Keine Zeit für Vampire - Katie MacAlister - E-Book

Keine Zeit für Vampire E-Book

Katie MacAlister

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Beschreibung

Bei einer Reise nach Österreich entdeckt die Amerikanerin Iolanthe Tennyson einen geheimnisvollen Wald - und findet sich prompt im achtzehnten Jahrhundert wieder. Dort begegnet ihr der Vampir Nikola Czerny, auf dem ein dunkler Fluch lastet. Iolanthe will den attraktiven Nikola retten, doch damit droht das Zeitgefüge durcheinanderzugeraten.

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KATIE MACALISTER

Keine Zeit

für Vampire

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Katrin Reichardt

Manchmal hat man das große Glück, Menschen zu begegnen, die einen dazu bringen, dass einem vor Lachen die Tränen kommen (oder die Luft wegbleibt und man zum Inhalator greifen muss – je nachdem). Ich habe das große Glück, dass mir dank Sara Thome und Danny Bates regelmäßig vor Lachen die Luft wegbleibt oder die Tränen kommen, und da die beiden wenige Wochen nach Erscheinen des Buches heiraten werden, widme ich ihnen diesen Roman in der Hoffnung, dass sie gemeinsam ein langes, glückliches Leben voller Hundehaare führen werden.

1

Die unglaublichen Abenteuer der Jolanthe Tennyson

10. Juli

»Darf’s ein Brustwarzentattoo sein, Madame?«

Genau damit hat alles angefangen. Mein Abenteuer begann weder am Flughafen noch in Gretls Haus und auch nicht beim Stadtrundgang durch St. Andras, dem kleinen Ort in Österreich, wo meine Cousine Gretl wohnte. Nein, alles fing mit einer Unterhaltung über Brustwarzen an, und da ich mein Abenteuer in allen Einzelheiten für die Nachwelt festhalten will, möchte ich die Geschehnisse auch so genau wie möglich aufzeichnen.

Etwas so Seltsames ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht passiert, aber das hätte ich jetzt vielleicht lieber noch nicht erwähnen sollen, denn damit nehme ich ja schon einen Teil der Ereignisse vorweg, und in dem Kurs für kreatives Schreiben, den ich vor sieben Jahren besucht habe, hat man uns beigebracht, dass man so etwas tunlichst unterlassen sollte. Also werde ich es mir ab jetzt verkneifen und alles schön der Reihe nach erzählen – versprochen.

Mist, jetzt habe ich vergessen, wo ich … Ach ja, das Brustwarzentattoo.

»Ähm …«, beantwortete ich irritiert die Frage der freundlichen Dame mit der Stachelfrisur. Sie trug ein kurzes Lolita-Rüschenröckchen und ein rot-weiß gestreiftes Lackkorsett, in dem sie mit Sicherheit unheimlich schwitzte. »Ich glaube nicht, dass … eine Tätowierung auf der Brustwarze? Das geht? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Es hört sich jedenfalls schmerzhaft an und auch ziemlich verrückt.«

Die Frau zuckte mit den Schultern und begann, einen mit schwarzem Leder bezogenen Friseurstuhl abzuwischen. »Solch eine Tätowierung sagt viel über die Persönlichkeit desjenigen aus, der sie sich machen lässt. Da Madame die Fotos so fasziniert betrachtet, dachte ich, dass Madame vielleicht selbst Interesse an solch einem Tattoo hat.« Sie musterte abschätzig meine Brust. »Vielleicht möchte Madame ja das, was ihr die Natur mitgegeben hat, noch etwas mehr hervorheben.«

»Zugegeben, Madame hat nicht gerade Riesenmöpse abbekommen, aber sie kann Schmerzen absolut nichts abgewinnen, und schon gar nicht, wenn ihre Nippel dabei ins Spiel kommen. Ich habe übrigens nicht die Fotos Ihrer Kundschaft betrachtet«, fügte ich hinzu und bemühte mich, die Schnappschüsse der frisch gepiercten und tätowierten Kunden, die eine ganze Wand in ihrer kleinen Bude einnahmen, nicht anzusehen. »Mich fasziniert die Büste, die dort hinten steht. Das ist ein phrenologischer Kopf, oder? Anhand dessen hat man doch im letzten Jahrhundert versucht, die Bedeutung der Ausbuchtungen des menschlichen Schädels zu deuten.«

»Richtig. Er gehört meiner Partnerin Justina. Heute ist sie in Salzburg, aber falls Sie Interesse daran hätten, Ihren Schädel analysieren zu lassen, stände sie Ihnen morgen dafür wieder zur Verfügung.«

»Eigentlich bin ich Fotografin.« Ich hielt ihr meine kleine Nikon hin. »Amateurfotografin, um genau zu sein, aber ich hoffe, dass ich während meines Aufenthalts hier in Österreich genügend Bilder machen kann, um sie als Basis für eine neue Karriere zu nutzen. Mir gefällt es, wie Sie den phrenologischen Schädel da hinten arrangiert haben. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich ein paar Aufnahmen davon mache?«

Wieder zuckte sie nur mit den Schultern und deutete mit einer desinteressierten Geste nach hinten in die Bude. »Ganz wie Madame wünscht.«

»Werden Sie denn länger bleiben … Sie und die anderen Mitglieder des … ähm … Kuriositätenkabinetts?«, erkundigte ich mich und machte einige Probeaufnahmen. Dann nahm ich einen meiner Filter zur Hand, um den Aufnahmen etwas mehr Kontrast zu verleihen.

