Fliegen mit gestutzten Flügeln - Barbara Bronnen - E-Book

Fliegen mit gestutzten Flügeln E-Book

Barbara Bronnen

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Beschreibung

Barbara Bronnen folgt in ihrem Porträt den Spuren der letzten entbehrungsreichen Jahre im Leben der Ricarda Huch und erinnert an eine heute fast vergessene Dichterin und mutige Frau. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Barbara Bronnen

Fliegen mit gestutzten Flügeln

Die letzten Jahre der Ricarda Huch

FISCHER Digital

1933–1947

Inhalt

Für Antje Lemke, Elke [...]»Denke aber daran, wie [...]1 Die letzten Lebensjahre erzählen2 »Zu stolz, um nicht mutig zu sein«3 »Meine Bücher werden immer weniger gelesen«4 »Der Himmel ist grau«5 Oberer Philosophenweg 726 »Meine Hände sind noch voll Frost«7 »Und kein Krieg, keine Bomben, keine Nazis mehr!«8 »Eine große deutsche Schriftstellerin bittet um Material«9 »Immer nur Briefe schreiben«10 »Daß mir die Tränen übers Gesicht liefen«11 »In diesem Sklavenlande«12 »Ich sitze in einem Prunksessel und tue nichts«13 »Ich wußte nur das eine: ich kann nicht mehr …«14 In memoriam Ricarda HuchAnhangZur Edition der »Bilder deutscher Widerstandskämpfer«Benutzte LiteraturWerkausgabeEinzelausgabenBriefausgabenSekundärliteraturEditorische NotizBildnachweisDanksagung

Für Antje Lemke, Elke Fröhlich und Gisela Fichtl, die das Buch begleiteten

»Denke aber daran, wie kurz das Leben ist, und wie schön der Himmel, die Wolken, die Berge, die Blumen, die Tiere, und wie unglücklich die Menschen meistens sind, und wie viel man ihnen sein kann. Und es gibt so schöne Gedichte, deren Klang einen entzückt. Du bist natürlich noch zu jung, um Dir bewußt zu sein, wie bald man das alles verliert, davon scheiden muß. Es ist aber doch gut, sich von Zeit zu Zeit vorzuhalten, was für ein köstliches Gut das Leben an sich ist.«[1]

 

Ricarda Huch an Elsbeth Merz, Jena, 26. Februar 1946

1 Die letzten Lebensjahre erzählen

Ricarda Huch, um 1946

 

 

 

Sie schaut mich an, aufrecht und ungebrochen, mit Augen, die ohne Abwehr in die Kamera blicken. Eine fast hypnotische Wirkung geht von der Iris aus. In der Nachdenklichkeit des Blicks liegt gelebtes Leben: Mehr als ein dreiviertel Jahrhundert Geschichte hat den Charakter der Historikerin und Dichterin Ricarda Huch geformt, aber auch Risse hinterlassen – feine Risse, wie bei einem alten Seidentuch.

Sie trägt eine weiße Duchesse-Bluse, darüber eine extravagante schwarze Samtjacke mit einem Art-déco-Muster, die sie noch zarter und durchsichtiger macht. Die mit zwei Ringen geschmückte Rechte stützt lässig das Kinn. Die Nasenflügel sind leicht gebläht, der kluge Zug um den Mund hat sich zweifellos verstärkt.

Meine Neugier ist geweckt. Das ist nicht das übliche Bild einer Achtzigjährigen, wie es uns die Porträts unserer Vorfahren zeigen, die in ihrer Unberührbarkeit etwas Gespenstisches haben. Das ist kein Bild, auf dem die Zeit stehengeblieben ist. Je länger ich es betrachte, desto mehr Fragen stelle ich mir, Fragen nach dem Lebensweg dieser außergewöhnlichen Frau, ihren inneren Kämpfen, ihren Brüchen und Widersprüchen, ihrem Wissen, ihren Gefühlen.

Ihr Gesicht zeigt eine würdevolle Art zu altern, ohne die Senkfalten und den vertieften Ausdruck der Unzufriedenheit, wie er Gesichter und Körper unserer Zeit prägt. Fest und zerbrechlich zugleich, ist sie sich ihres Alters voll bewußt, hat es längst angenommen. Man spürt, daß sie nichts bedauert.

