Ein Vampir kommt selten allein - Katie MacAlister - E-Book

Ein Vampir kommt selten allein E-Book

Katie MacAlister

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Beschreibung

Ein Leben in der Vorstadt mit Ehemann und Kindern? Für manche ein Albtraum, aber für Pia Thomason der Stoff ihrer Tagträume. Nun naht ihr vierzigster Geburtstag, und der Traummann ist immer noch nicht in Sicht. Pia entschließt sich zu einem radikalen Schritt: Sie bucht eine Single-Tour durch das romantische Europa. Leider sind die wenigen Männer, die an der Reise teilnehmen, nicht nach ihrem Geschmack. Im Gegensatz zu den beiden attraktiven Männern, denen Pia in einem isländischen Städtchen begegnet. Sie ahnt jedoch nicht, dass die mysteriösen Fremden in Wahrheit Vampire sind ...

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Seitenzahl: 439

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Inhalt

Titel

Widmung

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Impressum

 

Katie MacAlister

Roman

Ins Deutsche übertragen von Antje Görnig

  

Dieses Buch ist den liebenswürdigen Damen (und den wenigen mutigen Herren) in meinem Internetforum gewidmet, in Dankbarkeit für viele vergnügliche, unterhaltsame Stunden. Sie sind zu viele, als dass ich Sie hier aufzählen könnte, aber Sie wissen ja, wer gemeint ist! Und denken Sie nicht, mir wäre entgangen, dass es inzwischen eine Warteliste für die Scham-Ecke gibt – ich habe ja gleich gesagt, dass knackige Kellner mit nacktem Oberkörper und Schottenrock für Trouble sorgen …

  

1

„Erleben Sie die romantischen Mittsommernächte Islands mit einem Nachfahren der alten Wikinger – so stand es in der Broschüre.“

Ich blickte in zwei erstaunlich helle graue Augen, die mich aufmerksam studierten.

„In meinen romantischen Mittsommernächten habe ich bisher allerdings nichts anderes gemacht, als der Frage nachzugehen, warum im Hotel immer die Sicherungen rausfliegen, wenn ich den Adapter meines Föns in die Steckdose stecke. Du hast wohl heute Abend keine Lust zum Sternegucken?“

Mein Gegenüber verzog keine Miene, beobachtete mich aber mit einem gewissen Argwohn, als erwarte er, dass ich jeden Moment auf den kleinen Glastisch zwischen uns springen würde, um Cancan zu tanzen. „Sternegucken?“

„Ja, das bedeutet, dass man sich die Sterne ansieht. Ich muss wirklich sagen, dein Englisch ist erstaunlich gut. Aber wenn ich deine mangelnde Begeisterung richtig deute, verzichtest du wohl lieber.“ Ich seufzte. „Hatte ich mir schon gedacht. War ja nicht anders zu erwarten. Ich habe einfach kein Glück – im Gegensatz zu einigen anderen Damen aus meiner Reisegruppe, die bislang ziemlich erfolgreich waren.“

Drei Frauen tanzten nacheinander an mir vorbei. Die ersten beiden kannte ich nicht, aber die dritte war Magda, eine mollige, vollbusige Frau lateinamerikanischer Abstammung mit flinken schwarzen Augen und einem beißenden Humor.

„Pia, du tanzt ja gar nicht!“, rief Magda mir zu, während ihr Partner Raymond sie zu der germanisch anmutenden Musik mit Akkordeonklängen herumwirbelte. Es war Mitte Juni, und ganz Island feierte ausgelassen den Unabhängigkeitstag – einschließlich der Touristen. Der Marktplatz war von Verkaufsständen gesäumt, an denen kunsthandwerkliche Waren und Spezialitäten von nah und fern feilgeboten wurden, und in der Luft lag ein interessantes Potpourri aus Düften, die von blumig (getrockneter Lavendel) bis appetitanregend (Gyros) reichten. Am anderen Ende des Platzes befand sich eine Bühne, auf der den ganzen Tag diverse Bands so ziemlich alles von Country (wer hätte gedacht, dass es in Island Country-Musik gab?) über Pop bis hin zu Schlagern zum Besten gegeben hatten. Wie ich gehört hatte, sollten die fetzigeren Bands erst am Abend aufspielen.

„Nein, diesmal nicht!“, entgegnete ich.

„Das solltest du aber!“, rief Magda, deren dunkle, kehlige Stimme in dem ganzen Lärm erstaunlich gut zu hören war. „Die Musik ist einfach himmlisch!“

Ich wollte schon erwidern, dass mich bisher eben noch kein blonder, blauäugiger Wikingernachfahre aufgefordert hatte, doch ein kleiner Rest Stolz hielt mich davon ab, Magda das nur allzu Offensichtliche entgegenzuschreien.

Mein Tischnachbar leerte sein Glas und rülpste, entschuldigte sich aber sofort höflich.

Ich musterte ihn skeptisch, doch dann dachte ich: Was soll’s? In der Not frisst der Teufel Fliegen! „Wäre es dir sehr unangenehm, wenn ich dich fragen würde, ob du mit mir tanzen möchtest?“

Er dachte einen Moment nach, dann nickte er und stand auf. „Tanzen ist gut.“

Seine Bereitwilligkeit überraschte mich zwar, aber da ich wild entschlossen war, mich um jeden Preis zu amüsieren, nahm ich ihn an die Hand und schlängelte mich mit ihm zwischen den voll besetzten Cafétischen hindurch, um zur Tanzfläche in der Mitte des Platzes zu gelangen.

„Kannst du Twostepp?“, fragte ich meinen Partner.

Er schaute auf meine Schuhe. „Zwei Füße?“

„Ja, das ist ein Tanz. Den kennst du offenbar nicht?“

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber ich tanze gern.“

Er stellte sich vorsichtig mit seinen abgewetzten Sandalen auf meine leicht schmuddeligen Wanderschuhe und sah erwartungsvoll zu mir auf.

„Gut, dass du so klein bist und ich so groß“, sagte ich zu ihm, nahm ihn bei den Händen und bewegte mich sachte zu der Musik, damit er nicht von meinen Schuhen herunterrutschte. „Wie alt bist du eigentlich?“

Der Junge legte nachdenklich die Stirn in Falten, während er nach dem richtigen Wort suchte. „Vier.“

„Wirklich? Dann sind deine Englischkenntnisse umso erstaunlicher! Als ich in deinem Alter war, hatte ich keinen blassen Schimmer von Fremdsprachen, und du tanzt sogar mit mir, während wir uns angeregt unterhalten. Na ja, ich bestreite zwar den größten Teil der Unterhaltung, aber du scheinst alles zu verstehen, was ich sage, und da ich wahrscheinlich die Einzige bei Sergeant Patty’s Lonely Hearts Club Tours bin, die sich noch keinen Mitreisenden oder einen gut aussehenden Einheimischen geangelt hat, ist meine Auswahl an Gesprächspartnern ziemlich beschränkt. Wie heißt du?“

Er zog abermals die Augenbrauen zusammen. „Geirfinnur.“

„Was für ein interessanter Name! Ich heiße Pia Thomason. Ich bin aus Seattle. Weißt du, wo das ist?“

Er schüttelte den Kopf.

„Lass mich überlegen. Wofür ist Seattle bekannt …? Microsoft? Kennst du Microsoft? Oder Starbucks? Oder Google?“

Er schüttelte wieder den Kopf.

„Geirfinnur!“ Ein Mann drängte sich durch die Menge und redete auf Isländisch mit dem Jungen, während er immer wieder auf meine Füße zeigte. Mein Tanzpartner stieg widerstrebend von meinen Schuhen herunter und sah mich zerknirscht an.

„Sind Sie Geirfinnurs Vater?“, fragte ich, als sich die Augen des Gescholtenen mit Tränen füllten.

„Sie sind Engländerin?“ Wie ich feststellte, hatte der Junge eine große Ähnlichkeit mit seinem Vater und die gleichen hellgrauen Augen wie er. „Tut mir sehr leid, dass er sich so schlecht benommen hat.“

„Er hat sich überhaupt nicht schlecht benommen“, entgegnete ich rasch und strich dem Kleinen übers Haar. Er belohnte mich mit einem breiten Grinsen. „Ganz im Gegenteil! Ich saß ganz allein da, und er hat mir freundlicherweise Gesellschaft geleistet und beim Eisessen geholfen. Er spricht so gut Englisch, dass ich gar nicht glauben kann, wie jung er noch ist.“

„Meine Frau stammt aus Schottland“, erklärte der Mann und sah seinen Sohn liebevoll an. „Bedank dich bei der englischen Dame!“

„Ich bin Amerikanerin. Aus Seattle.“

Der Vater blickte ebenso nachdenklich drein wie zuvor Geirfinnur, während er offensichtlich überlegte, wo Seattle liegen mochte.