»Die GothFaire ist kein Kuriositätenkabinett. Wir sind ein Jahrmarkt. Bei uns gibt es nicht nur Zauberei und Magie zu bestaunen, unsere Händler bieten darüber hinaus eine Vielzahl an mystischen Raritäten und außerordentlichen Dienstleistungen«, erläuterte die Frau in einem leicht singenden, skandinavischen Akzent. »Wir sind keine Freaks, die um Aufmerksamkeit heischen. Wir kennen uns aus mit altem, überliefertem Wissen, das lange in Vergessenheit geraten war. Wir sind Kunsthandwerker und Magietreibende und können die unglaublichsten Fantasien wahr werden lassen.«

»Wow. Das ist mal ein tolles Angebot«, murmelte ich und trat zur Seite, um mit einem anderen Filter eine weitere Serie zu schießen.

»Wir sind einzigartig. Madame wird nirgends auf der Welt etwas Vergleichbares finden. Wir sind Mystiker und Philosophen, Magier und Beschwörer ätherischer Energien.«

Ich hatte so meine Probleme damit, die Tätowiererin mit der ätherischen Welt in Einklang zu bringen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass sie gewohnheitsmäßig fiese Dinge mit Brustwarzen anstellte, doch ich behielt meine Zweifel für mich, murmelte stattdessen etwas Unverbindliches und fuhr fort, die faszinierende alte Büste auf Film zu bannen.

»Io? Du willst dir doch nicht etwa etwas durchstechen lassen?«

Ich drehte mich nach der Frau mittleren Alters um, die mit einer Plastiktüte in der Hand hinter mir stand und mich mit großen Augen argwöhnisch musterte. »Aber nein, diese nette Dame hier hat mich nur ihren phrenologischen Kopf fotografieren lassen«, erklärte ich breit grinsend.

Die stachelhaarige Tätowiererin beäugte zuerst Gretl, meine Großcousine, die ich schon seit meiner Kindheit kannte, und dann mich. »Bei mehreren Tattoos kann ich Mengenrabatt gewähren. Falls Madames Freundin ebenfalls eines möchte. Auf besonderen Wunsch kann ich Ihnen auch eine Tätowierung an einer etwas intimeren Stelle anbieten. Man sagt, meine Schamlippenarbeiten seien unübertroffen.«

Gretl riss die Augen noch weiter auf. Ich ergriff schnell ihren Arm und manövrierte sie nach draußen. »Vielen Dank für das Angebot, aber ich überschlafe die Dinge immer lieber erst einmal – und das gilt auch für Tätowierungen an intimen Stellen. Danke nochmals, dass ich Bilder von der Büste machen durfte.«

»Kanntest du diese Frau?«, fragte mich Gretl, als wir auf dem Mittelgang an den Jahrmarktsbuden vorbeigingen. Dabei warf sie ständig besorgte Blicke über die Schulter, als würde sie befürchten, dass die Tätowiererin uns möglicherweise nachjagen und uns ein Vaginatattoo verpassen könnte.

»Nein. Aber sie war ganz interessant, findest du nicht? Wie dieser ganze Jahrmarkt. Wie hast du überhaupt davon erfahren?«

»Eine alte Freundin von mir arbeitet hier. Ich wollte sie gerade besuchen, aber ihr Stand war geschlossen. Die Wiccahexe nebenan meinte, dass sie einkaufen gegangen sei und in Kürze zurückkäme. Was würdest du denn in der Zwischenzeit gerne unternehmen?« Gretl blieb stehen und blickte sich um.

Ich tat es ihr gleich. Die GothFaire bestand aus zwei u-förmigen Reihen mit verschiedenen Messeständen und einem großen Hauptzelt, das am Ende der Stände aufgebaut war. Flyer, die von einer leichten Brise vor sich hergetrieben wurden, warben für zwei Bands, die später am Abend auftreten sollten, und für diverse Magieshows, die bereits früher stattfinden würden. Ich warf einen Blick auf die Uhr. »Ich würde mir gern die Zaubershows ansehen, aber bis dahin ist noch eine Stunde Zeit. Wie wäre es, wenn wir uns aus der Hand lesen lassen? Es soll auch so etwas wie Aurafotografien geben. Das stell ich mir lustig vor. Ich frage mich, mit welchen Tricks sie wohl die Auren um die Menschen herum erscheinen lassen. Vielleicht kann ich mir ja deren Fotoausrüstung einmal genauer ansehen und es herausfinden.«

Gretl lachte und drückte meine Hand, in der ich noch immer die Kamera hielt. »War ja klar, dass du dir den Fotografenstand ansehen möchtest.«

»Deswegen bin ich ja überhaupt erst hier«, erwiderte ich und zeigte auf einen Stand weiter vorne, der mit einer Holztafel warb, auf die ein riesiger Augapfel aufgemalt war. »Du bist hier, um dich von den Strapazen der letzten Zeit zu erholen und sonst nichts«, widersprach Gretl bestimmt und erstickte meinen Protest sofort im Keim. »Ich könnte ja nicht mehr in den Spiegel sehen, wenn ich zulassen würde, dass du während deines Besuchs bei mir arbeitest. Entspann dich. Ruh dich aus. Komm erst mal wieder auf die Beine. Dann kannst du dir in den Staaten immer noch einen neuen Job suchen – und zwar einen besseren. Und einen Vorgesetzten, der nicht versucht, dir an die Wäsche zu gehen.«

»Mit Barrys Tentakeln an sich wäre ich ja klargekommen, aber als er erfahren hat, dass ich ihn wegen sexueller Belästigung angezeigt habe, hat er Buchhaltungsunterlagen frisiert und versucht, mir die Sache in die Schuhe zu schieben. Dieser verlogene, widerwärtige Busengrapscher.« Ich holte tief Luft und hielt mir vor Augen, dass zweieinhalb lange Monate vor mir lagen, um den gleichzeitigen Verlust meines Jobs und meiner Wohnung zu verarbeiten. Eine neue Bleibe zu finden, sollte nicht allzu schwierig werden. Allerdings würde ich diesmal darauf achten, nicht wieder an einen Vermieter zu geraten, der das Wohngebäude einfach verschacherte. »Beim Fotografieren kann ich mich entspannen. Dieser Sommer wird sicher der schönste werden seit … na ja, seit dem letzten Sommer, den wir zusammen verbracht haben.«