In ihrer Erhabenheit aber liegt auch etwas Einschüchterndes und Irritierendes. Um so mehr drängt es mich, etwas über die Zeiten, Orte und Menschen zu erfahren, die dieses Leben in ihren letzten Jahren berührt haben. Wie sah das letzte Lebensjahrzehnt der Ricarda Huch zwischen 1933 und 1947 aus? Wie überstand Ricarda Huch die Nazizeit in Jena? Wie erlebte sie die Nachkriegszeit? Was schrieb sie?

 

Sechzig Jahre sind seit ihrem Tod vergangen. Von den 12000 Seiten ihrer Gesammelten Werke sind nur mehr Der letzte Sommer, Der Dreißigjährige Krieg und Der Fall Deruga im Handel. Ihren Namen kennt der eine oder die andere noch, doch ihre literarischen Geschichtswerke, zu ihrer Zeit viel gelesen und in hohen Auflagen erschienen, sind heute weitgehend unbekannt. Ihr Buch über Die Romantik, das erfolgreichste ihrer Bücher, heute durchaus wieder ein Thema, oder ihre Romanbiographie Michael Bakunin und die Anarchie – verschwunden.

Von ihrer Lebensgeschichte gibt es nur Bruchstücke. Mit der eigenen Vergangenheit sich zu beschäftigen war für sie, »wie wenn man einer Katze das Fell verkehrt herum streicht«. Die Jugendbilder sind in den Gesammelten Werken erschienen.[2] Die Briefe ihrer Jugendjahre, die ausführliche Korrespondenz mit ihrer Großmutter Emilie Hähn wurden von ihren Angehörigen vernichtet, wohl, um die skandalöse Liebe zu ihrem Cousin und Schwager zu vertuschen. Mehr als 1000 Briefe sind erhalten geblieben und bilden einen Teil des Ricarda-Huch-Archivs im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. 1950 veröffentlichte Marie Baum, die langjährige Freundin seit den Zürcher Studienzeiten, postum eine Auswahl von Briefen in ihrer Biographie Leuchtende Spur. Das Leben Ricarda Huchs, 1955 brachte sie die Auswahl Briefe an die Freunde heraus, die 1986 von Jens Jessen für eine Neuausgabe überarbeitet und ergänzt wurde. 1994 erschien der Briefwechsel mit Elisabeth und Heinrich Wölfflin, der Briefwechsel mit Joseph Viktor Widmann ist nur noch im Antiquariat zu finden.

Ricarda Huch wird weder in der Schule noch an Universitäten gelesen. In der Literatur über die Nazi- oder Nachkriegszeit taucht ihr Name kaum auf. Historiker, die ich befrage, geben zu, wenig über Ricarda Huch zu wissen. Hält man sie für plüschig, antiquiert? Mag sein, daß ihre uns manchmal altmodisch anmutende hochangesetzte Sprache irritiert. Dennoch ist, sie heute wieder zu lesen, eine überraschende Erfahrung.

Nur noch wenige Zeitzeugen haben mir von Ricarda Huchs letzten Lebensjahren erzählt. Die Biographen behandeln die Jenaer Zeit knapp. In der Biographie von Else Hoppe, die noch zu Ricarda Huchs Lebzeiten mit ihr korrespondiert hat[3], und in Cordula Koepckes Biographie[4] spielt diese Zeitspanne eine marginale Rolle. Anne Gabrisch widmet sich ausschließlich Ricarda Huchs Liebesgeschichte mit ihrem Cousin und Schwager Richard Huch.[5] Ruth Rehmann[6] und Renate Feyl[7] haben bewundernde essayistische Betrachtungen verfaßt.

Es ist das Verdienst des früheren Leiters des Stadtmuseums in Jena, Wolfgang Wahl, uns in seiner Schrift Ricarda Huch. Jahre in Jena[8] ihr letztes Lebensjahrzehnt nähergebracht zu haben. Auch Wolfgang M. Schwiedrzik greift in seinem verdienstvollen Buch Ricarda Huch. In einem Gedenkbuch zu sammeln … Bilder deutscher Widerstandskämpfer[9] die Thematik auf. Ihm verdanken wir den Abdruck eines Teils ihrer Korrespondenz mit den Angehörigen deutscher Widerstandskämpfer, die im Münchner Institut für Zeitgeschichte und im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar archiviert ist.