„Das ist am Pazifik. Am nordwestlichen Zipfel der Vereinigten Staaten. Bei uns sind Boeing und Amazon zu Hause.“

„Seattle?“, sagte der Mann, dann hellte sich seine Miene auf. „Nintendo!“

„Ja, die sind auch bei uns“, entgegnete ich und lächelte, als mein Tanzpartner um uns herumzuhüpfen begann und aufgeregt „Nintendo! Nintendo! Super Mario Brothers!“ rief.

„Machen Sie hier Urlaub? Ich bin Jens Jakobsson. Das ist Geirfinnur.“

„Ja, ich bin mit einer … äh …“ Ich machte eine vage Handbewegung, weil ich mich plötzlich auszusprechen scheute, dass ich eine Gruppenreise für Singles gebucht hatte. „Ich bin auf einer dreiwöchigen Europa-Rundreise.“

„Das ist ja toll! Und wie gefällt Ihnen Island?“

„Sehr gut! Dalkafjordhur ist ein wunderschönes kleines Städtchen. Wir sind seit zwei Tagen hier und haben noch drei weitere zur Verfügung, um Reykjavík und die Umgebung zu erkunden, bevor es dann nach Holland geht.“

„Wie schön“, sagte er grinsend. „Weil Sie so nett zu Geirfinnur waren, würden wir Sie heute Abend gern ein bisschen herumführen. Ihnen Orte zeigen, die Touristen normalerweise nicht zu sehen bekommen. Wir kennen einen guten Platz, um sich das Feuerwerk anzusehen. Von dort sieht man alles! Haben Sie Lust mitzukommen?“

„Das wäre hinreißend!“, sagte ich, weil ich mich über die Gelegenheit freute, Einheimische kennenzulernen. Meine Freude war jedoch dahin, als ich an das Programm meiner Reisegruppe dachte. „Verflixt! Ich fürchte, für heute Abend ist die Besichtigung einer Ruine draußen vor der Stadt vorgesehen.“

„Hier gibt es sehr schöne Ruinen“, sagte Jens. „Aber schöner als das Feuerwerk sind sie nicht.“

„Feuerwerk!“ rief Geirfinnur begeistert aus, schlang unvermittelt die Arme um meine Taille und sah zu mir auf. „Feuerwerk ist super!“

„Geir, nun bedräng die Dame nicht! Sie hat schon etwas mit ihrer Reisegruppe vor. Welche Ruine werden Sie sich denn ansehen?“

„Sie soll sich in einem geschützten Waldgebiet befinden. Den Namen habe ich leider vergessen, aber es gibt einen religiösen Hintergrund, glaube ich. Dort sollen in der Mittsommernacht immer irgendwelche Rituale stattgefunden haben, und weil es ja in ein paar Tagen so weit ist …“

„Die Ilargi!“, stieß Jens entsetzt hervor und zog seinen Sohn von mir weg. „Sind Sie eine Ilargi?“

„Ich? Nein, ich bin irischer Abstammung. Größtenteils. Mütterlicherseits habe ich ein paar deutsche Vorfahren.“

Jens sah mich misstrauisch an. „Wenn Sie keine Ilargi sind, dann sind Sie von der Bruderschaft, oder?“

„Ich bin nicht besonders religiös“, entgegnete ich verwundert über seine Reaktion. „Tut mir leid, vielleicht haben wir Verständigungsschwierigkeiten, obwohl Ihr Englisch wirklich ausgezeichnet ist. Bei dem Ort, den wir heute Abend besichtigen werden, handelt es sich nicht um ein Kloster oder eine Kirche. Die Ruine liegt in einem der wenigen unberührten Wälder, die es hier noch gibt, und soll einen heidnischen Ursprung haben, aber ich fürchte, diesen Teil des Reiseführers habe ich nur überflogen.“

„Nicht heidnisch!“, belehrte mich Jens, hob seinen strampelnden Sohn hoch und wich vor mir zurück. „Nicht gut! Halten Sie sich von Geirfinnur fern! Und von den Ilargi!“

Bevor ich ihn fragen konnte, was um alles in der Welt das bedeuten sollte, machte er auf dem Absatz kehrt und eilte davon. Geirfinnurs winkende Hand war das Letzte, was ich von den beiden sah, bevor sie in der Menge verschwanden.

„Was sagt man dazu?“, fragte ich niemand Bestimmten. Als Antwort bekam ich einen brutalen Stoß in den Rücken, der mir zu verstehen gab, dass es bessere Orte als eine überfüllte Tanzfläche gab, um über sonderbare Isländer nachzudenken.

Ich ging zurück an meinen Tisch und bestellte noch eine Limonade, von der ich hin und wieder einen Schluck nahm, während ich die Menschen ringsum beobachtete. Was war denn nur so schlimm an diesem Wald, dass Jens so heftig reagiert hatte? Ob Audrey vielleicht etwas darüber wusste?

Bevor ich darüber nachdenken konnte, was ich als Nächstes tun wollte, plumpste eine dunkelhaarige Frau auf den Stuhl, auf dem zuvor Geirfinnur gesessen hatte. Sie warf einen wütenden Blick über die Schulter, als ein extrem gut aussehender blonder Mann sie versehentlich von hinten anrempelte, während er seine beiden Kinder, die Wikingerhelme trugen, an uns vorbeidirigierte. „Hallo, Pia! Du siehst so aus, wie ich mich fühle. Hast du schon gehört? Der Ausflug heute Abend fällt ins Wasser. Ärgerlich, aber es hat auch sein Gutes. Ich kann darauf verzichten, bei lebendigem Leib von Stechmücken und Gott weiß was für Insekten aufgefressen zu werden! Du hast nicht zufällig Audrey irgendwo gesehen? Sie ist sofort verschwunden, nachdem sie mir gesagt hat, dass der Ausflug nicht stattfindet, und ich hatte keine Zeit mehr, sie auf den eklatanten Männermangel bei dieser Reise anzusprechen.“

„Seit dem Mittagessen habe ich sie nicht mehr gesehen“, entgegnete ich und zog meine Einwegkamera aus der Tasche, um die beiden fähnchenschwingenden Kinder mit ihrem lustigen Kopfschmuck zu fotografieren. „Ich glaube, sie wollte noch mal überprüfen, ob mit unserer Unterkunft in Amsterdam alles in Ordnung ist.“

Denise, die vierte Frau in meiner Reisegruppe und diejenige, die ich von allen Teilnehmern am wenigsten leiden konnte, schürzte verächtlich die Lippen. „Pah! Da fliegen wir doch erst in drei Tagen hin! Nicht, dass ich mich nicht freue, dieses Land zu verlassen! Ich war gerade in einer ganz furchtbaren Buchhandlung. Mein Gott, die hatten nichts im Angebot, das in den letzten hundert Jahren gedruckt worden ist. Nur uralte Schinken! Und die Spinnen erst! Wer hätte gedacht, dass es in Island so große Spinnen gibt? Richtige Taranteln! Hey, Sie da! Diätcola! Coca-Cola. Verstehen Sie?“ Denise hatte eine vorbeieilende Kellnerin festgehalten und zerrte an ihrem Arm. „Pia, hast du einen Sprachführer dabei? Was muss ich sagen, wenn ich eine Diätcola will?“

Die Kellnerin war nachsichtig mit ihr. „Ich spreche Englisch. Wir haben keine Coca-Cola. Ich bringe Ihnen eine Pepsi.“

„Was auch immer, Hauptsache kalt!“ Denise ließ die Kellnerin los und nahm meine Serviette, um sich ihr schweißglänzendes Gesicht abzuwischen. „Entschuldige, ich habe mich einfach hingesetzt, ohne zu fragen, aber wir Dicken müssen doch zusammenhalten! Oder bist du etwa mit jemandem verabredet?“

Sie zog ihre für meinen Geschmack viel zu dünnen Augenbrauen hoch und nahm mich ins Visier. Das hämische Funkeln in ihren schmutzigbraunen Augen gab mir zu verstehen, dass eine positive Antwort sie sehr überraschen würde. Ich biss die Zähne zusammen, setzte ein höfliches Lächeln auf und schüttelte den Kopf. Ich hatte mich längst mit der Tatsache abgefunden, dass ich „kein leichtes Mädchen“ war, wie meine Mutter zu scherzen pflegte, aber ich konnte es nicht ertragen, alle fünf Minuten daran erinnert zu werden, wie Denise es gewöhnlich tat.