Gretl lachte. »Damals warst du sechzehn. In der Zwischenzeit hat sich in St. Andras einiges verändert.«

»Für mich ist es noch dieselbe süße, österreichische Kleinstadt.« Mit einem Kopfnicken wies ich auf die Burgruine, die oben auf dem Hügel kauerte. »So malerisch und bezaubernd, dass ich wahrscheinlich am Ende des Sommers überhaupt nicht mehr nach Hause möchte – genau wie damals mit sechzehn. Habe ich dir eigentlich schon dafür gedankt, dass du mich zu dir eingeladen hast, und dir gesagt, dass du die großartigste Cousine bist, die es gibt?«

»Ja. Dass ich dich eingeladen habe, war allerdings nicht ganz uneigennützig«, erwiderte sie und schob mich an einigen Ständen vorbei. »Seit Anna geheiratet hat, ist es doch ziemlich einsam geworden.«

»Das mag schon sein, aber du hast doch trotzdem eine ganze Menge um die Ohren mit den Yogastunden und dem Förderprogramm für junge Künstler, von dem du mir auf der Fahrt hierher berichtet hast.«

»Ach was! Für die Familie habe ich immer Zeit. Ah, sieh mal! Imogen ist wieder da. Sie ist eine alte Freundin von mir. Wir kennen uns schon seit über dreißig Jahren. Du wirst sie mögen – sie hat so eine angenehme Art, dass sich eigentlich jeder in ihrer Gegenwart wohlfühlt. Imogen!«

Gretl eilte auf eine hochgewachsene, elegante Frau mit langen blonden Locken zu, die gerade Schalen mit polierten Steinen auf einem Tisch arrangierte, der mit einem schwarzen Samttuch abgedeckt war. Ich folgte ihr gemächlich, um Gretl Gelegenheit zu geben, in aller Ruhe ihre Freundin zu begrüßen. Die Frau drehte sich um, und Gretl blieb abrupt stehen.

»Gretl? Bist du das etwa?« Die blonde Frau ging Gretl mit einem überraschten, aber freudigen Lächeln entgegen.

»Ja, ich bin es«, erwiderte Gretl, doch ihre Stimme klang irgendwie seltsam. »Es ist kaum zu glauben! Du hast dich kein bisschen verändert, seit ich dich vor zwölf Jahren zum letzten Mal gesehen habe. Wie ist das möglich? Welche Wundercreme verwendest du, dass du noch immer so jung aussiehst?«

Imogen lachte, doch die Fältchen um ihre Augen ließen ihren Gesichtsausdruck eher schroff als freundlich wirken. Sie hatte einen blassen Teint, was bei ihrem blonden Haar eigentlich normal war, doch mir erschien sie ein wenig zu bleich, so als stünde sie unter großer Anspannung. »Ich glaube, das liegt einfach nur an den guten Genen. Du siehst allerdings auch noch genauso großartig aus wie bei unserem letzten Treffen, und du bist immerhin schon Großmutter! Das kommt bestimmt von den Yogastunden, von denen du mir geschrieben hast.«

Die beiden Frauen umarmten sich. Es freute mich für Gretl, dass dabei in den blauen Augen ihrer Freundin aufrichtige Zuneigung aufblitzte.

»Ich sehe alles andere als großartig aus, aber ich bin zufrieden«, entgegnete Gretl und ließ Imogen los. »Aber jetzt möchte ich dir unbedingt meine Cousine aus Amerika vorstellen. Iolanthe, das ist Imogen Slovik. Iolanthe verbringt den Sommer bei mir.«

Wir tauschten ein paar Höflichkeiten aus und schüttelten uns die Hände. »Bist du als Touristin hier?«, fragte mich Imogen etwas später, nachdem sie und Gretl sich gegenseitig auf den neuesten Stand gebracht hatten. »Reist du noch weiter durch Österreich oder bleibst du in St. Andras?«

»Etwas von beidem. Ich nutze meinen Aufenthalt quasi als Arbeitsurlaub«, erklärte ich und hielt meine Kamera hoch. »Ich möchte versuchen, mich als Fotografin selbstständig zu machen. Darum bin ich momentan in St. Andras auf der Suche nach interessanten Motiven. Glücklicherweise gibt es die ja hier in Hülle und Fülle.«

»Stimmt, hier in der Gegend gibt es einige schöne Plätzchen«, stimmte Imogen mir zu.

Ich betrachtete sie eingehender. Ich war fasziniert von der Aura von Zerbrechlichkeit, die sie umgab, und ich fragte mich, ob ich dies auf einem Foto festhalten könnte. Die Frau hatte das Zeug zu einem Fotomodell, doch sie schien so sehr unter Spannung zu stehen, als würde sie in der nächsten Sekunde in tausend Stücke zerspringen. Ich musste sie einfach fragen: »Dürfte ich … also, das klingt jetzt wahrscheinlich ziemlich dreist, aber dürfte ich dich vielleicht fotografieren? Ich kann dir leider nichts dafür bezahlen, aber du kannst so viele Abzüge haben, wie du möchtest.«

Imogen sah mich für einen Moment verblüfft an, doch dann lächelte sie. »Das ist aber nett von dir. Es ist schon … ewig her, dass mich jemand fotografieren wollte. Es wäre mir eine Freude. Allerdings bleiben wir nur fünf Tage in St. Andras. Weißt du, wir gönnen uns gerade ein wenig Urlaub und öffnen den Stand immer nur für einige Stunden.«

