’s aus, ihre ganze beschädigte Seele. Seit Pappa weg ist, nur einmal einen Mann!

Aber ich vergeß schon wieder meine Neujahrsgelübde, liebevoller, wenigstens vorsichtiger (oder mitleidiger, denn sie tut mir echt leid!) im Umgang mit ihr zu sein. Ich krieg’s einfach nicht hin! Immer gibt sie mir Ratschläge – ich kann’s nicht ertragen.