„Das habe ich mir gedacht“, entgegnete sie selbstgefällig, wenn auch mit einer gewissen Verbitterung. „Frauen wie wir bekommen doch nie einen ab! Es sind immer die Schlampen, die den größten Erfolg haben. Diese Magda zum Beispiel! Hast du sie letzte Nacht gehört? Es wollte gar kein Ende nehmen. Ich habe Audrey um ein anderes Zimmer gebeten, aber angeblich ist das Hotel ausgebucht. Ich weiß wirklich nicht, warum um alles in der Welt ich zwei Mille für eine romantische Singlereise durch Europa hingeblättert habe, wenn die Männer in der Gruppe allesamt alt, hässlich oder schwul sind und ich jede verdammte Nacht zuhören muss, wie Magda auf ihre Kosten kommt!“ Denise geriet immer mehr in Rage. „Oh Raymond! Fester! Fester, mein feuriger Hengst!“, rief sie und äffte dabei Magdas spanischen Akzent völlig übertrieben nach.

„Pssst!“, machte ich, denn die Leute ringsum musterten uns mit Befremden. „Nicht so laut! Die anderen gucken schon.“

„Na und?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Die verstehen uns doch nicht, und selbst wenn – ich sage nur die Wahrheit. Hat Raymond dich schon mal angemacht? Er hat es heute Morgen bei mir versucht, aber mit ihm will ich nichts zu tun haben. Ich bin doch keine Resteverwerterin!“ Sie warf einen giftigen Blick auf die Tanzenden.

Da Magda und ich uns ein Bad teilten und ich die Geräusche aus ihrem Zimmer daher sehr gut hören konnte, bezweifelte ich nicht, dass Raymond und sie viel Spaß zusammen hatten, aber dass er etwas mit Denise hatte anfangen wollen, hielt ich schlichtweg für unmöglich. Sie war zwar recht hübsch, hatte dunkelbraunes, sorgfältig frisiertes Haar und ein herzförmiges Gesicht und sah – obwohl sie genau wie ich aus dem Koffer lebte – immer sehr gepflegt und proper aus, doch mit ihrer Art machte sie den positiven ersten Eindruck, den man von ihr gewann, gleich wieder zunichte.

„Entschuldige!“ Sie bedachte mich mit einem mitleidigen Blick. „Ich wollte dir nicht unter die Nase reiben, dass Raymond sich für mich interessiert und nicht für dich. Nicht, dass du etwas verpasst – trotz Magdas theatralischem Getue! Hast du jemals so ein bescheidenes Männerangebot gesehen wie in dieser Reisegruppe? Wir haben die Auswahl zwischen Ray, dem Salonlöwen, Gary, der direkt vom Set von Queer as Folk kommen muss, Ben, der mindestens schon sechzig ist, und Alphonse, diesem Mafiatypen – und dafür haben wir auch noch Geld bezahlt! Das ist doch Betrug, was Audrey da macht, und wir Deppen sind darauf hereingefallen. Romantische Europareise – dass ich nicht lache!“

Ich hatte Denise’ Negativität und Gehässigkeit nun schon seit drei Tagen ertragen und war stark versucht, ihr zu sagen, was ich von ihr hielt, doch dann dachte ich daran, dass wir noch achtzehn Tage vor uns hatten. Es würde mich nicht umbringen, ihr auch die andere Wange hinzuhalten, sagte ich mir und malte mir zum Trost aus, wie wir sie an einem einsamen Fjord zurückließen.

„Wie viele Dates hattest du in letzter Zeit?“, fragte Denise. Offensichtlich wetzte sie schon ihre Krallen für den nächsten Angriff.

Ich lächelte und baute in meine Fantasie noch ein paar hungrige Wölfe ein, die an dem Fjord entlangstreiften. „Ich lebe außerhalb von Seattle in einer kleinen Stadt in den Bergen. Da gibt es nicht viele Menschen, also ist es schon schwer, überhaupt nette Männer kennenzulernen. Deshalb habe ich mich für diese Reise entschieden. Um mir neue Horizonte zu erschließen.“

„Wenigstens erschließt du dir dabei nicht alles, was einen Penis hat – im Gegensatz zu gewissen anderen Personen“, lästerte sie mit einem weiteren giftigen Blick in Magdas Richtung. „Aber ich glaube wirklich, dass man uns veräppelt hat. Die Männer in der Gruppe taugen nichts, und was diese Isländer angeht … Vielleicht stammen sie tatsächlich von den alten Wikingern ab, wie Audrey sagt, aber dass sie besonders scharf auf uns sind, kann ich nicht behaupten. Wenn man allerdings das Zauberwort ‚Green Card‘ ausspricht, dürfte sich das Blatt sehr schnell wenden, aber das wird von mir keiner hören!“

„Wir sind doch erst drei Tage …“, setzte ich an, doch Denise knallte ihr Glas auf den Tisch und schnitt mir das Wort ab.

„Du blickst es nicht, was? Pia, sieh dich doch an! Du bist … wie alt? Vierzig? Fünfundvierzig?“

„Neununddreißig. Ich werde erst in zehn Monaten vierzig“, stellte ich richtig und bemühte mich, ruhig zu bleiben. Ich hatte meine gesamten Ersparnisse in diese Reise gesteckt und wollte mir den Urlaub meines Lebens nicht von einer verbitterten Frau verderben lassen.

„Papperlapapp! Du bist vierzig, hast keinen Mann, keine besondere Ausstrahlung und einen Job ohne Aufstiegschancen in irgendeiner unbedeutenden kleinen Stadt.“

„Hey!“, brauste ich auf. „Du weißt doch gar nicht, was ich mache. Ich habe einen schönen Beruf.“

„Du hast bei der Vorstellungsrunde gesagt, du bist Sekretärin oder so was.“

„Ich bin Geschäftsführerin eines Tierheims, das sich auf ältere Tiere spezialisiert hat, die niemand mehr haben will“, stellte ich klar und ballte unter dem Tisch die Hände zu Fäusten. „Das ist eine äußerst befriedigende Tätigkeit!“

„Ganz bestimmt“, entgegnete Denise mit einem spöttischen Grinsen. „Aber verbessern kannst du dich da nicht, oder?“

Ich biss die Zähne zusammen und schwieg. Ich musste mich doch nicht vor dieser Hyäne rechtfertigen!

„Du musst den Tatsachen ins Auge sehen“, sagte Denise, beugte sich zu mir vor und fasste mich am Arm. „Frauen wie wir gehen leer aus. Du glaubst vielleicht, dass irgendwo ein Mann auf dich wartet, der Mann deiner Träume, aber das ist ein Irrtum! Sieh dich doch mal um, Pia! Sieh dir an, wer sich die gut aussehenden Männer angelt: Es sind die Schicksen, die Mageren – diejenigen, die sich ohne Rücksicht auf Verluste nehmen, was sie wollen. Sie haben keine Moral, und es kümmert sie nicht, was andere von ihnen denken.“

„Das stimmt nicht“, entgegnete ich und entzog ihr meinen Arm. „Ich kenne viele nette Frauen, die einen Freund haben. Bei manchen dauert es einfach nur eine Weile, bis sie den Richtigen finden.“

„Hat dir das deine Mama erzählt?“, fragte sie höhnisch.

„Ich glaube wirklich nicht …“

„Nein, natürlich nicht! Weil heutzutage jeder auf Political Correctness achtet. Aber reden wir doch mal Tacheles! Wir gehören zum Ausschuss, Pia. Wir bekommen nur, was andere übrig lassen. Und weil ich merke, dass du es dir nicht eingestehen willst, werde ich es dir beweisen.“ Sie drehte sich um und zeigte Richtung Bühne.

Die Musik hatte aufgehört, weil die Bands gerade wechselten, und da die Tänzer die Umbaupause zum Verschnaufen nutzten, war der Platz halb leer. Die Sonne stand schon tief am Himmel, der sich allmählich glutrot verfärbte, während die indigoblauen Schatten der Häuser immer länger wurden. Es waren überwiegend Familien, die am Rand des Platzes entlangschlenderten. Die Kinder hatten sich tagsüber müde getobt und liefen längst nicht mehr so aufgedreht umher wie am Morgen.