»Also …« Ich sah zum Horizont. Es dämmerte bereits, und der Himmel über der dunklen Bergsilhouette erstrahlte in einem tiefen Purpurrot. »Heute Abend bist du ja mit deinen schönen Steinen beschäftigt …«

»Das sind Runensteine«, unterbrach sie mich und berührte andächtig einen dunkelvioletten Stein mit einem eingravierten Symbol. »Ich arbeite gerne mit ihnen, obwohl ich gelegentlich auch aus der Hand lese.«

»Aha. Runensteine. Interessant.«

Imogen strich sich eine lockige Strähne aus der Stirn. »Derzeit übernimmt Fran das Handlesen. Sie und Benedikt … ähm … unterstützen uns momentan auf dem Jahrmarkt. Benedikt ist übrigens mein Bruder«, fügte sie erklärend hinzu und wandte sich dann an Gretl. »Kannst du dich noch an ihn erinnern? Du hast ihn damals in den Neunzigern in Wien kennengelernt.«

Gretl strahlte über das ganze Gesicht, und eine leichte Röte stahl sich auf ihre Wangen. »Wie könnte ich ihn vergessen? Er war einfach umwerfend. Er ist auch hier?«

»Ja, er und Francesca. Sie haben vor einigen Monaten geheiratet. Du wirst Fran mögen – sie ist sehr nett, und sie vergöttert Benedikt, obwohl sie ihn gnadenlos damit aufzieht, dass die Damenwelt bei seinem Anblick gern ins Schwärmen gerät.«

»Wow, dann muss er sich ja gut gehalten haben. Ihr habt wohl wirklich tolle Gene«, bemerkte ich, bevor ich die Unterhaltung wieder auf das ursprüngliche Thema lenkte. »Also, ich weiß, dass du heute Abend beschäftigt bist, aber falls du morgen Zeit hättest, könnte ich dich vielleicht dann fotografieren.«

»Stimmt, Benedikt ist ausgesprochen attraktiv«, erwiderte Imogen und ignorierte meinen Versuch, das Thema zu wechseln. »Das hat er von unserem Vater.«

Ihre Anspannung nahm spürbar zu, und mir fiel auf, wie sie mir über die Schulter sah und dabei ganz kurz so etwas wie Schmerz in ihrem Gesicht aufflackerte.

»Dann muss euer Vater ein wahrhaft attraktiver Mann gewesen sein«, meinte Gretl und sah dabei so verträumt aus, dass ich beinahe losgekichert hätte. »Soweit ich mich erinnere, hast du ihn noch nie zuvor erwähnt.«

»Er starb, als ich zweiundzwanzig war«, sagte Imogen schnell. Sie hielt den Blick auf die Runensteine gerichtet und streichelte sie sacht mit ihren langen Fingern. »Er wurde von seinen beiden Halbbrüdern umgebracht.«

»Oh, wie schrecklich!«, sagten Gretl und ich gleichzeitig.

»Es war eine Tragödie. Er hatte unseren Familienwohnsitz geerbt, und die beiden haben ihm das wohl missgönnt. Darum haben sie ihn in einer Sommernacht in den Wald gelockt und dann dort umgebracht.« Sie verstummte, offenbar unschlüssig, ob sie weitererzählen sollte. »Eigentlich bin ich genau aus diesem Grunde hier. Sein … Tod … jährt sich in einigen Tagen. Ich komme so oft ich kann hierher zurück, um mich an die schönen gemeinsamen Zeiten zu erinnern.«

»Das tut mir aufrichtig leid«, beteuerte ich, und Gretl murmelte ebenfalls eine Beileidsbekundung. »Ich hätte nicht von Genen anfangen sollen.«

Imogen schniefte ein paar ungeweinte Tränen fort. »Nein, nein, es macht mir nichts aus, von Papa zu sprechen. Bis zu jener schrecklichen Nacht war er ein guter Mann und wundervoller Vater, und ich habe ihn sehr geliebt.«

»Du musst ihn furchtbar vermissen. Ich nehme doch an, sie haben die Mörder gefasst.«

»Leider sind sie untergetaucht, ehe sie zur Rechenschaft gezogen werden konnten.«

»Das ist sehr traurig. Aber ich bin sicher, wo auch immer dein Vater jetzt ist, er weiß, wie sehr du ihn geliebt hast.«

Sie sah mich mit überrascht aufgerissenen Augen an. »Wo auch immer er ist?«

Ich deutete zum Himmel hinauf. »Na du weißt schon, er ist immer bei dir.« Da ich nicht wissen konnte, welcher Religion, wenn überhaupt, sie angehörte, versuchte ich, vage zu bleiben. Schließlich wollte ich sie nur ein bisschen trösten.

Imogen zuckte leicht mit den Schultern und richtete den Blick wieder auf die Steine. »Ach so. Das ist er mit Sicherheit. Anfangs hatte ich noch die Hoffnung, dass Ben und ich Nikolas Brüder aufspüren würden, aber das ist uns leider nicht gelungen.«

»Nikola ist euer Vater?« Ich konnte mir die Frage nicht verkneifen. Zwar wollte ich auf keinen Fall aufdringlich erscheinen, aber meine Neugier war größer als meine Zurückhaltung, und außerdem schien es ihr ja nichts auszumachen, von ihm zu erzählen, solange die Umstände seines Todes nicht zur Sprache kamen.