 

Dieses Buch hat sich zum Ziel gesetzt, die Entwicklung der 1864 geborenen Dichterin und Autorin einer literarischen Geschichtsschreibung, Ricarda Huch, in ihrem letzten Lebensjahrzehnt, eingebettet in ihre Zeit und ihren Alltag, zu erzählen. Das Porträt eines Lebensabschnitts muß dabei erfahrungsgemäß auf vieles verzichten, was das frühere Leben und das bisherige Werk betrifft. Andererseits begegnen wir in Ricarda Huch einer Schriftstellerin, die wie kaum eine andere besondere langjährige freundschaftliche Beziehungen zu bedeutenden Persönlichkeiten ihrer Zeit pflegte und die in ihrem umfangreichen Briefwechsel mit den Freunden detailliert von den Besonderheiten ihres Lebens berichtete. Das reiche Briefmaterial aus der Zeit des Nationalsozialismus, des Kriegsendes und aus ihrem aktiven und politisch engagierten Leben in der Sowjetischen Besatzungszone wurde bislang wenig ausgewertet, obwohl Ricarda Huch durchaus um das Interesse, das ihre Briefe finden würden, wissen mußte und ihre Briefe auch im Hinblick auf künftige Leser verfaßte. Ricarda Huch, die Kennerin der Romantik, knüpfte mit ihren Briefen an die Briefkultur der Frauen der Romantik an und stellte einen imaginierten Dialog mit uns, den Leserinnen und Lesern, her. Für sie lag das eigentliche, politische Wesen der Freundschaft im Gespräch, ob mündlich oder schriftlich, und ihr Gespräch galt immer der gemeinsamen Welt, die menschlicher wird, wenn in ihr eine menschliche Stimme erklingt.

Selbststilisierung gestattete sie sich dabei nicht, und doch stellt sich die Frage, ob sie nicht stets eine Öffentlichkeit im Auge hatte. Große Schriftsteller achten voll Stilempfinden darauf, wie und was sie schreiben. Ricarda Huch mußte in jenen Zeiten, in der es weder Fotokopierapparate noch Faxe gab, damit rechnen, daß ihre Briefe vorgelesen und verbreitet wurden. Ein bewußtes Schreiben für die Nachwelt? Immer im Kopf, eines Tages in Archiven zu landen? Da sich in den von Marie Baum besorgten Briefausgaben keine einzige indiskrete Zeile findet, ist zu vermuten, daß sie sich mit Ricarda Huch abgesprochen hat.

Die Autorin historischer Romane, eines reichen lyrischen Werks und poetischer Geschichtsschreibung war nie involviert in literarische Strömungen, wie auch ihren historischen Arbeiten keine Theorie zugrunde lag. Die Geschichte war ihr Leben, sie war Struktur, Entwicklung und Sinn. Ricarda Huch hat im Alter der Versuchung widerstanden, mit fertigen Bildern weiterzuarbeiten und sich darin bequem einzurichten. Sie schuf sich eine neue Grundlage und beschritt einen neuen Weg. Das macht ihre letzte Lebensspanne so bemerkenswert: Es ist das Leben einer Frau in einem Zwischenraum, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, geprägt von zwei Weltkriegen, von politischen Umstürzen, Entbehrungen, Umzügen und Repressionen, einer Frau, die in hohem Alter eine andere geworden ist.

Das Faszinierendste an der späten Ricarda Huch ist die Leidenschaft, mit der sie sich in ihrem letzten Lebensjahrzehnt, in dem man normalerweise weniger flexibel reagiert, aus der Spur tritt und sich einem neuen Leben zuwendet, erfüllt von neuerworbener sozialer und politischer Kompetenz. Ist die Offenheit, mit der sie sich Fragen stellt und mit neuen Erfahrungen konfrontiert. Ihr Ziel war es, durch ihr Verhalten ebenso wie durch ihr letztes Buch, das Gedenkbuch zum Widerstand, daran mitzuwirken, daß nach 1945 ein anderes Deutschland entstand, und den Anfängen zu wehren, die dies verhindern könnten. Die Freude des Neuanfangs, unbeschadet vom hohen Alter, das ist es, was sie uns vorgelebt hat.