„Dieser Typ da hinten, der Blonde mit der Stirnglatze – meinst du, dem würdest du gefallen?“, fragte Denise und zeigte auf einen Mann, der eine schlanke Frau im Arm hielt. „Oder der da, mit dem Bart. Er sieht wie ein Buchhalter aus. Ob der vielleicht auf dich steht?“

Ich verkniff es mir, Denise zu sagen, dass sie von mir aus gern weiter in ihrer menschenverachtenden Welt leben konnte, ich persönlich aber einen friedlicheren Ort bevorzugte.

„Oh! Die zwei! Die gerade da hinten aus dem Haus kommen. Oh mein Gott, die sind großartig! Genau die Sorte meine ich: echte Prachtexemplare. Groß und dunkelhaarig – obwohl ich lange Haare bei Männern nicht mag – und für Frauen wie uns absolut unerreichbar.“

Ich schaute mir die beiden an. „Ach, ich weiß nicht.“

Denise drehte sich zu mir um und sah mich triumphierend an. „So einen Mann wirst du nie bekommen, Pia! Genauso wenig wie ich. Wenn wir Glück haben, bleibt für uns irgendein dickbäuchiger Stubenhocker mit schütterem Haar übrig, aber an die Guten kommen wir nicht ran.“

„Gegen schütteres Haar und einen kleinen Bauch ist doch gar nichts einzuwenden“, protestierte ich.

„Ach, komm schon! Irgendwann sehen sie natürlich alle so aus, aber willst du etwa einen, der von Anfang an so ist?“

„Männer sind nicht alle gleich“, gab ich zu bedenken. „Manche Männer wollen mehr als nur einen perfekten Körper, und umgekehrt gibt es auch viele Frauen, die nicht unbedingt auf einen Adonis aus sind. Es gibt keinen Grund, davon auszugehen, dass wir nie so einen knackigen, ansehnlichen Kerl bekommen werden, nur weil wir keine Supermodels sind.“

Denise’ Gesichtszüge verhärteten sich. „Du willst es einfach nicht wahrhaben, was? Nun, dann machen wir doch einfach einen Test, okay? Du sprichst die beiden Leckerchen da hinten an, und dann sehen wir, was passiert.“

„Ich habe mich nicht speziell auf die beiden bezogen“, sagte ich rasch und bekam plötzlich feuchte Hände, weil mir schon der Gedanke, die beiden Männer anzusprechen, unglaublich peinlich war. „Ich meinte knackige, ansehnliche Kerle im Allgemeinen.“

Denise stand auf, ließ ihren Blick über den Platz schweifen und setzte sich wieder. „Also, ich sehe hier niemanden, der so gut aussieht wie die beiden und nicht schon vergeben ist. Gut, sie könnten ein schwules Paar sein – und auch in diesem Fall gewinne ich natürlich –, aber lass uns mal davon ausgehen, dass sie weder schwul noch verheiratet sind. Du sprichst sie an, und wenn tatsächlich einer von ihnen mit dir ausgehen will, hast du gewonnen.“

„Das ist doch kein Wettstreit, Denise!“

„Aber sicher doch! Du denkst, du hast recht, und ich weiß, dass ich recht habe. Du denkst, du könntest dir so ein Prachtexemplar angeln, und ich sage, so jemand beachtet dich nicht einmal. Beweis mir, dass ich falschliege; mehr will ich ja gar nicht!“

„Sie können doch Frauen oder Freundinnen haben, die gerade nicht hier sind“, protestierte ich, und mir zog sich vor Panik der Magen zusammen. „Oder sie haben sich eben erst von jemandem getrennt und sind gar nicht auf eine Beziehung aus. Es gibt alle möglichen Gründe, warum sie im Moment vielleicht nicht mit mir ausgehen wollen.“

Denise schnippte die zusammengeknüllte Hülle ihres Trinkhalms in meine Richtung. „Das sind doch alles nur Ausflüchte, aber ich will mal nicht so sein. Was hältst du davon: Du gehst einfach nur an den beiden vorbei, und dann sehen wir ja, ob sich einer von ihnen wenigstens so viel für dich interessiert, dass er dir hinterherguckt.“

Ich wollte eigentlich einwenden, dass der interessierte Blick eines Mannes noch gar nichts bewies, doch das triumphierende Funkeln in Denise’ Augen gab mir den Rest. Wenn dieses Experiment schon sonst nichts brachte, so war es doch immerhin eine Möglichkeit, dieser garstigen Frau zu entfliehen. „Also gut, einverstanden. Ich gehe an den beiden vorbei.“

„Ich warte hier, bis du zurückkommst – ohne Begleiter“, entgegnete sie mit einem Lächeln, das in mir das Bedürfnis weckte, ihr eine zu kleben.

„Ich bin nicht gewalttätig“, murmelte ich beschwörend vor mich hin, nahm meine Sachen und bahnte mir einen Weg durch das voll besetzte Straßencafé. „Man darf niemanden umbringen, wie sehr man auch provoziert wird!“

Die Tanzfläche auf dem Marktplatz war immer noch leer, denn die Leute stärkten sich in der Pause in den umliegenden Cafés und an den Imbissständen. Ich blieb am Rand der freien Fläche stehen und beobachtete meine Opfer.

Die beiden Männer standen immer noch im Schatten eines hohen Hauses und waren offenbar ganz in ihr Gespräch vertieft. Der eine nickte von Zeit zu Zeit, während der andere ihm heftig gestikulierend etwas erzählte.

Plötzlich gingen rings um den Marktplatz bläulich weiße Lichter an, und ich blinzelte einige Male, bis sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Die Sonne ging zur Mittsommerzeit in diesem Teil Islands nie ganz unter, doch sie sank in den sogenannten „weißen Nächten“ immerhin so tief ab, dass alles in ein dämmeriges Zwielicht getaucht war. Der Himmel bot mit herrlichen Farbschattierungen von Bernsteingelb bis Tiefblau ein prächtiges Bild, und es war hell genug, dass man etwas sah, gleichzeitig jedoch so dunkel, dass sämtliche Konturen leicht verschwammen.

Allmählich kam auf dem gesamten Marktplatz Aufbruchstimmung auf, denn die Leute machten sich auf den Weg zu einem nahe liegenden Park am Wasser, wo das abendliche Feuerwerk stattfinden sollte.

Ich beobachtete die beiden Männer. Sie waren komplett in Schwarz gekleidet. Der eine hatte seine Lederjacke lässig über die Schulter geworfen, der andere hatte seine an, obwohl es noch sehr warm war. Das Gesicht des Letzteren konnte ich nicht gut erkennen, sah aber, dass er kurzes, lockiges kastanienbraunes Haar hatte. Der andere hatte langes schwarzes Haar, das er zu einem Zopf zusammengebunden hatte.

Verzweiflung stieg in mir auf, als ich mich an die beiden heranpirschte, und ich überlegte fieberhaft, wie ich einen Ausweg aus der unmöglichen Situation finden konnte, in die ich mich gebracht hatte. „Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, du Dussel?“, schimpfte ich vor mich hin. „Dann hat Denise eben mit ihrem ständigen Gerede über dein Aussehen und die Unmöglichkeit, einen Mann zu finden, deinen Stolz verletzt. Na und? Glaubst du im Ernst, du könntest auch nur für eine Sekunde die Aufmerksamkeit dieser attraktiven Männer auf dich ziehen? Glaubst du, sie schenken dir auch nur einen Blick?“

Ich drehte mich noch einmal um und hoffte wider alle Vernunft, dass auch Denise inzwischen losgezogen war, um sich das Feuerwerk anzuschauen, doch sie würde es sich wohl kaum entgehen lassen, mich voller Schadenfreude zu empfangen, wenn ich scheiterte.

„Ich hasse es, recht zu haben“, murmelte ich leise. Denise war immer noch in dem Straßencafé, das inzwischen fast leer war, weil die meisten Leute bereits zum Park aufgebrochen waren. Sie war aufgestanden, spähte in meine Richtung und ruderte mit den Armen, um mich anzuspornen.

Ich ging an einer kleinen Boutique vorbei und tat so, als interessierte ich mich für die verstaubten Bücher in den Ständern vor einer noch verstaubteren Buchhandlung. Das musste der spinnenbefallene Laden sein, von dem Denise gesprochen hatte. Ich schaute wieder zu ihr hin. Sie kehrte mir gerade den Rücken zu, denn einer der Männer aus unserer Reisegruppe hatte sie angesprochen und deutete immer wieder in Richtung Park. Ausgezeichnet! Sie war abgelenkt. Das war meine Chance!