»Richtig.« Sie legte den Stein, den sie die ganze Zeit über gestreichelt hatte, zurück, und als sie uns wieder ansah, ließ ein leises Lächeln ihre blauen Augen leuchten. »Nikola Czerny, der fünfte Baron von Shey.«

Ich sah sie irritiert an. »Dein Vater war ein Baron? Ein waschechter Baron? Und was bist du dann?«

Imogen lachte laut auf und tätschelte kurz meinen Arm. »Ich bin eine Frau.«

»Oh, tut mir leid.« Ich entschuldigte mich erneut, und aus Scham über mein dummes Gerede wurde ich sogar ein bisschen rot. »Ich bin doch ein Idiot – bitte verzeih mir. Aber ich habe eben noch nie jemanden von adliger Abstammung getroffen.«

»Die meisten österreichischen Adeligen haben schon vor über hundert Jahren all ihre Privilegien eingebüßt«, erklärte Gretl nachsichtig und drückte leicht meinen Arm. »Allerdings wusste auch ich bisher nicht, dass Imogens Vater ein Baron war. Hat Ben den Titel geerbt?«

»Nein, das hat er nicht«, entgegnete Imogen, und ihr Gesichtsausdruck verfinsterte sich kurz, bevor sie uns erneut strahlend anlächelte. »Das ist alles schon so lange her, und wir haben uns doch viel schönere Dinge zu erzählen, oder?«

Ein nicht gerade subtiler Hinweis darauf, dass das Thema für sie beendet war.

»Ganz sicher«, pflichtete Gretl ihr beschwichtigend bei und verabredete sich sogleich mit Imogen für den darauffolgenden Tag zu Kaffee und Kuchen.

»Falls du beschäftigt bist, möchte ich dich auf keinen Fall belästigen«, erklärte ich. Ich war mir nicht sicher, ob sie nur aus Höflichkeit zugestimmt hatte, sich von mir fotografieren zu lassen, oder tatsächliches Interesse an den Bildern hatte. »Wenn du keine Zeit hast, macht das auch nichts. Ansonsten finden wir hier in der näheren Umgebung sicherlich eine schöne Kulisse für die Bilder.«

Imogen sah auf und lächelte nun ganz aufrichtig. »Nein, ich bin nicht zu beschäftigt. Ich wäre sehr gern dein Fotomodell.«

»Oh, ihr müsst unbedingt zur Andrasburg fahren!«, meinte Gretl und ergriff meinen Arm. »Das wäre ein wunderschöner Hintergrund …«

»Nein«, widersprach Imogen hastig, und ihre Miene erstarrte zu Eis. Der plötzliche Stimmungsumschwung irritierte mich. Dann entspannte sie sich unvermittelt und rang sich ein Lachen ab. »Entschuldigt bitte. Ihr müsst mich für ziemlich seltsam halten, aber mit der Andrasburg verbinde ich … unangenehme Erinnerungen. Ich möchte lieber nicht mehr dorthin.«

»Dann kommt sie selbstverständlich nicht als Kulisse infrage«, versicherte ich ihr. Die heftige Reaktion auf die Burgruine hatte meine Neugier geweckt. Vielleicht fürchtete sie sich dort. Gretl hatte mir erzählt, dass die Ruine ein unwirtlicher Ort war, der von den Einheimischen gemieden wurde. »Hier in der Umgebung gibt es ja noch jede Menge andere Plätze, wo wir hinfahren können.«

»Wie wäre es mit den Rosengärten?«, schlug Gretl vor. »Dem Rathaus? Oder der Kirche? Die ist ziemlich alt.«

»Hm …« Ich überlegte angestrengt. »Also ehrlich gesagt habe ich mir als Kulisse für Imogens Fotos etwas anderes vorgestellt. Etwas, das einen Kontrast zu ihrer Blässe und Zerbrechlichkeit hergibt.«

Imogen lachte, und ihre Miene verwandelte sich schon wieder in Windeseile. »Das war bestimmt als Kompliment gemeint, aber ich kann dir versichern, dass ich alles andere als zerbrechlich bin. Blass schon – das habe ich von meiner Mutter –, aber zerbrechlich? Absolut nicht.«

»Der äußere Anschein trügt oft«, gab ich zu. »Ich würde dich am liebsten an einem düsteren, unheimlichen Ort ablichten. Das würde den Fotos bestimmt eine großartige Tiefe verleihen.«

»Ganz wie du möchtest. Du bist schließlich die Expertin«, erklärte Imogen und zuckte wieder leicht mit den Schultern.

»Eine Expertin bin ich sicherlich nicht, aber ich sehe dich …« Ich kniff die Augen zusammen und stellte mir Imogen vor der Burgruine vor. Sie wäre als Kulisse ideal gewesen. Aber es gab ja noch andere potenzielle Schauplätze. »Ach ja! Gretl hat mit von dem Wald ganz in der Nähe erzählt, in dem es spuken soll …«

»Nein!« Imogen kreischte beinahe und zog die Aufmerksamkeit der Jahrmarktsbesucher, die an uns vorbeikamen, auf sich. Sie schickte rasch ein versöhnliches Lächeln in deren Richtung und sagte dann zu mir: »Tut mir leid. Du musst mich für fürchterlich emotional halten, aber wenn du damit den Zauberwald gleich bei der Andrasburg meinst, muss ich erneut ablehnen. Dieser Wald ist ein böser Ort. Ich werde nie wieder auch nur einen Fuß dort hineinsetzen.«

»Ich wollte natürlich keinen Schauplatz vorschlagen, an dem du dich unwohl fühlst.« Ich überlegte kurz. »Ich kenne mich hier in der Umgebung nicht so gut aus. Es muss doch noch einen anderen Ort geben, der so eine Atmosphäre von Jenseits versprüht.«

»Von Jenseits? Aber klar, das findet sich schon.« Sie musterte mich zuerst erstaunt, dann abschätzig und warf mir dann einen amüsierten Blick zu, beinahe so, als würden wir ein Geheimnis teilen. Das fand ich sehr merkwürdig, denn schließlich hatten wir uns gerade erst kennengelernt – wie konnten wir da schon Heimlichkeiten miteinander teilen? Als Gretl von einer Bekannten gerufen wurde und sich von uns abwandte, um sie zu begrüßen, beugte sich Imogen zu mir vor und flüsterte mir hinter Gretls Rücken zu: »Ich habe ja gar nicht gemerkt, dass du keine von den Weltlichen bist …«