2 »Zu stolz, um nicht mutig zu sein«

Arbeitssitzung der Sektion für Dichtkunst in der Preußischen Akademie der Künste in Berlin, 28. Oktober 1929, aufgenommen von Erich Salomon. Von li. nach re.: Alfred Döblin, Thomas Mann, Ricarda Huch, Bernhard Kellermann, Hermann Stehr, Alfred Mombert und Eduard Stucken.

 

 

 

Im Jahr 1926 war Ricarda Huch als erste Frau in die neugegründete Sektion für Dichtkunst in der Preußischen Akademie der Künste in Berlin berufen worden. Da es für sie nichts Langweiligeres als Akademien gab, nichts Öderes als Repräsentieren, nichts irritierender war als Bewunderung und Ehrfurcht, die man ihr entgegenbrachte, zögerte sie, die Wahl anzunehmen. »… es widerstrebt mir, einer Gesellschaft anzugehören, innerhalb welcher ich gar nichts leiste und wo ich mich nicht am Platze fühle.«[10] Erst Thomas Mann gelang es, Ricarda Huch zur Annahme der Wahl zu bewegen. Gequält sagte sie zu, bereute es aber spätestens 1933.

Nach Hitlers Machtantritt begann auch in der Akademie der Versuch, die Mitglieder auf die neue Politik einzuschwören. Ricarda Huch erhielt wie die anderen Mitglieder die von Gottfried Benn verfaßte und nur mit Ja oder Nein zu beantwortende Umfrage, ob man bereit sei, »unter Anerkennung der veränderten geschichtlichen Lage weiter Ihre Person der Preußischen Akademie der Künste zur Verfügung zu stellen«[11]. Eine Bejahung dieser Frage würde die öffentliche politische Betätigung gegen die Regierung ausschließen.

Zum erstenmal sah Ricarda Huch in dieser rüden Aufforderung Grund genug, gegen den neuen Anpassungsdruck zu protestieren, und lehnte es schlichtweg ab, diese Frage zu beantworten. Sie sei »stets mit Nachdruck dafür eingetreten, daß bei der Wahl der Mitglieder nichts anderes maßgebend sein« dürfe »als ihre künstlerischen Leistungen und die Bedeutung ihrer Persönlichkeit«[12], daran werde sie auch künftig festhalten, heißt es in ihrem Schreiben an Max von Schillings, den Präsidenten der Akademie, von Mitte März 1933.

Der Ton dieses und der folgenden Briefe an die Akademie macht deutlich, daß sie ihren Protest bereits als politischen Akt begriff. Sie hatte die Spur des Handelns aufgenommen.

Die Akademie jedoch wollte ihr Prestigeobjekt Ricarda Huch, die einzige Frau, »ein Mitglied von Ihrer hohen geistigen Bedeutung«, wie Max von Schillings sie in seiner Antwort wissen ließ, mit »Ihrem tiefen konservativen Lebensgefühl und Ihrer großen ins Volk reichenden schöpferischen Wirkung als Künstler«[13] nicht verlieren.

Erbittert von der doppelzüngigen Antwort, schrieb sie zurück, daß sie die »Handlungen der neuen Regierung aufs schärfste mißbillige … aber auf das Recht der freien Meinungsäußerung will ich nicht verzichten … Ich nehme an, daß ich durch diese Feststellung automatisch aus der Akademie ausgeschieden bin.«[14]

Von Schillings warnte Ricarda Huch daraufhin, daß ein solcher Schritt »in der Öffentlichkeit nur mißverstanden werden«[15] würde. Dieser nochmalige dreiste Versuch, ihre Ablehnung zu übergehen, stieß auf Ricarda Huchs sarkastischen Protest: »Was die jetzige Regierung als nationale Gesinnung vorschreibt, ist nicht mein Deutschtum. Die Zentralisierung, den Zwang, die brutalen Methoden, die Diffamierung Andersdenkender, das prahlerische Selbstlob halte ich für undeutsch und unheilvoll. Bei einer so sehr von der staatlich vorgeschriebenen Meinung abweichenden Auffassung halte ich es für unmöglich, in einer staatlichen Akademie zu bleiben.« Sie beendete ihren Brief mit dem klaren Satz: »Hiermit erkläre ich meinen Austritt aus der Akademie.«[16]

»Erhobenen Hauptes«[17] verließ sie die Akademie. Sie zog aus, ihr Bruder, der Schriftsteller Rudolf Huch, zog ein. Ein großer Abgang, aber hatte sie über die Folgen nachgedacht?