Ich verschwand blitzschnell in dem Buchladen, huschte in den hinteren Teil und schnappte mir ein paar Bücher mit englischen Titeln, um Interesse vorzutäuschen. „Hier wird sie wohl nicht nach mir suchen, wenn das mit den Spinnen wirklich so schlimm ist“, sagte ich zu mir. „Ich werde mich nur ein Weilchen verstecken – das ist schließlich nicht verboten. Sie wird denken, dass ich mich verdrückt habe, und woanders nach mir suchen.“

Doch meine Erleichterung hielt nicht länger als zwei Minuten an, und dann schämte ich mich. Kneifen war eigentlich nicht mein Stil. Und so ging ich rasch zum Ausgang, hielt jedoch inne, als ein kleiner, verhutzelter Mann neben mir hüstelte und einen vielsagenden Blick auf die Bücher in meinen Händen warf. Ich bat um Verzeihung, kramte hastig ein paar Scheine aus der Tasche und gab sie ihm.

Als ich verstohlen durch das Schaufenster auf den Marktplatz spähte, fand ich meine Vermutung bestätigt: Denise verschwand gerade in einer Straße auf der gegenüberliegenden Seite. Sie hatte sich also auf die Suche nach mir gemacht. „Nicht schlecht!“, freute ich mich über meine gute Menschenkenntnis.

Ich verließ den Buchladen und schlenderte lässig und ganz und gar unstalkerhaft auf die beiden Männer zu. Während ich mich ihnen näherte, nahm ich sie eingehend unter die Lupe. „Vielleicht bin ich einfach zu zynisch“, sagte ich zu mir. „Ich bin doch ganz in Ordnung, außer dass vielleicht ein bisschen viel an mir dran ist. Ich habe weder Laster noch schlechte Angewohnheiten, außer dass ich häufig Selbstgespräche führe. Ich liebe Tiere. Ich bin offen für neue Erfahrungen. Ist es denn wirklich so abwegig, dass mir wenigstens einer von den beiden Beachtung schenkt?“

Der eine zeigte unvermittelt in meine Richtung, und als der andere sich umdrehte, schaute ich rasch in die Auslage der Bäckerei, vor der ich stand. Als ich nach ein paar Sekunden einen Blick in ihre Richtung riskierte, unterhielten sie sich bereits wieder.

Denise war nirgends zu sehen, aber ich wollte trotzdem keinen Rückzieher machen, denn es ging um mehr als nur um eine alberne Mutprobe. „Meine Ehre steht auf dem Spiel, verdammt!“

Dieses Ehrgefühl war mir zwar noch vor wenigen Minuten komplett abgegangen, doch ich straffte die Schultern und wendete mich zum Gehen. „Bring es hinter dich, Pia! Denk positiv und mach es einfach!“

Während ich mit energischen Schritten auf die beiden zuging, bekam ich ein flaues Gefühl in der Magengrube, denn was mich erwartete, würde sicherlich frustrierend sein. „Vielleicht sollte ich sie bestechen. Ich könnte ihnen ein paar Scheinchen dafür zustecken, dass mich einer von ihnen zum Hotel begleitet … Pfui! Fällt dir eigentlich nichts Besseres ein? Männer bestechen, damit sie Interesse an dir vortäuschen? Schäm dich, Pia! Wirklich … Aua!“

Eine Frau hatte mich so heftig angerempelt, dass wir beide ins Taumeln gerieten und meine Bücher und ihre große Tasche auf den Boden fielen.

Sie entschuldigte sich auf Französisch bei mir.

„Sprechen Sie vielleicht Englisch? Mit meinem Französisch ist es leider nicht sehr weit her“, sagte ich und half ihr beim Aufsammeln der Sachen, die aus ihrer Tasche gepurzelt waren. Nachdem ich ihr Schlüssel, Handy, Puderdose und ein Taschenbuch zurückgegeben hatte, hob ich die Bücher auf, die ich gerade gekauft hatte.

„Oh, vielen Dank! Ja, ich spreche Englisch. Es tut mir furchtbar leid! Ich bin sehr in Eile und habe nicht aufgepasst“, sagte die Frau mit einem charmanten französischen Akzent. Ihr üppiges blondes Haar umrahmte ihr zartes Gesicht auf perfekte Weise, und sie hatte die für Französinnen typische mädchenhafte Zierlichkeit. Dass sie mit der Wucht eines Sattelschleppers in mich hineingebrettert war, kümmerte die Männer, die ihr zweifelsohne tagtäglich zu Füßen lagen, bestimmt herzlich wenig. „Habe ich Ihnen wehgetan? Nein? Gut. Ich bin in höchster Verzweiflung, wissen Sie. Ich habe die Adresse des Buchladens verloren, den ich aufsuchen muss, und bisher habe ich den richtigen noch nicht gefunden. Ah, da ist ja noch einer! Ich werde es dort noch einmal versuchen.“

„Nehmen Sie sich vor den Spinnen in Acht!“, warnte ich sie, als sie ihre Sachen in der Tasche verstaute.

Ihr Lächeln schwand. „Spinnen?“

„Ja, anscheinend gibt es dort ganz große, haarige Biester.“

Sie erschauderte. „Ich hasse Spinnen! Vielleicht ist dieser Laden auch nicht der richtige …“ Sie beäugte den Buchladen mit sichtlicher Abscheu.

„Wenn Sie etwas Aktuelles suchen, werden Sie es dort wahrscheinlich nicht finden. Es handelt sich offenbar um ein Antiquariat.“

„Ein Antiquariat“, sagte sie nachdenklich. „Das scheint mir wirklich nicht das Richtige zu sein. Der Zenit hat ausdrücklich gesagt, es ist ein englisches Buch mit einem tanzenden Paar auf dem Cover … Oh, là, là! Mir läuft die Zeit davon!“ Nach einem raschen Blick auf ihre Uhr schulterte sie ihre Tasche. „Ich werde es woanders versuchen. Dieser Laden sieht nicht danach aus, als gäbe es dort so ein Buch, nicht wahr?“

„Also, ich habe dort nur einen alten Krimi von Agatha Christie und einen Regency-Roman gefunden“, entgegnete ich und zeigte auf meine Bücher.

„Bien. Gut, dass ich mit Ihnen zusammengestoßen bin!“

„Keine Ursache“, rief ich ihr hinterher, als sie losging. „Es ist mir immer eine Freude, andere Touristen vor dem Tod durch eklige Spinnen zu bewahren! Aber wollen Sie sich nicht das Feuerwerk ansehen? Zum Park geht es dort entlang!“

Sie blieb stehen und schaute in die von mir gezeigte Richtung. Wenn sie wie ich Touristin war, wusste sie vielleicht gar nicht, wo die diversen Feierlichkeiten stattfanden.

„Das Feuerwerk?“

„Es soll hier ein grandioses Feuerwerk geben, das Sie nicht verpassen sollten. Es ist zur Feier des Unabhängigkeitstages.“

„Ich kann nicht. Leider!“, rief sie über die Schulter und eilte davon. „Ich bin spät dran! Das Licht sei mit dir, Schwester!“

Das Licht sei mit dir? Was für ein merkwürdiger Spruch! „Sie gehört bestimmt zu einer von diesen religiösen Gruppen, für die unsere Promis seit geraumer Zeit Reklame laufen“, murmelte ich vor mich hin und drehte mich achselzuckend zu den beiden Männern um, die sich nicht von der Stelle gerührt hatten.

„Jungs, jetzt habe ich euch die Möglichkeit gegeben, euch zu verdrücken, aber ihr seid immer noch da! Also gut. Wie ihr wollt. Dann bringe ich es am besten hinter mich, auch wenn Denise gar nicht mehr da ist.“

Ich klemmte mir meine Bücher unter den Arm, atmete tief durch und marschierte auf die beiden Männer zu, ohne eigentlich genau zu wissen, was ich tun wollte. Sollte ich sie vielleicht im Vorbeigehen anlächeln und hoffen, dass einer von ihnen zurücklächelte? Wenn ich das tat, konnte ich Denise wenigstens beim Frühstück mit einem reinen Gewissen gegenübertreten.

„So ein Mist!“, sagte ich laut und blieb abrupt stehen, als die beiden Männer sich plötzlich voneinander verabschiedeten und in unterschiedliche Richtungen davongingen, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen.