»Äh …« Weltlich? War das etwa als Stichelei auf Gretls Kosten gemeint? Sofort verteidigte ich meine geliebte Cousine. »Ich habe mich selbst schon immer für etwas … anders als die anderen gehalten, aber obwohl Gretl einen traditionellen Lebensweg gewählt hat, ist sie nichtsdestotrotz ein großartiger Mensch.«

»Selbstverständlich ist sie großartig. Wir sind seit vielen Jahren befreundet.« Imogen schmunzelte und drückte rasch meinen Arm. »Wir alle fühlen uns irgendwann anders als die anderen, oder? Zumindest bis wir unseresgleichen finden. Aber wer genau bist du? Mir ist klar, dass es unhöflich ist, dich so direkt zu fragen, aber bestimmt möchtest du deine wahre Natur nicht vor der lieben Gretl offenbaren.«

Erneut musterte ich sie verdattert und hatte keine Ahnung, wie ich auf ihre Anspielung reagieren sollte. Glücklicherweise beendete Gretl just in dem Moment die Unterhaltung mit ihrer Bekannten und kehrte zu uns zurück. Mir blieb nur, Imogens Augenzwinkern mit einem Lächeln zu quittieren. Gleichzeitig nahm ich mir vor, Gretl oder ihre älteste Tochter Erica zu bitten, mich bei dem Fotoshooting zu begleiten, denn ich gewann immer mehr den Eindruck, dass Imogen nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte.

»Ach, da sind ja Benedikt und Fran. Kommt, ich muss euch den beiden unbedingt vorstellen. Benedikt wird sich freuen, dich wiederzusehen, Gretl.«

Imogen rauschte mit Gretl im Schlepptau davon. Ich folgte den beiden. Sie gingen auf einen groß gewachsenen Mann mit schulterlangem schwarzen Haar zu. An seiner Seite stand eine beinahe ebenso große Frau, die etwa Anfang zwanzig sein musste.

»Na, das ist ja interessant«, sagte ich leise zu mir selbst und begutachtete die Frau namens Fran. Ungeachtet ihres guten Aussehens musste Imogen bereits auf die Fünfzig zugehen, denn schließlich kannten sie und Gretl sich bereits seit dreißig Jahren. Das würde bedeuten, dass ihr Bruder, wenn er nicht gerade sehr viel jünger als Imogen war, wahrscheinlich ebenfalls schon um die vierzig oder fünfzig sein musste. »Selbst wenn er deutlich jünger als seine Schwester ist, müsste er ungefähr in meinem Alter sein«, murmelte ich und schlenderte auf das Grüppchen zu.

Doch seine Frau war gerade einmal zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig. Als das Paar auf Gretl zutrat, um sie zu begrüßen, warf ich meiner Cousine einen Blick zu. Bevor sie ein freundliches Lächeln aufsetzte, runzelte sie für einen Moment verdutzt die Stirn, war jedoch gleich darauf schon wieder charmant wie eh und je. Als der Mann sich nach mir umdrehte, um mich zu begrüßen, konnte ich Gretls Verwunderung verstehen. Ich wollte meinen Augen nicht trauen und starrte ihn einen Moment lang einfach nur an. Er war etwa Mitte, vielleicht auch Ende zwanzig, mindestens zehn Jahre jünger als ich, was bedeutete, dass Imogen alt genug war, um seine Mutter zu sein. Merkwürdig.

Erst jetzt bemerkte ich, dass inzwischen allen aufgefallen war, dass ich Imogens gut aussehenden, um so vieles jüngeren Bruder unverhohlen anglotzte. Schnell riss ich mich zusammen.

»Tschuldigung«, murmelte ich und gab zuerst ihm und dann Fran die Hand. Fran musterte mich amüsiert und legte dann in einer unübersehbar besitzergreifenden Geste den Arm um die Taille ihres Mannes.

Ich schmunzelte still in mich hinein. Zwar war ich Single und durchaus auf der Suche nach einem Mann, aber deshalb würde ich mich noch lange nicht dazu hergeben, anderen Frauen die Ehemänner zu stehlen oder mich mit viel jüngeren Kerlen einzulassen. »Schön, euch beide kennenzulernen«, nuschelte ich.

»Iolanthe möchte morgen Aufnahmen von mir machen«, erklärte Imogen ihrem Bruder. »Sie ist Fotografin. Dazu möchte sie mich an einen Ort mit jenseitiger Atmosphäre bringen.«

So, wie sie das Wort betonte, schien es für die beiden eine besondere Bedeutung zu haben, denn sie sahen sich dabei vielsagend an. Ben ließ seinen Blick kurz zu Gretl gleiten, bevor er ihn wieder auf mich richtete und mir in so leisem Tonfall, dass höchstens noch seine Frau ihn hören konnte, zuraunte: »Gehörst du dem Hof des Göttlichen Geblüts an? Ich kann nicht erkennen, was du bist, aber ich bin mit den Mitgliedern dieser Institution auch nicht so vertraut.«

»Ich bin eine Frau«, entgegnete ich und wiederholte damit ironischerweise genau Imogens Worte, während ich einige Schritte auf Abstand ging. Ganz offensichtlich hatten auch Imogens Verwandte Probleme im Oberstübchen.