Über die Tatsache, daß Ricarda Huch aus der Akademie ausgetreten war – in der Presse kein Wort. Vielmehr mußte sie feststellen, daß sie in den Tageszeitungen nach wie vor unter den »gebliebenen Mitgliedern« erschien. Ricarda Huch sah sich gezwungen, gegen die Falschmeldung zu protestieren, doch man ignorierte auch das. Schließlich bat sie um eine Korrektur in der Frankfurter Zeitung, die endlich erschien, doch mehr als einen Satz war die Haltung Ricarda Huchs der Zeitung nicht wert: »Vor der Entscheidung ist die verehrungswürdige Ricarda Huch schon Anfang April ausgetreten.«[18]

Trotz ihrer Widerständigkeit gegen das Regime überlegte sie kein einziges Mal zu emigrieren und steckte somit notgedrungen in einer gewissen Ambivalenz, die sich fortan durch ihr weiteres Leben zog. Warum fand sie sich damit ab? War es Ausdruck einer tief in ihrem Wesen verwurzelten Ambivalenz? Ja, warum blieb sie »am Platze«? Was hielt sie an Deutschland? Waren es die deutsche Sprache und das Deutschtum per se? Ihr Traum vom deutschen Reich?

Mit dem Jahr 1933 begann für Ricarda Huch die Zeit der »inneren Emigration«. Seit sie 1932 mit Tochter und Enkel von Berlin nach Heidelberg gezogen war, während sich ihr Schwiegersohn in Freiburg habilitierte und nichts verdiente, mußte sie mitsamt ihrer Familie vom Schreiben leben. So versuchte sie, keine allzu großen Kompromisse mit dem Naziregime zu schließen und nicht in eine moralische Schieflage zu geraten.

Außerdem war sie alt, wo sollte sie hin? Ihr blieben nur die Familie und die Freunde, die Deutschland noch nicht verlassen hatten. Doch auch den emigrierten Freunden hielt Ricarda Huch die Treue. Sie forschte zum Beispiel nach dem 1933 nach Paris emigrierten Schriftsteller und Neurologen Alfred Döblin. »Im Sommer war ich in Berlin und fragte nach Ihnen, konnte aber Ihre Spur nicht finden. Sollten Sie in Palästina sein? Wenn ich ein Jude wäre, ginge ich hin, vielleicht sogar, wenn ich nur jung wäre, auch ohne Jude zu sein …« Sie setzte noch hinzu: »Ich beneide Sie darum, daß Sie draußen sind.«[19] Alfred Döblin schrieb denn auch nach dem Zweiten Weltkrieg an Walter von Molo: »Eine einzige Stimme tönte aus Ihrem Kreis noch zu mir herüber: die Stimme von Ricarda Huch, einer herrlichen Frau, Sie wissen es selbst, Molo, mit Kraft, Geist und Mut, ›Ihr werdet niemals ihresgleichen sehen‹«, und »Mut war ihr selbstverständlich«, heißt es weiter. »Sie war … viel zu stolz, um nicht mutig zu sein.«[20]

3 »Meine Bücher werden immer weniger gelesen«

Ricarda Huch mit ihrer Schweizer Studienfreundin Marie Baum und dem Verleger des Insel Verlags, Anton Kippenberg, 1934

 

 

 

Marschmusik untermalte das Prasseln des Feuers, als am 10. Mai 1933 die Bücher von Heinrich und Thomas Mann, Anna Seghers, Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky und vielen anderen der Bücherverbrennung zum Opfer fielen. Damit war die Jagd auf regimefeindliche Autorinnen und Autoren eröffnet.