In diesem Moment schallte Denise’ triumphierendes Gelächter über den Marktplatz. Sie war gerade zur rechten Zeit aus einer kleinen Gasse gekommen und sah, wie die Männer sich von mir entfernten.

„Konnte sie nicht ein bisschen später um die Ecke biegen?“, stieß ich mit zusammengebissenen Zähnen hervor, setzte ein Lächeln auf und winkte Denise zu, um ihr zu signalisieren, dass ich sie gehört hatte und meine Niederlage eingestand. „Aber egal, sie kann mir gestohlen bleiben. Ich werde mir das nicht länger antun“, sagte ich leise zu mir und umklammerte entschlossen meine Tasche und die Bücher.

Mit einem letzten Blick auf die beiden hinreißenden Männer, die jeweils in einer Seitenstraße verschwanden, reckte ich das Kinn in die Höhe und machte mich auf den Weg zum Park.

Ich war wild entschlossen, mich zu amüsieren, und nichts und niemand konnte mich davon abhalten.

  

2

„Ist sie weg?“

„Moment!“ Audrey, unsere Reiseleiterin und Mitbesitzerin von Sergeant Patty’s Lonely Hearts Club Tours, schaute vorsichtig hinter der Statue eines Wikingerforschers hervor und sondierte die unmittelbare Umgebung. Die meisten Menschen saßen auf der Wiese und bestaunten mit vielen „Oohs“ und „Aahs“ das prächtige Spektakel am nicht minder farbenfrohen Nachthimmel. Kinder liefen mit Wunderkerzen umher, und die Feuerwerkskörper projizierten glitzernde Bilder in die Luft, die jeweils nach ein paar Sekunden in einen schillernden Funkenregen zerfielen. Ein leichter Wind wehte vom Wasser herüber und vertrieb den beißenden Rauch, der sich im Park ausbreitete.

„Ich glaube, sie steht da hinten auf der anderen Seite. Sie ist schon den ganzen Abend hinter mir her – bestimmt, weil sie sich wieder über dieses und jenes beschweren will.“

„Sie schien nicht sehr erfreut zu sein, dass der Ausflug ausgefallen ist“, entgegnete ich.

„Nicht sehr erfreut?“ Audrey schnaubte. „Sie hat mich so lange damit genervt, wie schade es ist, das Feuerwerk zu verpassen, dass ich den Ausflug schließlich ihr zuliebe abgeblasen habe. Sie sollte also höchst erfreut sein! Oh Gott, jetzt hat sie Magda und Ray entdeckt. Die Armen haben sie noch nicht gesehen, und sie rennt schnurstracks auf sie zu. Ich wünschte, ich könnte ihr einfach ihr Geld zurückgeben und sie rauswerfen, aber wenn ich anfange, Kunden zu vergraulen, bekommt Patty einen Tobsuchtsanfall!“

Ich tätschelte Audreys Arm. „Du hast mein ganzes Mitgefühl, und ich wünschte, ich könnte dir irgendwie behilflich sein bei dieser aufsässigen Person, aber von Denise habe ich selbst die Nase gestrichen voll. Ich glaube, ich verziehe mich ins Hotel.“

Sie sah mich bestürzt an. „Ach, Pia, geh nicht! Das Feuerwerk ist noch nicht vorbei, und danach gibt es wieder Musik. Du willst dir doch nicht die Gelegenheit entgehen lassen, einen gut aussehenden Wikinger kennenzulernen, oder?“

Ich dachte an meinen gescheiterten Annäherungsversuch auf dem Marktplatz und schenkte Audrey ein grimmiges Lächeln. „Heute Abend verzichte ich lieber. Aber dir wünsche ich noch viel Spaß!“

„Es tut mir leid, wenn Denise dir die Laune verdorben hat“, entgegnete sie betroffen.

„Das muss es nicht, du kannst ja nichts dafür. Keine Sorge, mit Denise komme ich schon klar – ich bin ja schließlich erwachsen. Weißt du, ich bin einfach nur ein bisschen müde, nachdem wir heute Morgen in Reykjavík waren und ich dann noch den ganzen Nachmittag hier herumgelaufen bin. Alles Liebe zum Isländischen Unabhängigkeitstag!“

„Dir auch“, entgegnete sie und sah mir zerknirscht hinterher, als ich mit eiligen Schritten auf den Ausgang des Parks zusteuerte.

Das Städtchen war wirklich nicht groß und der Weg zum Hotel nicht weit, aber das Zentrum war ein einziges Labyrinth aus engen, verwinkelten Gassen, in dem ich mich hoffnungslos verirrte. Ich musste erst wieder zurück zu dem immer noch hell erleuchteten Marktplatz, um mich zu orientieren. Dann ging ich eine Straße hinunter, von der ich hoffte, dass sie zu unserem kleinen Hotel führte.

Als ich durch eine dunkle Gasse eilte, die mir verdächtig bekannt vorkam – war ich hier nicht eben erst gewesen? –, trat plötzlich direkt vor mir eine dunkle Gestalt aus einer Tür. Ich sprang mit einem Aufschrei zur Seite und stieß unsanft mit der Schulter gegen die Hauswand.

Der Mann sagte etwas zu mir, das ich nicht verstand, während ich mir an die Brust fasste und mein wild schlagendes Herz zu beruhigen versuchte. „Mein Gott, Sie haben mich vielleicht erschreckt! Ich hätte fast einen Infarkt gekriegt! Passen Sie doch auf!“

Die dunkle Gestalt blieb einen Moment regungslos stehen, dann bewegte sie sich in den Lichtkegel der Straßenlaterne. „Verzeihen Sie bitte, Madam“, sagte er mit einem starken isländischen Akzent auf Englisch. „Ich habe Sie nicht gesehen. Hier, Ihre Bücher!“

„Ist ja noch mal gut gegangen“, entgegnete ich, während ich hastig die Sachen zusammensuchte, die aus meiner Tasche gefallen waren.

„Sie sind Touristin, ja?“, fragte der Mann.

„Ja.“ Ich fand ihn sympathisch. Er hatte Sommersprossen im Gesicht und diese fröhliche, offene Ausstrahlung, die so typisch für die Isländer zu sein schien. „Aber leider bin ich nur ein paar Tage hier. Oh, danke!“ Ich klemmte mir meine Tasche unter den Arm und nahm ihm die Bücher ab.

Er bückte sich noch einmal und hob etwas auf. Als er es mir geben wollte, erstarrte er. Ich schaute überrascht auf den Gegenstand in seiner Hand: ein schmales Seidenband mit einem kleinen ovalen, leicht milchigen Stein daran, der von innen heraus blaugrün schimmerte.

„Oh, wie hübsch“, sagte ich und nahm den Stein, um ihn mir genauer anzusehen. „Was ist das? Ein Opal?“

„Das ist ein Mondstein“, entgegnete der Mann mit erstickter Stimme.

Das Band sah aus wie ein Lesezeichen, an dem ein Glücksbringer oder Talisman befestigt war. So etwas hatte ich schon einmal gesehen.

„Er ist wunderschön. Ist das aus einem von meinen Büchern gerutscht? Dann muss ich es gleich morgen dem Buchhändler zurückbringen. Er hat wahrscheinlich gar nicht gewusst, dass es …“

Der Mann fing plötzlich an zu lachen. „Sie haben mir nicht gesagt, wer Sie sind“, sagte er und kicherte noch vor sich hin, als er mich am Arm fasste, um mich aus der Gasse zu führen. „Und ich habe Sie tatsächlich für eine ganz normale Touristin gehalten!“

„Äh …“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Es wäre mir komisch vorgekommen, ihm zu versichern, dass ich in der Tat ganz normal war, doch mich beschlich der Verdacht, dass der nette Isländer mich mit jemandem verwechselte. „Ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor.“

„Kein Missverständnis“, entgegnete er strahlend, und seine Freude schien echt zu sein. „Wir haben Sie bereits erwartet. Der Zenit sagte, Sie kommen heute, und wir dachten, Sie träfen schon früher ein. Ich vermute, Sie hielten es für notwendig, Ihre Tarnung als Touristin noch eine Weile aufrechtzuerhalten.“

„Okay, jetzt reden wir wirklich aneinander vorbei.“ Ich blieb stehen, denn allmählich wurde mir die Sache unheimlich. „Ich heiße Pia Thomason, und ich bin wirklich eine ganz normale Touristin.“

„Pia? Haha! Das ist gut, sehr gut“, sagte er bewundernd, nahm erneut meinen Arm und drängte mich sanft zum Weitergehen. „Ich bin Mattias. Ich bin der Sakristan.“

„Wie bitte?“, fragte ich, denn das Wort war mir unbekannt. War ich eine böse Amerikanerin, wenn ich mich von ihm losriss und so schnell ich konnte zurück zum Park lief? Da praktisch sämtliche Bewohner der Stadt dem Feuerwerk am Wasser beiwohnten, waren die Straßen völlig verlassen.