»Sicher bist du das«, erwiderte Fran und schenkte mir ein beschwichtigendes Lächeln, das ich ihr keine Sekunde lang abkaufte. Als Ben sich Gretl zuwandte, die ihm eine Frage gestellt hatte, flüsterte Fran mir zu: »Ben wollte eigentlich wissen, was du bist. Du bist jedenfalls kein Therion, Wächter oder Beschwörer, denn solche Wesen habe ich schon mal gesehen, und du siehst nicht aus wie sie.«

»Bis vor Kurzem war ich Buchhalterin«, erklärte ich ihr. Wenn ich Aufnahmen von Imogen machen wollte, sollte ich mich wohl lieber in Diplomatie üben und es tunlichst unterlassen, einen ihrer Verwandten zu beleidigen und ihn oder sie als beknackt zu bezeichnen. »Aber mein Boss Barry hat mich andauernd angemacht, und als ich versucht habe, Beschwerde gegen ihn einzureichen, hat er dafür gesorgt, dass ich meinen Job verliere. Widerrechtlich und verwerflich, aber leider wahr.«

»Nein, ich meinte eigentlich …« Gretl wandte sich wieder zu uns um und Fran verstummte sofort.

»Io, Imogen hat mich gebeten, für ein Stündchen bei ihr zu bleiben, während sie aus den Runensteinen liest. Das macht dir doch hoffentlich nichts aus?«

»Nein, ganz und gar nicht. Ich gehe einfach noch ein bisschen über den Rummel und schaue mich um.«

»Wir kümmern uns schon um deine Cousine«, versicherte Fran Gretl, und sie und Ben gesellten sich zu mir. In diesem Augenblick fielen mir Frans schwarze Spitzenhandschuhe auf, die in ihren Hemdsärmeln verschwanden. »Wir führen dich herum und stellen dich allen vor, die hier arbeiten. Vielleicht findest du ja noch jemanden, den du gern fotografieren möchtest. Hier laufen viele interessante Leute herum. Meine Mutter ist … Donnerwetter. Was hat der denn hier zu suchen?«

Fran hatte mich den Hauptgang entlanggeführt, war dann aber urplötzlich stehen geblieben und starrte mit finsterer Miene einen blonden Mann mit Ziegenbärtchen an, der lässig auf uns zugeschlendert kam. Als er uns bemerkte, stoppte er ebenfalls. Seine Miene hellte sich auf und er winkte uns zu und brüllte: »Göttliche Fran! Wir sind wieder da!«

»Hattest du nicht gesagt, sie wären nach Walhalla zurückgekehrt?«, flüsterte Ben nervös.

»Das war auch so. Mist, sie hatten doch versprochen, erst wiederzukommen, wenn ich wieder ihre Hilfe benötigen würde … Io, bitte entschuldige mich einen Augenblick. Ich muss mich kurz um einen alten … Freund kümmern.«

Sie eilte zu dem blonden Mann, der inzwischen von einem weiteren Kerl Gesellschaft bekommen hatte. Der Neuankömmling umarmte Fran stürmisch.

»Auch noch alle beide. Du liebe Güte«, stöhnte Ben und rieb sich die Augen.

»Ihr müsst mich wirklich nicht über den Jahrmarkt eskortieren. Ich kann mich auch sehr gut allein umsehen.«

»Ich führe dich viel lieber herum, als mich mit diesen beiden Irren herumzuschlagen«, beteuerte er mit einem Nicken zu der Bude hin, die uns am nächsten stand. »Was möchtest du zuerst machen? Der Dämonologe ist ein Freund von mir, und eine private Gruppensitzung bei ihm könnte äußerst interessant werden.«

»Ehrlich gesagt möchte ich mir eigentlich nur ein bisschen die Leute ansehen«, erklärte ich höflich, während mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. Die Worte Dämonologe und private Sitzung wirkten irgendwie einschüchternd. »Wenn man sich die Zeit nimmt, die Menschen um einen herum genau zu studieren, kann man faszinierende Entdeckungen machen.«

»Wie wahr. Ich werde dich auch nicht mehr über dein wahres Wesen ausfragen, denn ich bin sicher, dass Imogen dich später noch gründlich ausquetschen wird«, erklärte er und zwinkerte mir amüsiert zu. Wir schlenderten langsam weiter. »Meine Schwester beobachtet ebenfalls gern die Menschen. Man könnte es mit Neugier verwechseln, aber eigentlich mag sie einfach nur Sterbliche.«

Halte dich nur ja in der Öffentlichkeit auf, schärfte ich mir ein. Bleib da, wo andere Menschen euch sehen können. Geh unter keinen Umständen mit diesem merkwürdigen Typen allein irgendwohin. »Ich versichere dir, ich bin bei Weitem nicht so interessant. Und es tut mir wirklich leid, dass ich bei Imogen scheinbar von einem Fettnäpfchen ins andere trete.«

Er blieb vor einem Stand stehen, wo Zeitreisen angepriesen wurden, und sah mich verwundert an. »Wie bitte?«

Ich verzog gequält das Gesicht. »Ich wollte just an dem Ort mit Imogen Fotos machen, an dem euer Vater sein Ende gefunden hat.«

»Mein Vater?« Ben blinzelte irritiert. »Mein Vater ist in Südamerika.«

»Oh, entschuldige bitte.« Ich lief knallrot an. Schon wieder hatte ich mich zum Idioten gemacht. »Ich dachte, du und Imogen, ihr hättet denselben Vater.«

»So ist es auch. Ich glaube, er hält sich in Brasilien auf. Oder Argentinien. Jedenfalls irgendwo, wo es viele halb nackte junge Frauen gibt und lockere Sitten herrschen.«

Ich starrte ihn verständnislos an. »Er ist also nicht tot?«

»Nein.« Er beugte sich dicht zu mir und raunte mir zu: »Mein Vater ist ein Dunkler. Er kann nicht sterben, außer jemand legt sich beim Versuch, ihn umzubringen, mächtig ins Zeug, und ich kann dir versichern, dass das schon seit mehreren Hundert Jahren nicht mehr vorgekommen ist.«

»Seit mehreren Hundert Jahren«, wiederholte ich, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Mein Verstand brüllte mir derweil zu, loszurennen und so schnell wie möglich eine große, große Distanz zwischen mich und diesen durchgeknallten Typen zu bringen.