Bereits in den Jahren zuvor gab es für die Schriftstellerin Ricarda Huch wenig Grund zu Optimismus. Die Resignation Ende der 1920er Jahre, als während der wirtschaftlichen Depression der Absatz ihrer Bücher zurückging, ist spürbar in den Briefen, die sie an die Rezensentin Magda Janssen nach München schrieb: »In bezug auf Literatur und Bücher ist der Umschwung außerordentlich. Man hat jetzt förmlich eine Abneigung gegen alles Ältere, was ich auch sehr spüre. Bis jetzt habe ich noch so viel verdient wie ich brauchte, aber es nimmt eher ab als zu. So geht es allen älteren – die wenigen ausgenommen, die nun einmal Lieblinge des Publikums sind.«[21] Sie war »manchmal sehr gedrückt; meine Bücher werden immer weniger gelesen, und meine Leistungsfähigkeit ist wohl noch ziemlich auf der Höhe, aber doch nicht mehr ganz so. Sollte sie einmal merklich abnehmen – ich wage nicht daran zu denken, denn mein Vermögen habe ich natürlich ganz verloren.«[22]

Ricarda Huch hatte ihr ganzes Geld durch die Inflation verloren und konnte sich der Angst vor der Zukunft nicht entziehen: »… ich besitze nichts, absolut nichts, und verdiene mit Ach und Krach gerade so viel, daß ich leben und Busi [d.i.Marietta Böhm] so viel wie nötig helfen kann. Ich glaub, es sind jetzt nur sehr wenige, die sich gut stehen, und die stehen sich dann sehr gut, wie Thomas Mann, Stefan Zweig und die Verfasser von Kriegsbüchern, Vicki Baum usw.«[23]

Ihr Austritt aus der Akademie war ein Abschied von einer Welt, in der sie hochgeschätzt und verehrt wurde, einer Welt öffentlicher Ehrungen und Publizität. Der NS-Staat rächte sich, man rückte von ihr ab, was eine erhebliche Minderung an Öffentlichkeit und Einkünften bedeutete. Das Miteinander-Reden, das gerade in jenen Zeiten so wichtig war, der leidenschaftliche Disput, das Knüpfen neuer Kontakte wurden ihr zunehmend unmöglich gemacht, das Netz von Freunden wurde von Staats wegen gewaltsam zerrissen. Der intellektuelle Austausch brach ab, viele der ihr Nahestehenden waren emigriert. Ihr stilvoll ausgeklügeltes Leben war bedroht.

Seitdem wußte sie, was es heißt, sich schreibend zu keiner gesellschaftlichen Gruppe, einzig zur geistigen Landschaft Deutschlands zugehörig zu fühlen. Als literarische Einzelgängerin auszuharren, zu bleiben, zu beobachten und zu verarbeiten, was geschah und was sie erlebte, und sich schreibend zurückzuziehen, ohne daß ihr jemand von außen Stärkung und Ermunterung, gar Beifall zollen konnte. Und doch nicht völlig darauf zu verzichten, sich mit ihrem Widerspruch bemerkbar zu machen.

Besprechungen blieben aus. Schreiben wurde gefährlich, wurde zum Drahtseilakt. Doch wie zurechtkommen unter einem Regime, das sie als unter ihrem Niveau empfand? Ja, was geschah mit der Schriftstellerin Ricarda Huch in den Jahren ab 1933?

Im Fragebogen der Reichsschrifttumskammer gab Ricarda Huch 1934 als Haupttätigkeit »Geschichtsschreibung« an. Aus der Schrifttumskammer auszutreten war zu riskant, es konnte ein Schreibverbot zur Folge haben. Sie war nicht frei genug, um nicht ab und zu Kompromisse einzugehen, doch sie verbot es sich aufzugeben.

Sie hatte eine zu hohe Meinung vom Schreiben. Sie – dem Gleichschritt applaudieren? Der Farbe Braun huldigen? Aus der Bahn geworfen, mußte sie sich einen neuen Sinn suchen. Am deutschesten verhielt sich – das war ihre Meinung –, wer seinem Land gründlich die Leviten las, ihre Art des politischen Schreibens.