„Das bedeutet … Wie erkläre ich es Ihnen am besten? Ich bin der Wächter, verstehen Sie?“

„Der Wächter? So etwas wie ein Türsteher?“, fragte ich etwas außer Puste, denn Mattias zog mich sanft, aber beharrlich eine steile Kopfsteinpflastergasse hoch. „Oder ein Hotelportier?“

„Nein, nein, jetzt sind Sie auf der falschen Fährte. Ich bin der Sakristan der Bruderschaft des Gesegneten Lichts.“

Ich versuchte, mich daran zu erinnern, was die vorherrschende Religion in dieser Gegend war, aber es fiel mir nicht ein. „Ah, ich vermute, es handelt sich um eine Glaubensgemeinschaft?“

Er kicherte wieder. „Sie wollen die Unwissende spielen? Gut, dann spiele ich mit. Es ist in der Tat eine Religion, eine sehr alte. Sie hat ihren Ursprung im Baskenland. Einst waren wir als Ilargi bekannt, aber heute tragen wir den Namen der Bruderschaft. Es gibt uns seit Anbeginn der Finsternis.“

„Ilargi?“, fuhr ich erstaunt auf und sah dem Mann ins Gesicht, der mich zielstrebig durch die Gasse zerrte. „Dann haben Sie mit dem Wald vor der Stadt zu tun? Wo die Ruine ist?“

„Mit welchem Wald?“ Er zog seine hellen Augenbrauen zusammen. „Ich verstehe nicht. Wollen Sie mich auf die Probe stellen?“

Ich blieb ruckartig stehen und zwang ihn ein zweites Mal, stehen zu bleiben. Er sah mich verwirrt an, doch ich entdeckte keine Anzeichen von Feindseligkeit oder gar Wahnsinn in seinem Gesichtsausdruck. Offenbar hatte er mich tatsächlich mit jemandem verwechselt. „Es tut mir leid, Mattias, aber ich glaube wirklich, Sie haben die Falsche. Ich verstehe nicht die Hälfte von dem, was Sie sagen.“

„Mir tut es leid! Mein Englisch ist nicht besonders gut.“

„Ihr Englisch ist besser als meins! Sie haben nur missverstanden, was ich gesagt habe, und ich habe keine Ahnung, was Ihre Antworten zu bedeuten haben. Beispielsweise weiß ich nicht, wohin Sie mich gerade führen.“

„Wir sind schon da“, entgegnete er und zeigte auf eine kleine Kirche aus grauem Stein, die am oberen Ende der Straße stand.

Beim Anblick des Gotteshauses entspannte ich mich ein wenig, weil ich spürte, dass Mattias, obwohl er einen reichlich verwirrten Eindruck machte, keine Bedrohung für mich darstellte. „Ist das Ihre Kirche?“

„Ja. Ich bringe Sie hinein.“

Ich zögerte und überlegte, wie ich ihm begreiflich machen sollte, dass ich nicht diejenige war, für die er mich hielt.

„Kommen Sie nur“, sagte er, ergriff meine Hand und führte mich die Treppe zum Eingang hoch. „Ich bin der Sakristan. Ich bin die Sonne.“

„Die Sonne?“, fragte ich verdutzt und nahm die Kirche argwöhnisch in Augenschein, doch sie sah völlig normal aus.

„Ja, genau“, entgegnete er und zeigte nach oben. „Die Sonne am Himmelszelt.“

„Oh, verstehe. Sie … äh … Sie denken, Sie sind die Sonne?“

„Ja.“

Ich studierte den Mann, der mich in die Kirche führte, unauffällig aus dem Augenwinkel. Er sah wirklich nicht verrückt aus, aber wenn er sich für die Sonne hielt, war es vielleicht besser, einfach mitzuspielen, bis ich eine Gelegenheit fand, mich davonzustehlen.

Das Innere der Kirche trug einigermaßen zur Beruhigung meiner Nerven bei. Es entsprach so ziemlich dem, was ich aufgrund meiner Besuche anderer alter isländischer Kirchen erwartet hatte: Es gab einen kleinen Vorraum, von dem aus es in das eigentliche Kirchenschiff ging. In der Mitte und an den Seiten der Bänke führten schmale Gänge nach vorn zum Altar. Erst auf der Hälfte des Mittelgangs merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Die Kirche war zwar mit Kreuzen und anderen christlichen Symbolen geschmückt, doch diese waren mit schwarzen Tüchern verhüllt, die mit silbernen Halbmonden bestickt waren.

„Oh, oh“, sagte ich leise und entzog Mattias meine Hand. War ich etwa an irgendeine merkwürdige Sekte geraten? Gab es überhaupt merkwürdige Sekten in Island? Ich hatte gedacht, die Isländer seien Heiden gewesen, bevor sich das Christentum in Skandinavien ausgebreitet hatte. Ob es sich um einen heidnischen Kult handelte? „Ich glaube, ich habe genug gesehen!“

„Mattias?“, rief in diesem Moment eine Frau, die hinter dem Altar aus einer Tür kam. Sie war im mittleren Alter, hatte grau meliertes Haar und beobachtete mich mit Argusaugen, als sie auf uns zugeeilt kam und dabei auf Isländisch auf Mattias einredete.

„Kristjana, ich habe die Zorya mitgebracht“, unterbrach Mattias sie. „Sie ist Engländerin.“

„Amerikanerin, und ich heiße auch nicht Zorya. Mein Name ist Pia, und es tut mir furchtbar leid, aber ich denke, Mattias hat mich mit jemandem verwechselt“, erklärte ich der Frau. Sie sah völlig normal und geistig gesund aus, regelrecht harmlos und irgendwie großmütterlich – bis auf ihre dunklen Augen.

Sie musterte mich eine Weile mit ernstem Blick, bevor sie Mattias eine Frage stellte.

„Ich bin mir sicher“, entgegnete er. „Sie trägt den Stein.“

„Sie meinen das hier?“, fragte ich und hielt das Lesezeichen hoch.

Kristjana machte große Augen, dann nickte sie. „Willkommen in unserem Haus, Zorya!“

„Ah, jetzt dämmert es mir“, sagte ich und ließ den schimmernden Stein an dem Seidenband hin und her schwingen. „Es liegt daran, nicht wahr? Das ist der Grund für das Missverständnis. Dann freut es mich, Ihnen sagen zu können, dass dieser Stein mir nicht gehört.“

„Nein, natürlich nicht. Er gehört niemandem, aber Sie sind jetzt seine Hüterin, und Sie müssen gut auf ihn aufpassen. Es wartet sehr viel Arbeit auf Sie“, entgegnete Kristjana steif und wies auf die Tür hinter dem Altar. „Kommen Sie bitte mit, damit wir schnell die erste Zeremonie vorbereiten können. Wir hatten Sie schon früher erwartet.“

Ich sah mich unauffällig um und stellte erleichtert fest, dass die Eingangstür noch halb offen stand. In der Hoffnung, dass man mir meine Absicht nicht ansah, trat ich ein paar Schritte zurück und breitete die Hände aus. „Das ist wirklich eine wunderschöne Kirche. Besonders gefallen mir die kleinen Monde überall, sehr hübsch! Ist das ein Symbol Ihrer Gemeinschaft?“

Mattias runzelte die Stirn, und Kristjana musterte mich mit starrer Miene. Ich hoffte, die beiden merkten nicht, wie ich mich mit winzigen Schritten rückwärts auf den Ausgang zubewegte.

„Wir sind zwar Kinder des Mondes, aber wir huldigen ihm nicht“, sagte Kristjana. „Wir haben das Licht in uns, und wir tragen es in die Welt, um sie zu reinigen.“

Ich bekam eine Gänsehaut auf den Armen. Ich hatte es tatsächlich geschafft, mit einer Person verwechselt zu werden, deren Besuch offenbar von dieser sonderbaren heidnischen Sekte erwartet worden war. Die beiden wirkten zwar nicht gefährlich, aber ich hielt es für schlauer, sie nicht gegen mich aufzubringen, bevor ich mein Heil in der Flucht suchen konnte. „Sie tragen das Licht in die Welt? Sie tun also Gutes?“, fragte ich freundlich.