Doch dann kam mir die Erleuchtung. Versuchten Imogen und er, mich hochzunehmen? Erlaubten sie sich einen Spaß mit der dummen, kleinen amerikanischen Touristin? Warteten sie etwa nur darauf, dass ich ausflippte, damit sie mich auslachen konnten?

Schweinebande. Dieses Vergnügen würde ich ihnen nicht bereiten!

»Also … dreihundert Jahre etwa. Ja, das kommt ungefähr hin. Soweit ich mich erinnere, ist er etwa 1708 ausgerastet. Das wären dann dreihundert und ein paar Zerquetschte.«

Nach der Schmutzkampagne, die Barry mit den tausend Händen gegen mich angezettelt hatte, war mein Stolz zwar ziemlich angekratzt, doch nun mobilisierte ich alles, was mir an Selbstachtung noch geblieben war, und erwiderte völlig gelassen: »Ach, so ein Dunkler ist er. Ich dachte, du meinst die nicht-dreihundertjährige Sorte.«

Er glotze mich an, als würden ein paar Kartoffeln auf meinem Kopf Polka tanzen. »Die was?«

»Na, du weißt schon. Die, die keine dreihundert Jahre leben.«

Die Kartoffeln waren wohl zu einer Darbietung auf dem Trapez übergegangen, denn nun stierte er mich wirklich vollkommen irritiert an. Okay, offenbar versuchten sie doch nicht, mich zu veralbern. So entgeistert schaut niemand, dem man gerade bei einem Streich auf die Schliche gekommen ist.

»Du hast doch dreihundert Jahre gesagt, oder?«, fragte ich nochmals nach, denn nun befürchtete ich, mich vielleicht verhört zu haben. Dann würde er mich zu Recht für diejenige von uns beiden halten, die nicht mehr ganz richtig im Kopf war.

»Ja«, bestätigte er weiterhin skeptisch. »Mein Vater ist sogar älter als dreihundert Jahre. Lass mich mal überlegen … Ich bin dreihundertneunzehn. Das bedeutet, dass er so um die dreihundertsechzig Jahre alt sein müsste. Oder dreihundertsiebzig. Ungefähr.«

Was erwidert man einem Mann, der von sich behauptet, mehr als dreihundert Jahre alt zu sein? Ich weiß nicht, was ihr gemacht hättet. Ich für meinen Teil beschloss jedenfalls, vorerst mitzuspielen und dann zuzusehen, wie ich ihn so schnell wie irgend möglich loswurde.

»Meine ich doch. Das sind meine liebsten Düsteren.«

»Dunklen.«

»Verzeihung.« Ich räusperte mich und machte Anstalten, mich unauffällig zu verdrücken. »Also, ich werde dann mal …«

Leider ließ Ben das nicht zu. Er folgte mir und musterte mich dabei eigentümlich. »Io, es gibt nur zwei Arten Dunkle – die, die erlöst sind, und die, die es nicht sind. Mein Vater gehört natürlich zu Letzteren.«

»Natürlich.« Ich überlegte, ob ich ihn vielleicht abschütteln könnte, wenn ich in das große Hauptzelt rannte, oder aber, indem ich mich unauffällig unter die immer breiter werdenden Besucherströme mischte.

»Meine Mutter hat er allerdings aufrichtig geliebt. Auf seine eigene Art eben. Erst hinterher wurde er unfähig, derlei Gefühle zu empfinden.«

»Na ja, so ist das eben mit den Düsteren. Kann vorkommen.«

Er hielt mich am Arm fest und zwang mich so, stehen zu bleiben. Dann wirbelte er mich herum, damit ich ihm ins Gesicht sehen musste, und fixierte mich mit zusammengekniffenen Augen. »Du weißt aber schon, was ein Dunkler ist, oder?«

»Na sicher«, flunkerte ich und schenkte ihm ein Lächeln, das, wie ich hoffte, überlegen wirkte. »Das sind … ähm … Also, sie werden sehr alt und sie … hm … gehen gern auf Messen und … äh … sie sind … na ja …«

»Vampire«, tönte eine weibliche Stimme hinter mir.

Ich fuhr herum und riss ungläubig die Augen auf. Fran stand hinter mir und lächelte Ben über meine Schulter hinweg zu.

»Sexy, sexy Vampire«, fügte sie mit einem lustvollen Seufzen hinzu.

Eiskalte Panik überkam mich. Wild umherblickend suchte ich nach einem Fluchtweg. Die Fotos von Imogen waren mir inzwischen einerlei. Ich würde keine Sekunde länger mit Leuten verbringen, die sich für dreihundert Jahre alte Vampire hielten!

»Io, ich möchte dir gern meine Geister vorstellen. Sie sind Wikinger. Eigentlich sollten sie in Walhalla sein, aber sie behaupten steif und fest, dass sie hergeschickt wurden, um Ben und mir bei einem kleinen Projekt behilflich zu sein …«

Ich wartete das Ende von Frans Satz nicht mehr ab, sondern nahm die Beine in die Hand und sah zu, dass ich diesem Wahnsinn entfloh.

2

Die unglaublichen Abenteuer der Iolanthe Tennyson

11. Juli

»Bist du sicher, dass du allein gehen willst, Io?«, fragte Gretl besorgt. »Du wirst doch nicht krank, oder?«

Ich stellte die Kameratasche auf einen glatten Findling neben dem Seitenstreifen und lächelte ihr munter zu. »Nein, ich bin nicht krank, und ich komme schon zurecht. Gestern Abend auf dem Jahrmarkt, da war ich ein bisschen müde, aber heute Morgen fühle ich mich wieder pudelwohl.«

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