Es entsprach Ricarda Huchs kämpferischem Charakter, angesichts zunehmender Schwierigkeiten in Aufbruchstimmung zu geraten. Trotz finanzieller Not verlor sie nicht ihre Heiterkeit und kultivierte die aristokratische Haltung der Contenance, keine Spur von verbrauchter Kraft. Ihr ausgeprägtes Unabhängigkeitsempfinden und ein fast dünkelhaftes Lebensgefühl mündeten ein in eine tiefe Verachtung der neuen Machthaber, die ihr half, nach ihren Vorstellungen zu überleben. Sie reagierte hellsichtig und realitätsfremd zugleich. Aber sie besaß eine starke Identität und wehrte sich ihrer Haut mit einem verschärften Stolz, voll Eigensinn, ohne ernsthaft zu erwägen, Deutschland zu verlassen.

 

Zunächst sah es so aus, als habe man nicht vor, sie zu blockieren. 1933/1934 wurde ihr dreibändiges Werk Im alten Reich. Lebensbilder deutscher Städte, zuerst 1927/1928 erschienen, neu aufgelegt, historische Bilder von sechsundsechzig deutschen Städten, den Mosaiksteinen des alten Reichs – ein Buch, das in Sujet, Ton und Wortschatz voll ins neuentdeckte deutsche Heimatherz traf. Mit der Auflage und den lobenden Pressestimmen konnte sie zufrieden sein. Auch wäre sie nicht Ricarda Huch, hätte sie nicht Städtebilder in Literatur verwandelt. Auslöser für dieses Buch war wie bei all ihren früheren historischen Werken die Liebe zur Vergangenheit gewesen, wie sie im Vorwort gestand, doch: »Man braucht nicht ohne Sinn für die Gegenwart zu sein, wenn man die Vergangenheit und ihre Werke schätzt.«[24] Sätze, in denen bereits ihr Nachdenken über Gegenwart und Vergangenheit sichtbar wird.

Schon 1930 war ihr Buch Alte und neue Götter über Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland erschienen, dessen Titel später in 1848 geändert wurde und in dem sie die Schicksale mutiger Patrioten wie Ernst Moritz Arndt, Ferdinand Freiligrath oder Hoffmann von Fallersleben nachgezeichnet hat. Der Fundus, mit dem sie immer gearbeitet hatte, ihre Anima, war ihr früh geweckter Sinn für Rebellentum. Den mobilisierte sie jetzt zur rechten Zeit und schrieb ein Buch über die Revolution von 1848.

»Ich war ein geborener Protestant«, hat sie sich nicht ohne Selbstliebe in ihren Jugenderinnerungen, 1921 für ihre Tochter verfaßt, beschrieben, »mit einer Vorliebe für Revolutionen und Rebellionen … Das Wort Freiheit öffnete mein Herz.« Diese anarchistische Ader leitete sie seit ihren Kindertagen, als sie emphatisch das Wort »Rebell, Rebell« vor sich hin gemurmelt hatte, ohne zu wissen, daß sie damit ihrer inneren Reizbarkeit und ihrer stolzen, fast religiösen Widerständigkeit einen Namen gab. »Überhaupt hatte ich eine unwillkürliche Neigung zum Revolutionären. Das Legitime war mir verdächtig, das Wort Freiheit und Rebell hatten einen wundervoll drommetenhaft erschütternden Klang für mein Ohr.«[25]

Das Buch Alte und neue Götter endet mit bitteren Tönen: »Nach 1870 würde es im Auslande … niemandem mehr eingefallen sein, die Deutschen als die Träger des Freiheitsgedankens zu bezeichnen, und nicht einmal sie selbst wollen es mehr sein. Sie wollten nicht das Volk der Dichter und Denker noch die Schwärmer für Freiheit und Recht mehr heißen, sie wollten Macht haben und Macht als Prinzip bekennen.«[26] Es war die wiederholte Beschwörung der alten Kultur und ihrer unverminderten Liebe zum Reich – immer einig, immer deutsch –, die nie aus dem Herzen der konservativen Schriftstellerin verschwand und von der sie bis zuletzt nicht ablassen würde. Historie als eine Art Schlüsselroman? Ein Mittel, um aus vergangenen Revolutionen Gesetz und Maß ins Gegenwärtige herüberzuretten?