„Durch uns befreit das Licht die Welt von der Finsternis“, entgegnete Kristjana. Sie sprach in einem leichten Singsang, als zitiere sie aus einer Art Katechismus. „Durch uns befreit das Licht die Welt von dem Bösen.“

„Das tut wahrhaftig not“, entgegnete ich und schob mich wieder ein paar Schritte Richtung Tür. Wenn die beiden mitbekommen hatten, dass der Abstand zwischen uns immer größer wurde, so ließen sie es sich jedenfalls nicht anmerken.

„Die Zorya der Mitternacht bündelt das Licht und nutzt seine Macht in unser aller Namen.“

„Dieses Wort haben Sie eben schon einmal benutzt“, sagte ich und setzte eine neugierige Miene auf, während ich noch einmal zwei Schritte rückwärts ging und hinter mir nach der Tür tastete, doch ich hatte sie immer noch nicht erreicht. „Was ist denn eine Zorya?“

Kristjana verzog keine Miene, doch Mattias sah mich irritiert an, bevor er den Blick wieder auf seine Kameradin richtete.

„Es gibt drei Zoryas, die über den Himmel herrschen. Morgen-, Abend- und Mitternachtsstern werden sie in der Mythologie genannt, und in der westlichen Welt bezeichnet man sie auch als Auroras, aber wir von der Bruderschaft nennen sie bei ihrem wahren Namen.“

„Auroras. Das ist hochinteressant.“ Es handelte sich also eindeutig um einen heidnischen Kult. Wer sonst würde Lichterscheinungen und den Mond anbeten?

„Der Überlieferung nach stirbt die Sonne allnächtlich in den Armen der Zorya der Mitternacht und wird jeden Morgen wiedergeboren. Deshalb müssen Sie sich noch heute Nacht vermählen.“

„Hoppla!“, sagte ich und blieb ruckartig stehen. „Mich vermählen? Wie bitte?“

„Sie müssen sich mit dem Sakristan vermählen, mit der Sonne“, sagte Kristjana und nickte in Mattias’ Richtung. „Die Zorya hat nur wenig Macht, bevor sie einen Mann ehelicht und von der Bruderschaft anerkannt wird.“

„Sie sprechen von heiraten, oder?“, fragte ich und überlegte, ob die Englischkenntnisse dieser Leute tatsächlich so gut waren, wie ich gedacht hatte.

„Ja, Zoryas werden immer vermählt. So verlangt es der Brauch.“

In diesem Moment beschlich mich ein furchtbarer Verdacht, und ich war verärgert, doch zugleich auch erleichtert. „Das hat sich der Reiseveranstalter ausgedacht, nicht wahr? Sie sind gar keine skurrile Sekte – Sie veranstalten diesen mystischen Hokuspokus nur, um mich darüber hinwegzutäuschen, dass es sich hier um ein Blind Date handelt, oder?“

„Die Bruderschaft ist ernsthaft darum bemüht, die Welt vom Bösen zu befreien“, entgegnete Kristjana etwas ungehalten.

„Oh ja, natürlich.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust, und meine Verärgerung gewann allmählich die Oberhand über die Erleichterung, dass ich es nicht mit irgendwelchen Spinnern zu tun hatte. Wie sehr sie sich auch bemühten, ich war nicht bereit, an dieser albernen Inszenierung mitzuwirken. „Sie können Audrey von mir sagen, dass ich das nicht besonders lustig finde. Ich mache zwar eine Singlereise, aber ich bin nicht so verzweifelt, dass ich bei einem Rollenspiel mitmache, wie gut der mir zugedachte Partner auch aussieht.“

Mattias’ Stirn glättete sich. „Sie sind mollig, aber das mag ich. Wir werden in sexueller Hinsicht sehr gut miteinander harmonieren“, verkündete er lächelnd.

„Hm-hm“, machte ich, weil ich nicht wusste, ob ich beleidigt oder amüsiert sein sollte. Zumindest musste ich mir keine Sorgen mehr darüber machen, dass eine sonderbare Sekte Gott weiß was für Rituale mit mir durchführen wollte.

„Ich bin ein sehr guter Liebhaber“, versicherte Mattias mir, der es offenbar für nötig hielt, dieses Thema zu vertiefen.

„Nun, ich fühle mich wirklich sehr geschmeichelt, aber wie gesagt, so verzweifelt bin ich nicht. Nicht, dass ich verzweifelt sein müsste, um mit Ihnen ins Bett zu steigen, Mattias, aber ich bin sicher, Sie wissen, was ich meine.“

„Nein, ich glaube nicht“, entgegnete er und runzelte erneut die Stirn.

Ich ging nicht näher darauf ein und wich mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht noch ein weiteres Stück zurück. „Also, es war nett mit Ihnen, aber ich denke, ich mache mich wieder auf den Weg. Ich werde Audrey auf jeden Fall sagen, wie gut Sie Ihre Sache gemacht haben. Und danke für das Kompliment! Es freut mich immer zu hören, dass es auch Männer gibt, die nicht auf Hungerhaken stehen. Gute Nacht!“

Die beiden sahen mir verblüfft nach, als ich auf dem Absatz kehrtmachte und zur Tür hinausmarschierte. Entweder hatten sie angenommen, dass ihre schauspielerischen Fähigkeiten ausreichten, um mich zu täuschen, oder Audrey hatte ihnen gesagt, ich sei eine leichte Beute und einsam genug, um so gut wie alles mitzumachen, wenn nur ein Date mit einem gut aussehenden Mann dabei heraussprang.

Letzteres kam der Wahrheit jedoch erschreckend nah. „Immerhin hast du eine Reise gebucht, bei der die Leute verkuppelt werden sollen. Noch verzweifelter geht es ja kaum mehr!“, sagte ich zu mir. Das Selbstgespräch nahm jedoch ein abruptes Ende, als ich hörte, wie jemand meinen Namen rief.

Mattias stand in der Kirchentür. Die ältere Frau drängte an ihm vorbei, zeigte auf mich und gab ihm einen Befehl. Er sah sie überrascht an, doch dann lief er die Treppe hinunter. Als ich sein entschlossenes Gesicht sah, schoss mein Adrenalinspiegel blitzartig in die Höhe.

Und wenn Audrey dieses Happening doch nicht organisiert hatte? Zweifel stiegen in mir auf. Was, wenn es sich tatsächlich um eine unheimliche Sekte handelte, die ernsthaft glaubte, dass ich einen wildfremden Mann heiraten würde, nur weil ich ein merkwürdiges Lesezeichen in meinem Buch gefunden hatte?

„So ein Mist!“, fluchte ich, wies mein Gehirn an, das Denken einzustellen, und setzte mich in Bewegung. Ich flitzte die Straße hinunter und bog an der nächsten Ecke in eine dunkle Gasse ab, weil ich hoffte, Mattias auf diese Weise abschütteln zu können, obwohl er viel fitter war als ich und sich wahrscheinlich auch besser in der Stadt auskannte.

Ich rannte um ein paar Mülltonnen herum und erreichte kurz darauf eine heller beleuchtete Straße. Als ich plötzlich Reifen quietschen hörte und einen Meter vor mir ein Wagen zum Stehen kam, schrie ich erschrocken auf, doch ich blieb nicht stehen, um mich zu entschuldigen, sondern nahm meinen Verstand zusammen und verschwand zwischen zwei hohen Häusern in einer verwinkelten, engen Gasse.

Hinter mir hörte ich einen Mann etwas rufen. Dieser verfluchte Mattias mit seinen langen Beinen! Ich war völlig außer Atem und bekam bereits Seitenstechen.

„Bitte lass mich heil davonkommen, bitte lass mich heil davonkommen“, betete ich im Takt meiner hämmernden Schritte vor mich hin, während ich durch die Altstadt irrte und verzweifelt nach einer Möglichkeit suchte, Mattias irgendwie abzuhängen.

Als ich an einer anderen Kirche vorbeikam, entdeckte ich eine schmale Treppe, die unter den brückenartigen Aufgang zum Hauptportal führte. Ich flitzte die Stufen hinunter, kauerte mich unter die Brücke und schlug die Hände vor den Mund, damit man mich nicht bis nach oben keuchen hörte.